Zetkin, Clara: Zur Frage des Frauenwahlrechts. Bearbeitet nach dem Referat auf der Konferenz sozialistischer Frauen zu Mannheim. Dazu drei Anhänge: [...]. Berlin, 1907.den bürgerlichen Parteien gleich aus der Hand in den Mund. Sie Die Gewährung des Wahlrechts birgt eben nicht nur die augen- So liegt unseres Erachtens kein Grund vor, welcher die Sozial- den bürgerlichen Parteien gleich aus der Hand in den Mund. Sie Die Gewährung des Wahlrechts birgt eben nicht nur die augen- So liegt unseres Erachtens kein Grund vor, welcher die Sozial- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <p><pb facs="#f0055" n="45"/> den bürgerlichen Parteien gleich aus der Hand in den Mund. Sie<lb/> erfaßt die Dinge und Verhältnisse nicht bloß in der abgeschlossen<lb/> scheinenden Form dessen was ist, vielmehr im Flusse der Entwickelung<lb/> dessen, was aus ihnen dank der geschichtlichen Dialektik wird. Bei aller<lb/> Berücksichtigung der Wirklichkeit von heute stellt sie in Anrechnung,<lb/> was aus dieser Wirklichkeit werden kann, und was sie selbst aus ihr<lb/> entwickeln muß. Das Zukünftige ist der letzte und höchste Maßstab<lb/> ihrer Haltung. Auch ihre Stellungnahme zum Frauenwahlrecht wird<lb/> daher nicht bestimmt durch die reaktionären Folgen, die seine Ein-<lb/> führung zunächst und vorübergehend haben kann, wohl aber durch den<lb/> Ausblick auf die revolutionären Wirkungen, die bald und dauernd in<lb/> Erscheinung treten müssen.</p><lb/> <p>Die Gewährung des Wahlrechts birgt eben nicht nur die augen-<lb/> fällige Gefahr in sich, vielmehr gleichzeitig auch ihre Korrektur, das<lb/> Mittel zu ihrer Ueberwindung. Die Rückständigkeit des weiblichen Ge-<lb/> schlechts predigt der Sozialdemokratie keineswegs, die Losung des<lb/> Frauenwahlrechts fallen zu lassen oder auch nur zurückzustellen, wohl<lb/> aber die andere: mit der höchsten Kraftentfaltung an der Aufklärung<lb/> und Schulung der proletarischen Frauenmassen zu arbeiten. Und für<lb/> die Erfüllung dieser Aufgabe schafft gerade die Gewährung des Frauen-<lb/> wahlrechts den stärksten Anreiz. Der Wert der sozialistischen Auf-<lb/> klärungs- und Organisierungsarbeit unter dem Proletariat wird leider<lb/> hier und da einseitig an ihrer Bedeutung für die Gewinnung von Wahl-<lb/> stimmen und Mandaten gemessen und nicht nach ihrer allseitigen Trag-<lb/> weite für die Revolutionierung der Hirne und die innere Kampfes-<lb/> bereitschaft der Massen. Die Frau hat jetzt unmittelbar keine Stimme und<lb/> kein Mandat zu vergeben. Manchen dünkt daher die Erweckung und Er-<lb/> ziehung der Proletarierinnen zum Klassenbewußtsein eine Art Luxus<lb/> und Zeitvertreib, welchen die Partei mehr zu dulden als zu fördern<lb/> habe. Sie erachten sie nicht als eine Lebensnotwendigkeit des proleta-<lb/> rischen Klassenkampfes, als eine ernste Aufgabe, der sich die Partei mit<lb/> dem gleichen Eifer widmen muß, wie der Schulung des männlichen<lb/> Proletariats. Von dem Augenblick an, wo durch Einführung des all-<lb/> gemeinen Frauenwahlrechts die Stimme des Weibes einen parlamen-<lb/> tarischen Kurswert erhält, der auf dem politischen Markt erscheint,<lb/> wird das anders. Es beginnt das Wettrennen der Parteien um die<lb/> Stimmen der Frau, der armen Frauen insbesondere, denn sie bilden<lb/> die Masse der Wählerinnen. Und dann wird allgemach auch von den<lb/> Kurzsichtigsten die zwingende Notwendigkeit begriffen, der Aufklärung<lb/> der Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen die gleiche Aufmerksamkeit zu-<lb/> zuwenden, wie derjenigen der proletarischen Männer.</p><lb/> <p>So liegt unseres Erachtens kein Grund vor, welcher die Sozial-<lb/> demokratie bestimmen könnte, die Forderung voller politischer Gleich-<lb/> berechtigung des weiblichen Geschlechts „in den Silberschrein‟ zu stellen<lb/> und nur bei feierlichen Gelegenheiten als Prunkstück herauszuholen.<lb/> Wohl aber scheint es in unseren Tagen angezeigt, daß ihre Aktionen<lb/> für das Frauenwahlrecht immer energischer und wuchtiger werden<lb/> müssen. Der Gefahr, daß ein beschränktes Frauenwahlrecht zur Ein-<lb/> führung gelangt, begegnet die Sozialdemokratie am besten dadurch,<lb/> daß sie ihr eine kraftvolle und systematische Agitation für das all-<lb/> gemeine Frauenwahlrecht entgegenstellt. Und eine solche erweist sich<lb/> gleichzeitig als vorzügliches Mittel, die Frauen der werktätigen Massen<lb/> zur Erkenntnis ihrer Klassenlage wach zu rütteln und sie dem Heere<lb/> des klassenbewußt kämpfenden Proletariats einzureihen. Das aber ist<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0055]
