Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. überwiegend conservativ geartete Verhalten des Mannes, welchenviel eher die tiefer gerichteten Geister der Zeit als einen "Leucht- thurm bei anbrechender Nacht" den Jhrigen nennen, als die ordi- nären Aufklärer für sich beanspruchen durften. 1) -- Näher schon stand Goethe dem eigentlichen Naturalismus des Zeitalters, wenn er das Menschheitsbewußtsein sich durch die vier Stadien der kindlich naiven Poesie, der mythenbildenden und Götter (Dämonen) dichten- den volksthümlichen Theologie, der den Volksglauben künstlich deu- tenden Philosophie, und letztlich der alle diese Jdeale zerstörenden kalten und nüchternen Prosa hindurch entwickeln ließ. Doch huldigte auch er keiner einseitig fortschrittlichen Geschichtsansicht; nur in intellectueller, nicht auch in ethischer Hinsicht, ließ er ein unaus- gesetztes Aufsteigen der Entwicklung unsres Geschlechts stattfinden. -- Ungefähr so wie Herders Stellung zu den Rousseauschen Jdeen nimmt diejenige Kants sich aus, obschon derselbe der plump-phan- tastischen Fiction eines unschuldigen Naturzustands der Völker mit kritischer Schärfe entgegen trat. Kant wollte vom Rousseauschen "Abderitismus" so wenig etwas wissen, als vom einseitigen "Eudä- monismus" oder der fanatisch-chiliastischen Fortschrittsphilosophie andrer Aufklärer seines Zeitalters. Ebenso bestimmt freilich wider- sprach er auch jeglichem "Terrorismus", d. h. jeder einseitig pessi- mistischen Geschichtsbetrachtung; und überwiegend suchte doch auch er das Jdeal menschheitlicher Entwicklung erst in der Zukunft. Ja als Vorgänger des Darwinismus könnte er um mancher Anklänge an den modernen Descendenzgedanken willen, die sich besonders in seinen späteren Schriften finden, fast mit noch größerem Rechte als Herder gelten. 2) -- Von seinen großen dichterischen Zeitgenossen 1) Vgl. m. "Geschichte der Beziehungen" etc. II, 226 ff. 242. -- Den Ver- gleich mit dem "Leuchtthurm" etc. s. bei G. H. v. Schubert, Selbstbiographie. I, 278 f. 2) Ueber Kants Kritik des Rousseauschen Contrat social (in seiner "Jdee
zu einer allgem. Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", 1784, u. s. f.) f. bes. K. Dietrich, Kant und Rousseau 1876, S. 39 ff. -- Vgl. desselben "Kant und Newton", 1876, S. 279 ff. IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. überwiegend conſervativ geartete Verhalten des Mannes, welchenviel eher die tiefer gerichteten Geiſter der Zeit als einen „Leucht- thurm bei anbrechender Nacht‟ den Jhrigen nennen, als die ordi- nären Aufklärer für ſich beanſpruchen durften. 1) — Näher ſchon ſtand Goethe dem eigentlichen Naturalismus des Zeitalters, wenn er das Menſchheitsbewußtſein ſich durch die vier Stadien der kindlich naiven Poeſie, der mythenbildenden und Götter (Dämonen) dichten- den volksthümlichen Theologie, der den Volksglauben künſtlich deu- tenden Philoſophie, und letztlich der alle dieſe Jdeale zerſtörenden kalten und nüchternen Proſa hindurch entwickeln ließ. Doch huldigte auch er keiner einſeitig fortſchrittlichen Geſchichtsanſicht; nur in intellectueller, nicht auch in ethiſcher Hinſicht, ließ er ein unaus- geſetztes Aufſteigen der Entwicklung unſres Geſchlechts ſtattfinden. — Ungefähr ſo wie