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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 6. Die reinen Empfindungen.
Beziehung nur zwischen den photochemischen Processen in
der Netzhaut und den Empfindungen zu erwarten sein. Da
aber erfahrungsgemäß verschiedene Arten physikalischer
Lichteinwirkung übereinstimmende chemische Zersetzungen
hervorbringen können, so ist dadurch auch die oben be-
merkte Vieldeutigkeit der Lichtempfindungen im allgemeinen
begreiflich. Nach dem Princip des Parallelismus der Em-
pfindungs- und der physiologischen Reizungsunterschiede
(S. 54) wird man demnach annehmen dürfen, dass verschiedene
physikalische Reize, die die nämliche Empfindung bewirken,
auch die nämliche photochemische Reizung in der Netzhaut
auslösen werden, und dass es überhaupt ebenso viele Arten
und Abstufungen photochemischer Processe gibt, als wir
Arten und Abstufungen von Empfindungen unterscheiden
können. Alles was wir bis jetzt über die physiologischen
Substrate der Lichtempfindungen wissen, gründet sich in der
That auf diesen Schluss, da die Untersuchung der physio-
logischen Vorgänge der Lichtreizung selbst zu einem weiteren
Resultat als zu dem, dass diese Reizung höchst wahrschein-
lich ein chemischer Process sei, bis jetzt nicht geführt hat.

25. Aus der Annahme, dass die Lichtreizung auf chemi-
schen Vorgängen in der Netzhaut beruhe, lässt sich nun
auch die relativ lange Nachdauer der Empfindung nach
vorausgegangener Reizung erklären (3, S. 50). Man pflegt diese
Nachdauer, indem man sie auf das als Reiz benützte Object
bezieht, das Nachbild des Eindrucks zu nennen. Zunächst
erscheint das Nachbild in einer dem Reiz gleichen Helligkeits-
oder Farbenbeschaffenheit: also weiß bei weißen, schwarz
bei schwarzen und gleichfarbig bei farbigen Objecten (posi-
tives oder gleichfarbiges Nachbild); nach kurzer Zeit geht
es dann aber bei farblosen Eindrücken in die entgegenge-
setzte Helligkeit, weiß in schwarz, und schwarz in weiß,
bei Farben in die Gegen- oder Complementärfarbe über

Wundt, Psychologie. 6

§ 6. Die reinen Empfindungen.
Beziehung nur zwischen den photochemischen Processen in
der Netzhaut und den Empfindungen zu erwarten sein. Da
aber erfahrungsgemäß verschiedene Arten physikalischer
Lichteinwirkung übereinstimmende chemische Zersetzungen
hervorbringen können, so ist dadurch auch die oben be-
merkte Vieldeutigkeit der Lichtempfindungen im allgemeinen
begreiflich. Nach dem Princip des Parallelismus der Em-
pfindungs- und der physiologischen Reizungsunterschiede
(S. 54) wird man demnach annehmen dürfen, dass verschiedene
physikalische Reize, die die nämliche Empfindung bewirken,
auch die nämliche photochemische Reizung in der Netzhaut
auslösen werden, und dass es überhaupt ebenso viele Arten
und Abstufungen photochemischer Processe gibt, als wir
Arten und Abstufungen von Empfindungen unterscheiden
können. Alles was wir bis jetzt über die physiologischen
Substrate der Lichtempfindungen wissen, gründet sich in der
That auf diesen Schluss, da die Untersuchung der physio-
logischen Vorgänge der Lichtreizung selbst zu einem weiteren
Resultat als zu dem, dass diese Reizung höchst wahrschein-
lich ein chemischer Process sei, bis jetzt nicht geführt hat.

25. Aus der Annahme, dass die Lichtreizung auf chemi-
schen Vorgängen in der Netzhaut beruhe, lässt sich nun
auch die relativ lange Nachdauer der Empfindung nach
vorausgegangener Reizung erklären (3, S. 50). Man pflegt diese
Nachdauer, indem man sie auf das als Reiz benützte Object
bezieht, das Nachbild des Eindrucks zu nennen. Zunächst
erscheint das Nachbild in einer dem Reiz gleichen Helligkeits-
oder Farbenbeschaffenheit: also weiß bei weißen, schwarz
bei schwarzen und gleichfarbig bei farbigen Objecten (posi-
tives oder gleichfarbiges Nachbild); nach kurzer Zeit geht
es dann aber bei farblosen Eindrücken in die entgegenge-
setzte Helligkeit, weiß in schwarz, und schwarz in weiß,
bei Farben in die Gegen- oder Complementärfarbe über

Wundt, Psychologie. 6
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[81/0097] § 6. Die reinen Empfindungen. Beziehung nur zwischen den photochemischen Processen in der Netzhaut und den Empfindungen zu erwarten sein. Da aber erfahrungsgemäß verschiedene Arten physikalischer Lichteinwirkung übereinstimmende chemische Zersetzungen hervorbringen können, so ist dadurch auch die oben be- merkte Vieldeutigkeit der Lichtempfindungen im allgemeinen begreiflich. Nach dem Princip des Parallelismus der Em- pfindungs- und der physiologischen Reizungsunterschiede (S. 54) wird man demnach annehmen dürfen, dass verschiedene physikalische Reize, die die nämliche Empfindung bewirken, auch die nämliche photochemische Reizung in der Netzhaut auslösen werden, und dass es überhaupt ebenso viele Arten und Abstufungen photochemischer Processe gibt, als wir Arten und Abstufungen von Empfindungen unterscheiden können. Alles was wir bis jetzt über die physiologischen Substrate der Lichtempfindungen wissen, gründet sich in der That auf diesen Schluss, da die Untersuchung der physio- logischen Vorgänge der Lichtreizung selbst zu einem weiteren Resultat als zu dem, dass diese Reizung höchst wahrschein- lich ein chemischer Process sei, bis jetzt nicht geführt hat. 25. Aus der Annahme, dass die Lichtreizung auf chemi- schen Vorgängen in der Netzhaut beruhe, lässt sich nun auch die relativ lange Nachdauer der Empfindung nach vorausgegangener Reizung erklären (3, S. 50). Man pflegt diese Nachdauer, indem man sie auf das als Reiz benützte Object bezieht, das Nachbild des Eindrucks zu nennen. Zunächst erscheint das Nachbild in einer dem Reiz gleichen Helligkeits- oder Farbenbeschaffenheit: also weiß bei weißen, schwarz bei schwarzen und gleichfarbig bei farbigen Objecten (posi- tives oder gleichfarbiges Nachbild); nach kurzer Zeit geht es dann aber bei farblosen Eindrücken in die entgegenge- setzte Helligkeit, weiß in schwarz, und schwarz in weiß, bei Farben in die Gegen- oder Complementärfarbe über Wundt, Psychologie. 6

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/97>, abgerufen am 24.11.2024.