den bürgerlichen Parteien gleich aus der Hand in den Mund. Sie
erfaßt die Dinge und Verhältnisse nicht bloß in der abgeschlossen
scheinenden Form dessen was ist, vielmehr im Flusse der Entwickelung
dessen, was aus ihnen dank der geschichtlichen Dialektik wird. Bei aller
Berücksichtigung der Wirklichkeit von heute stellt sie in Anrechnung,
was aus dieser Wirklichkeit werden kann, und was sie selbst aus ihr
entwickeln muß. Das Zukünftige ist der letzte und höchste Maßstab
ihrer Haltung. Auch ihre Stellungnahme zum Frauenwahlrecht wird
daher nicht bestimmt durch die reaktionären Folgen, die seine Ein-
führung zunächst und vorübergehend haben kann, wohl aber durch den
Ausblick auf die revolutionären Wirkungen, die bald und dauernd in
Erscheinung treten müssen.
Die Gewährung des Wahlrechts birgt eben nicht nur die augen-
fällige Gefahr in sich, vielmehr gleichzeitig auch ihre Korrektur, das
Mittel zu ihrer Ueberwindung. Die Rückständigkeit des weiblichen Ge-
schlechts predigt der Sozialdemokratie keineswegs, die Losung des
Frauenwahlrechts fallen zu lassen oder auch nur zurückzustellen, wohl
aber die andere: mit der höchsten Kraftentfaltung an der Aufklärung
und Schulung der proletarischen Frauenmassen zu arbeiten. Und für
die Erfüllung dieser Aufgabe schafft gerade die Gewährung des Frauen-
wahlrechts den stärksten Anreiz. Der Wert der sozialistischen Auf-
klärungs- und Organisierungsarbeit unter dem Proletariat wird leider
hier und da einseitig an ihrer Bedeutung für die Gewinnung von Wahl-
stimmen und Mandaten gemessen und nicht nach ihrer allseitigen Trag-
weite für die Revolutionierung der Hirne und die innere Kampfes-
bereitschaft der Massen. Die Frau hat jetzt unmittelbar keine Stimme und
kein Mandat zu vergeben. Manchen dünkt daher die Erweckung und Er-
ziehung der Proletarierinnen zum Klassenbewußtsein eine Art Luxus
und Zeitvertreib, welchen die Partei mehr zu dulden als zu fördern
habe. Sie erachten sie nicht als eine Lebensnotwendigkeit des proleta-
rischen Klassenkampfes, als eine ernste Aufgabe, der sich die Partei mit
dem gleichen Eifer widmen muß, wie der Schulung des männlichen
Proletariats. Von dem Augenblick an, wo durch Einführung des all-
gemeinen Frauenwahlrechts die Stimme des Weibes einen parlamen-
tarischen Kurswert erhält, der auf dem politischen Markt erscheint,
wird das anders. Es beginnt das Wettrennen der Parteien um die
Stimmen der Frau, der armen Frauen insbesondere, denn sie bilden
die Masse der Wählerinnen. Und dann wird allgemach auch von den
Kurzsichtigsten die zwingende Notwendigkeit begriffen, der Aufklärung
der Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen die gleiche Aufmerksamkeit zu-
zuwenden, wie derjenigen der proletarischen Männer.
So liegt unseres Erachtens kein Grund vor, welcher die Sozial-
demokratie bestimmen könnte, die Forderung voller politischer Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts „in den Silberschrein‟ zu stellen
und nur bei feierlichen Gelegenheiten als Prunkstück herauszuholen.
Wohl aber scheint es in unseren Tagen angezeigt, daß ihre Aktionen
für das Frauenwahlrecht immer energischer und wuchtiger werden
müssen. Der Gefahr, daß ein beschränktes Frauenwahlrecht zur Ein-
führung gelangt, begegnet die Sozialdemokratie am besten dadurch,
daß sie ihr eine kraftvolle und systematische Agitation für das all-
gemeine Frauenwahlrecht entgegenstellt. Und eine solche erweist sich
gleichzeitig als vorzügliches Mittel, die Frauen der werktätigen Massen
zur Erkenntnis ihrer Klassenlage wach zu rütteln und sie dem Heere
des klassenbewußt kämpfenden Proletariats einzureihen. Das aber ist
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(2015-08-28T12:13:05Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition.
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