Herders Stellung zu den Rouſſeauſchen Jdeen nimmt diejenige Kants ſich aus, obſchon derſelbe der plump-phan- taſtiſchen Fiction eines unſchuldigen Naturzuſtands der Völker mit kritiſcher Schärfe entgegen trat. Kant wollte vom Rouſſeauſchen „Abderitismus‟ ſo wenig etwas wiſſen, als vom einſeitigen „Eudä- monismus‟ oder der fanatiſch-chiliaſtiſchen Fortſchrittsphiloſophie andrer Aufklärer ſeines Zeitalters. Ebenſo beſtimmt freilich wider- ſprach er auch jeglichem „Terrorismus‟, d. h. jeder einſeitig peſſi- miſtiſchen Geſchichtsbetrachtung; und überwiegend ſuchte doch auch er das Jdeal menſchheitlicher Entwicklung erſt in der Zukunft. Ja als Vorgänger des Darwinismus könnte er um mancher Anklänge an den modernen Deſcendenzgedanken willen, die ſich beſonders in ſeinen ſpäteren Schriften finden, faſt mit noch größerem Rechte als Herder gelten. 2) — Von ſeinen großen dichteriſchen Zeitgenoſſen 1) Vgl. m. „Geſchichte der Beziehungen‟ ꝛc. II, 226 ff. 242. — Den Ver- gleich mit dem „Leuchtthurm‟ ꝛc. ſ. bei G. H. v. Schubert, Selbſtbiographie. I, 278 f. 2) Ueber Kants Kritik des Rouſſeauſchen Contrat social (in ſeiner „Jdee
zu einer allgem. Geſchichte in weltbürgerlicher Abſicht‟, 1784, u. ſ. f.) f. beſ. K. Dietrich, Kant und Rouſſeau 1876, S. 39 ff. — Vgl. deſſelben „Kant und Newton‟, 1876, S. 279 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0129" n="119"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Die Oppoſition des modernen Naturalismus.</fw><lb/> überwiegend conſervativ geartete Verhalten des Mannes, welchen<lb/> viel eher die tiefer gerichteten Geiſter der Zeit als einen „Leucht-<lb/> thurm bei anbrechender Nacht‟ den Jhrigen nennen, als die ordi-<lb/> nären Aufklärer für ſich beanſpruchen durften. <note place="foot" n="1)">Vgl. m. „Geſchichte der Beziehungen‟ ꝛc. <hi rendition="#aq">II,</hi> 226 ff. 242. — Den Ver-<lb/> gleich mit dem „Leuchtthurm‟ ꝛc. ſ. bei G. H. v. <hi rendition="#g">Schubert,</hi> Selbſtbiographie.<lb/><hi rendition="#aq">I,</hi> 278 f.</note> — Näher ſchon<lb/> ſtand <hi rendition="#g">Goethe</hi> dem eigentlichen Naturalismus des Zeitalters, wenn<lb/> er das Menſchheitsbewußtſein ſich durch die vier Stadien der kindlich<lb/> naiven Poeſie, der mythenbildenden und Götter (Dämonen) dichten-<lb/> den volksthümlichen Theologie, der den Volksglauben künſtlich deu-<lb/> tenden Philoſophie, und letztlich der alle dieſe Jdeale zerſtörenden<lb/> kalten und nüchternen Proſa hindurch entwickeln ließ. Doch huldigte<lb/> auch er keiner einſeitig fortſchrittlichen Geſchichtsanſicht; nur in<lb/> intellectueller, nicht auch in ethiſcher Hinſicht, ließ er ein unaus-<lb/> geſetztes Aufſteigen der Entwicklung unſres Geſchlechts ſtattfinden. —<lb/> Ungefähr ſo wie Herders Stellung zu den Rouſſeauſchen Jdeen<lb/> nimmt diejenige <hi rendition="#g">Kants</hi> ſich aus, obſchon derſelbe der plump-phan-<lb/> taſtiſchen Fiction eines unſchuldigen Naturzuſtands der Völker mit<lb/> kritiſcher Schärfe entgegen trat. Kant wollte vom Rouſſeauſchen<lb/> „Abderitismus‟ ſo wenig etwas wiſſen, als vom einſeitigen „Eudä-<lb/> monismus‟ oder der fanatiſch-chiliaſtiſchen Fortſchrittsphiloſophie<lb/> andrer Aufklärer ſeines Zeitalters. Ebenſo beſtimmt freilich wider-<lb/> ſprach