Jhm die Verwunderung das Angesicht verwirret; Er zittert hin zu ihr durch den durchglühten Sand, Und ruft die Göttin an, die keine Gluth verbrannt: So ist der Geist erstaunt, ein schwarzes Haar zu fin- den, Zürnt auf den Hochverrath, und liebet doch Selinden. Wie? (ruft er,) sieget ietzt ein ungepudert Haar? Und es bringt selber mir, dem Pudergott, Gefahr? Jhr Götter, allzuviel! -- Mein Herz ist mir entrissen! Wie sehnet sich mein Mund nach dieser Schöne Küssen! Doch wird der Sterblichen mein Kuß auch fühlbar seyn? Und wird sie nicht vielleicht der Sylphen Liebe scheun?
Sogleich läßt er vom Duft sich zu Selinden nieder. Er küßt sie, und entflieht; er kömmt, und küßt sie wieder: Doch den ätherschen Kuß fühlt keine Schäferin, Jhr ists, als strich ein West auf ihren Lippen hin.
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Erſtes Buch.
Jhm die Verwunderung das Angeſicht verwirret; Er zittert hin zu ihr durch den durchgluͤhten Sand, Und ruft die Goͤttin an, die keine Gluth verbrannt: So iſt der Geiſt erſtaunt, ein ſchwarzes Haar zu fin- den, Zuͤrnt auf den Hochverrath, und liebet doch Selinden. Wie? (ruft er,) ſieget ietzt ein ungepudert Haar? Und es bringt ſelber mir, dem Pudergott, Gefahr? Jhr Goͤtter, allzuviel! — Mein Herz iſt mir entriſſen! Wie ſehnet ſich mein Mund nach dieſer Schoͤne Kuͤſſen! Doch wird der Sterblichen mein Kuß auch fuͤhlbar ſeyn? Und wird ſie nicht vielleicht der Sylphen Liebe ſcheun?
Sogleich laͤßt er vom Duft ſich zu Selinden nieder. Er kuͤßt ſie, und entflieht; er koͤmmt, und kuͤßt ſie wieder: Doch den aͤtherſchen Kuß fuͤhlt keine Schaͤferin, Jhr iſts, als ſtrich ein Weſt auf ihren Lippen hin.
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Erſtes Buch.
Jhm die Verwunderung das Angeſicht verwirret;
Er zittert hin zu ihr durch den durchgluͤhten Sand,
Und ruft die Goͤttin an, die keine Gluth verbrannt:
So iſt der Geiſt erſtaunt, ein ſchwarzes Haar zu fin-
den,
Zuͤrnt auf den Hochverrath, und liebet doch Selinden.
Wie? (ruft er,) ſieget ietzt ein ungepudert Haar?
Und es bringt ſelber mir, dem Pudergott, Gefahr?
Jhr Goͤtter, allzuviel! — Mein Herz iſt mir entriſſen!
Wie ſehnet ſich mein Mund nach dieſer Schoͤne Kuͤſſen!
Doch wird der Sterblichen mein Kuß auch fuͤhlbar
ſeyn?
Und wird ſie nicht vielleicht der Sylphen Liebe ſcheun?
Sogleich laͤßt er vom Duft ſich zu Selinden nieder.
Er kuͤßt ſie, und entflieht; er koͤmmt, und kuͤßt ſie
wieder:
Doch den aͤtherſchen Kuß fuͤhlt keine Schaͤferin,
Jhr iſts, als ſtrich ein Weſt auf ihren Lippen hin.
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Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm: Poetische Schriften. Bd. 1. [Braunschweig], [1763], S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zachariae_schriften01_1763/229>, abgerufen am 21.11.2024.
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