Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. die Rousseausche Urmenschheit; nur daß dieser Urzustand hier ent-wicklungsfähiger gedacht und überhaupt auf die allmählige Annähe- rung an das zukünftige goldne Zeitalter viel größeres Gewicht gelegt wird, als auf die Rückerinnerung an das in hypothetischer Unbe- stimmtheit belassene goldne Zeitalter der Vergangenheit. 1) Aehnlicher noch als die Lessingsche sieht die Herdersche Auffassung des Urstandes derjenigen Rousseaus. Es ist bekannt, daß Herder in manchen seiner Aussprüche über die Urbeschaffenheit unsres Geschlechts in dem Grade naturalisirt und die Aehnlichkeit der Thiere, dieser unsrer "älteren Brüder", mit uns Menschen so stark hervorhebt, daß man ihn für einen Hauptvorläufer Darwins glaubte ausgeben zu können. Jeden- falls sind seine hieher gehörigen Speculationen vielfach der Art, daß man mit einem gewissen Rechte von ihm sagen kann, er "feiere den Triumph der physischen Natur über die Menschheit". 2) Die einfachen "Verhältnisse der Natur, in denen die Menschen noch glücklicher leben, weil sie noch nicht in die Maschine des Staats wie auf Jxions Rad geflochten sind", spielen bei ihm eine große Rolle; und Hand in Hand mit diesen sehr an Rousseau erinnernden Betrachtungen geht seine Mythisirung des biblischen Berichts vom Paradiese, diesem "Fabellande, wohin die Nationen der alten Welt ihre schönsten Zauberideen, das goldne Vließ, die goldnen Aepfel, das Gewächs der Unsterblichkeit etc. setzten." Jmmerhin hat Herder, wo er dieses Gebiet berührt, den Einfluß seines schriftgläubig-reali- stischen Lehrmeisters Hamann niemals ganz verleugnet. Eine ein- seitig perfectionistische Geschichtsbetrachtung in der Weise des heutigen Monismus ist nicht bei ihm zu finden; und manches flüchtig hin- geworfene Wort im Sinne der naturalistischen Lieblingsideen eines Theils seiner Zeitgenossen empfing seine Correctur durch das sonstige 1) Vgl. Dilthey, in den Preuß. Jahrbb. 1867; Rocholl, S. 79 ff. 2) So der belgische Geschichtsphilosoph Laurent. Vgl. Rocholl, S. 88,
der noch weiter geht und Herdern vorwirft, er habe mit der theologischen Be- trachtung der Geschichte ganz gebrochen. S. dagegen de Rougemont, Les deux Cites, etc. II, 204. ss. IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. die Rouſſeauſche Urmenſchheit; nur daß dieſer Urzuſtand hier ent-wicklungsfähiger gedacht und überhaupt auf die allmählige Annähe- rung an das zukünftige goldne Zeitalter viel größeres Gewicht gelegt wird, als auf die Rückerinnerung an das in hypothetiſcher Unbe- ſtimmtheit belaſſene goldne Zeitalter der Vergangenheit. 1) Aehnlicher noch als die Leſſingſche ſieht die Herderſche Auffaſſung des Urſtandes derjenigen Rouſſeaus. Es iſt bekannt, daß Herder in manchen ſeiner Ausſprüche über die Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts in dem Grade naturaliſirt und die Aehnlichkeit der Thiere, dieſer unſrer „älteren Brüder‟, mit uns Menſchen ſo ſtark hervorhebt, daß man ihn für einen Hauptvorläufer Darwins glaubte ausgeben zu können. Jeden- falls ſind ſeine hieher gehörigen Speculationen vielfach der Art, daß man mit einem gewiſſen Rechte von ihm ſagen kann, er „feiere den Triumph der phyſiſchen Natur über die Menſchheit‟. 2) Die einfachen „Verhältniſſe der Natur, in denen die Menſchen noch glücklicher leben, weil ſie noch nicht in die Maſchine des Staats wie auf Jxions Rad geflochten ſind‟, ſpielen bei ihm eine große Rolle; und Hand in Hand mit dieſen ſehr an Rouſſeau erinnernden Betrachtungen geht ſeine Mythiſirung des bibliſchen Berichts vom Paradieſe, dieſem „Fabellande, wohin die Nationen der alten Welt ihre ſchönſten Zauberideen, das goldne Vließ, die goldnen Aepfel, das Gewächs der Unſterblichkeit ꝛc. ſetzten.‟ Jmmerhin hat Herder, wo er dieſes Gebiet berührt, den Einfluß ſeines ſchriftgläubig-reali- ſtiſchen Lehrmeiſters Hamann niemals ganz verleugnet. Eine ein- ſeitig perfectioniſtiſche Geſchichtsbetrachtung in der Weiſe des heutigen Monismus iſt nicht bei ihm zu finden; und manches flüchtig hin- geworfene Wort im Sinne der naturaliſtiſchen Lieblingsideen eines Theils ſeiner Zeitgenoſſen empfing ſeine Correctur durch das ſonſtige 1) Vgl. Dilthey, in den Preuß. Jahrbb. 1867; Rocholl, S. 79 ff. 2) So der belgiſche Geſchichtsphiloſoph Laurent. Vgl. Rocholl, S. 88,
