Zetkin, Clara: Zur Frage des Frauenwahlrechts. Bearbeitet nach dem Referat auf der Konferenz sozialistischer Frauen zu Mannheim. Dazu drei Anhänge: [...]. Berlin, 1907.im Parlament wie außerhalb des Parlaments mit dem ernsten Eifer Jn Deutschland hat es nicht an Leuten gefehlt, welche mit dem Jedoch auf dem Grunde der aufgerollten Frage taucht eine andere, im Parlament wie außerhalb des Parlaments mit dem ernsten Eifer Jn Deutschland hat es nicht an Leuten gefehlt, welche mit dem Jedoch auf dem Grunde der aufgerollten Frage taucht eine andere, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <p><pb facs="#f0060" n="50"/> im Parlament wie außerhalb des Parlaments mit dem ernsten Eifer<lb/> und der hingebungsvollen feurigen Begeisterung verfechten wird, durch<lb/> welche sich bisher ihre Kämpfe ausgezeichnet haben. Allein, daß trotz der<lb/> 87 sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichsrat betreffs eines<lb/> praktisch greifbaren Resultats des Vorstoßes die Situation jetzt günstiger<lb/> läge als zur Zeit des großen allgemeinen Wahlrechtskampfes, wird<lb/> wohl niemand behaupten. Die kühle Art, mit welcher die reaktionäre<lb/> Mehrheit des Parlaments im Handumdrehen dem sozialdemokratischen<lb/> Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu den Landtagen<lb/> der Kronländer die Dringlichkeit abgesprochen hat, zeigt sinnen-<lb/> fällig, was von ihr <hi rendition="#aq">in puncto</hi> weiterer Wahlrechtsreformen zu<lb/> erwarten ist. Aber auch die Aussichten für die agitatorische<lb/> Wirkung des Antrags auf die Massen haben sich nicht verbessert.<lb/> Dadurch, daß die Forderung losgelöst von dem allgemeinen Rechts-<lb/> begehren auftritt, das im Wahlrechtskampfe seinen Ausdruck fand,<lb/> ergreift sie von vornherein weder in dem gleichen Umfange noch<lb/> mit der gleichen Wucht die Massen. Davon abgesehen, daß in<lb/> den Zeiten ruhigen politischen Alltagslebens auch die vorzüglichsten<lb/> Parlamentsreden nicht die revolutionäre und revolutionierende<lb/> Stimmung zu entfachen vermögen, welche von einer Epoche stürmischen<lb/> Kampfes geschaffen wird. Es gilt von solcher Stimmung der Massen,<lb/> was Auer von der Begeisterung sagte: „Sie ist keine Heringsware,<lb/> die sich einpökeln läßt.‟</p><lb/> <p>Jn Deutschland hat es nicht an Leuten gefehlt, welche mit dem<lb/> weisen Schulmeisterfinger auf die Vorgänge in Oesterreich als auf ein<lb/> Beispiel hingedeutet haben, das die deutsche Sozialdemokratie in ihren<lb/> Wahlrechtskämpfen schleunigst nachahmen solle. Den Genossinnen ins-<lb/> besondere wurde gepredigt, hinter der Solidarität und Disziplin nicht<lb/> zurückzustehen, die ihre österreichischen Schwestern bewiesen haben, indem<lb/> sie die Forderung des Frauenwahlrechts zurückstellten und ihre ganze<lb/> Kraft für die Eroberung des allgemeinen Männerwahlrechts einsetzten.<lb/> Zehn gegen eins: die Mahner werden ihre Stimme aufs neue und ein-<lb/> dringlicher erheben, sobald die Wahlrechtskämpfe in Preußen, Sachsen<lb/> usw. wieder in kräftigeren Fluß kommen und schärfere Formen annehmen.<lb/> Es schien uns daher geboten, die dem Frauenwahlrecht gegenüber geübte<lb/> Taktik der österreichischen Genossen zu prüfen. Und ungeachtet der<lb/> Würdigung all der großen und komplizierten Schwierigkeiten, mit denen<lb/> der Wahlrechtskampf der Sozialdemokratie in Oesterreich rechnen mußte,<lb/> ungeachtet auch der aufrichtigen Bewunderung für die kühl wägende<lb/> und kühn wagende Art, wie unsere Genossen diesen Kampf durchgefochten<lb/> haben, können wir nicht umhin zu sagen: diese Taktik kann und darf<lb/> nicht die unsere sein. Die „Zweckmäßigkeitsrücksichten‟, denen die For-<lb/> derung des Frauenwahlrechts momentan geopfert worden ist, haben die<lb/> Reaktion nicht gehindert, im Kampfe gegen die Wahlrechtsreform bis<lb/> an die Grenze ihrer Macht zu gehen, und sie haben es dem Proletariat<lb/> nicht erspart, seinerseits ebenfalls seine volle Macht für die Wahlrechts-<lb/> reform aufbieten zu müssen.</p><lb/> <p>Jedoch auf dem Grunde der aufgerollten Frage taucht eine andere,<lb/> wichtigere auf. Und das ist die: darf die Sozialdemokratie in ihren<lb/> Kämpfen überhaupt grundsätzliche Forderungen Zweckmäßigkeits-<lb/> rücksichten zum Opfer bringen, muß ihre Taktik in erster Linie von<lb/> ihren Prinzipien bestimmt werden, oder aber von der Rücksicht auf den<lb/> nächstliegenden praktischen Erfolg? Unserer Ueberzeugung nach dürfen<lb/> Theorie und Praxis, Prinzip und Taktik nicht gegensätzlich auseinander-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0060]