er auch jeglichem „Terrorismus‟, d. h. jeder einſeitig peſſi-<lb/> miſtiſchen Geſchichtsbetrachtung; und überwiegend ſuchte doch auch er<lb/> das Jdeal menſchheitlicher Entwicklung erſt in der Zukunft. Ja<lb/> als Vorgänger des Darwinismus könnte er um mancher Anklänge<lb/> an den modernen Deſcendenzgedanken willen, die ſich beſonders in<lb/> ſeinen ſpäteren Schriften finden, faſt mit noch größerem Rechte als<lb/> Herder gelten. <note place="foot" n="2)">Ueber <hi rendition="#g">Kants</hi> Kritik des Rouſſeauſchen <hi rendition="#aq">Contrat social</hi> (in ſeiner „Jdee<lb/> zu einer allgem. Geſchichte in weltbürgerlicher Abſicht‟, 1784, u. ſ. f.) f. beſ. K.<lb/><hi rendition="#g">Dietrich,</hi> Kant und Rouſſeau 1876, S. 39 ff. — Vgl. deſſelben „Kant und<lb/> Newton‟, 1876, S. 279 ff.</note> — Von ſeinen großen dichteriſchen Zeitgenoſſen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [119/0129]
IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
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viel eher die tiefer gerichteten Geiſter der Zeit als einen „Leucht-
thurm bei anbrechender Nacht‟ den Jhrigen nennen, als die ordi-
nären Aufklärer für ſich beanſpruchen durften. 1) — Näher ſchon
ſtand Goethe dem eigentlichen Naturalismus des Zeitalters, wenn
er das Menſchheitsbewußtſein ſich durch die vier Stadien der kindlich
naiven Poeſie, der mythenbildenden und Götter (Dämonen) dichten-
den volksthümlichen Theologie, der den Volksglauben künſtlich deu-
tenden Philoſophie, und letztlich der alle dieſe Jdeale zerſtörenden
kalten und nüchternen Proſa hindurch entwickeln ließ. Doch huldigte
auch er keiner einſeitig fortſchrittlichen Geſchichtsanſicht; nur in
intellectueller, nicht auch in ethiſcher Hinſicht, ließ er ein unaus-
geſetztes Aufſteigen der Entwicklung unſres Geſchlechts ſtattfinden. —
Ungefähr ſo wie Herders Stellung zu den Rouſſeauſchen Jdeen
nimmt diejenige Kants ſich aus, obſchon derſelbe der plump-phan-
taſtiſchen Fiction eines unſchuldigen Naturzuſtands der Völker mit
kritiſcher Schärfe entgegen trat. Kant wollte vom Rouſſeauſchen
„Abderitismus‟ ſo wenig etwas wiſſen, als vom einſeitigen „Eudä-
monismus‟ oder der fanatiſch-chiliaſtiſchen Fortſchrittsphiloſophie
andrer Aufklärer ſeines Zeitalters. Ebenſo beſtimmt freilich wider-
ſprach er auch jeglichem „Terrorismus‟, d. h. jeder einſeitig peſſi-
miſtiſchen Geſchichtsbetrachtung; und überwiegend ſuchte doch auch er
das Jdeal menſchheitlicher Entwicklung erſt in der Zukunft. Ja
als Vorgänger des Darwinismus könnte er um mancher Anklänge
an den modernen Deſcendenzgedanken willen, die ſich beſonders in
ſeinen ſpäteren Schriften finden, faſt mit noch größerem Rechte als
Herder gelten. 2) — Von ſeinen großen dichteriſchen Zeitgenoſſen
1) Vgl. m. „Geſchichte der Beziehungen‟ ꝛc. II, 226 ff. 242. — Den Ver-
gleich mit dem „Leuchtthurm‟ ꝛc. ſ. bei G. H. v. Schubert, Selbſtbiographie.
I, 278 f.
2) Ueber Kants Kritik des Rouſſeauſchen Contrat social (in ſeiner „Jdee
zu einer allgem. Geſchichte in weltbürgerlicher Abſicht‟, 1784, u. ſ. f.) f. beſ. K.
Dietrich, Kant und Rouſſeau 1876, S. 39 ff. — Vgl. deſſelben „Kant und
Newton‟, 1876, S. 279 ff.
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