im Parlament wie außerhalb des Parlaments mit dem ernsten Eifer
und der hingebungsvollen feurigen Begeisterung verfechten wird, durch
welche sich bisher ihre Kämpfe ausgezeichnet haben. Allein, daß trotz der
87 sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichsrat betreffs eines
praktisch greifbaren Resultats des Vorstoßes die Situation jetzt günstiger
läge als zur Zeit des großen allgemeinen Wahlrechtskampfes, wird
wohl niemand behaupten. Die kühle Art, mit welcher die reaktionäre
Mehrheit des Parlaments im Handumdrehen dem sozialdemokratischen
Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu den Landtagen
der Kronländer die Dringlichkeit abgesprochen hat, zeigt sinnen-
fällig, was von ihr in puncto weiterer Wahlrechtsreformen zu
erwarten ist. Aber auch die Aussichten für die agitatorische
Wirkung des Antrags auf die Massen haben sich nicht verbessert.
Dadurch, daß die Forderung losgelöst von dem allgemeinen Rechts-
begehren auftritt, das im Wahlrechtskampfe seinen Ausdruck fand,
ergreift sie von vornherein weder in dem gleichen Umfange noch
mit der gleichen Wucht die Massen. Davon abgesehen, daß in
den Zeiten ruhigen politischen Alltagslebens auch die vorzüglichsten
Parlamentsreden nicht die revolutionäre und revolutionierende
Stimmung zu entfachen vermögen, welche von einer Epoche stürmischen
Kampfes geschaffen wird. Es gilt von solcher Stimmung der Massen,
was Auer von der Begeisterung sagte: „Sie ist keine Heringsware,
die sich einpökeln läßt.‟
Jn Deutschland hat es nicht an Leuten gefehlt, welche mit dem
weisen Schulmeisterfinger auf die Vorgänge in Oesterreich als auf ein
Beispiel hingedeutet haben, das die deutsche Sozialdemokratie in ihren
Wahlrechtskämpfen schleunigst nachahmen solle. Den Genossinnen ins-
besondere wurde gepredigt, hinter der Solidarität und Disziplin nicht
zurückzustehen, die ihre österreichischen Schwestern bewiesen haben, indem
sie die Forderung des Frauenwahlrechts zurückstellten und ihre ganze
Kraft für die Eroberung des allgemeinen Männerwahlrechts einsetzten.
Zehn gegen eins: die Mahner werden ihre Stimme aufs neue und ein-
dringlicher erheben, sobald die Wahlrechtskämpfe in Preußen, Sachsen
usw. wieder in kräftigeren Fluß kommen und schärfere Formen annehmen.
Es schien uns daher geboten, die dem Frauenwahlrecht gegenüber geübte
Taktik der österreichischen Genossen zu prüfen. Und ungeachtet der
Würdigung all der großen und komplizierten Schwierigkeiten, mit denen
der Wahlrechtskampf der Sozialdemokratie in Oesterreich rechnen mußte,
ungeachtet auch der aufrichtigen Bewunderung für die kühl wägende
und kühn wagende Art, wie unsere Genossen diesen Kampf durchgefochten
haben, können wir nicht umhin zu sagen: diese Taktik kann und darf
nicht die unsere sein. Die „Zweckmäßigkeitsrücksichten‟, denen die For-
derung des Frauenwahlrechts momentan geopfert worden ist, haben die
Reaktion nicht gehindert, im Kampfe gegen die Wahlrechtsreform bis
an die Grenze ihrer Macht zu gehen, und sie haben es dem Proletariat
nicht erspart, seinerseits ebenfalls seine volle Macht für die Wahlrechts-
reform aufbieten zu müssen.
Jedoch auf dem Grunde der aufgerollten Frage taucht eine andere,
wichtigere auf. Und das ist die: darf die Sozialdemokratie in ihren
Kämpfen überhaupt grundsätzliche Forderungen Zweckmäßigkeits-
rücksichten zum Opfer bringen, muß ihre Taktik in erster Linie von
ihren Prinzipien bestimmt werden, oder aber von der Rücksicht auf den
nächstliegenden praktischen Erfolg? Unserer Ueberzeugung nach dürfen
Theorie und Praxis, Prinzip und Taktik nicht gegensätzlich auseinander-
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(2015-08-28T12:13:05Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition.
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