der noch weiter geht und Herdern vorwirft, er habe mit der theologiſchen Be- trachtung der Geſchichte ganz gebrochen. S. dagegen de Rougemont, Les deux Cités, etc. II, 204. ss. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0128" n="118"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Die Oppoſition des modernen Naturalismus.</fw><lb/> die Rouſſeauſche Urmenſchheit; nur daß dieſer Urzuſtand hier ent-<lb/> wicklungsfähiger gedacht und überhaupt auf die allmählige Annähe-<lb/> rung an das zukünftige goldne Zeitalter viel größeres Gewicht gelegt<lb/> wird, als auf die Rückerinnerung an das in hypothetiſcher Unbe-<lb/> ſtimmtheit belaſſene goldne Zeitalter der Vergangenheit. <note place="foot" n="1)">Vgl. <hi rendition="#g">Dilthey,</hi> in den Preuß. Jahrbb. 1867; <hi rendition="#g">Rocholl,</hi> S. 79 ff.</note> Aehnlicher<lb/> noch als die Leſſingſche ſieht die <hi rendition="#g">Herderſ</hi>che Auffaſſung des Urſtandes<lb/> derjenigen Rouſſeaus. Es iſt bekannt, daß Herder in manchen ſeiner<lb/> Ausſprüche über die Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts in dem Grade<lb/> naturaliſirt und die Aehnlichkeit der Thiere, dieſer unſrer „älteren<lb/> Brüder‟, mit uns Menſchen ſo ſtark hervorhebt, daß man ihn für<lb/> einen Hauptvorläufer Darwins glaubte ausgeben zu können. Jeden-<lb/> falls ſind ſeine hieher gehörigen Speculationen vielfach der Art,<lb/> daß man mit einem gewiſſen Rechte von ihm ſagen kann, er „feiere<lb/> den Triumph der phyſiſchen Natur über die Menſchheit‟. <note place="foot" n="2)">So der belgiſche Geſchichtsphiloſoph <hi rendition="#g">Laurent.</hi> Vgl. <hi rendition="#g">Rocholl,</hi> S. 88,<lb/> der noch weiter geht und Herdern vorwirft, er habe mit der theologiſchen Be-<lb/> trachtung der Geſchichte ganz gebrochen. S. dagegen <hi rendition="#g">de Rougemont,</hi> <hi rendition="#aq">Les<lb/> deux Cités, etc. II, 204. ss.</hi></note> Die<lb/> einfachen „Verhältniſſe der Natur, in denen die Menſchen noch<lb/> glücklicher leben, weil ſie noch nicht in die Maſchine des Staats<lb/> wie auf Jxions Rad geflochten ſind‟, ſpielen bei ihm eine große<lb/> Rolle; und Hand in Hand mit dieſen ſehr an Rouſſeau erinnernden<lb/> Betrachtungen geht ſeine Mythiſirung des bibliſchen Berichts vom<lb/> Paradieſe, dieſem „Fabellande, wohin die Nationen der alten Welt<lb/> ihre ſchönſten Zauberideen, das goldne Vließ, die goldnen Aepfel,<lb/> das Gewächs der Unſterblichkeit ꝛc. ſetzten.‟ Jmmerhin hat Herder,<lb/> wo er dieſes Gebiet berührt, den Einfluß ſeines ſchriftgläubig-reali-<lb/> ſtiſchen Lehrmeiſters Hamann niemals ganz verleugnet. Eine ein-<lb/> ſeitig perfectioniſtiſche Geſchichtsbetrachtung in der Weiſe des heutigen<lb/> Monismus iſt nicht bei ihm zu finden; und manches flüchtig hin-<lb/> geworfene Wort im Sinne der naturaliſtiſchen Lieblingsideen eines<lb/> Theils ſeiner Zeitgenoſſen empfing ſeine Correctur durch das ſonſtige<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [118/0128]
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rung an das zukünftige goldne Zeitalter viel größeres Gewicht gelegt
wird, als auf die Rückerinnerung an das in hypothetiſcher Unbe-
ſtimmtheit belaſſene goldne Zeitalter der Vergangenheit. 1) Aehnlicher
noch als die Leſſingſche ſieht die Herderſche Auffaſſung des Urſtandes
derjenigen Rouſſeaus. Es iſt bekannt, daß Herder in manchen ſeiner
Ausſprüche über die Urbeſchaffenheit unſres Geſchlechts in dem Grade
naturaliſirt und die Aehnlichkeit der Thiere, dieſer unſrer „älteren
Brüder‟, mit uns Menſchen ſo ſtark hervorhebt, daß man ihn für
einen Hauptvorläufer Darwins glaubte ausgeben zu können. Jeden-
falls ſind ſeine hieher gehörigen Speculationen vielfach der Art,
daß man mit einem gewiſſen Rechte von ihm ſagen kann, er „feiere
den Triumph der phyſiſchen Natur über die Menſchheit‟. 2) Die
einfachen „Verhältniſſe der Natur, in denen die Menſchen noch
glücklicher leben, weil ſie noch nicht in die Maſchine des Staats
wie auf Jxions Rad geflochten ſind‟, ſpielen bei ihm eine große
Rolle; und Hand in Hand mit dieſen ſehr an Rouſſeau erinnernden
Betrachtungen geht ſeine Mythiſirung des bibliſchen Berichts vom
Paradieſe, dieſem „Fabellande, wohin die Nationen der alten Welt
ihre ſchönſten Zauberideen, das goldne Vließ, die goldnen Aepfel,
das Gewächs der Unſterblichkeit ꝛc. ſetzten.‟ Jmmerhin hat Herder,
wo er dieſes Gebiet berührt, den Einfluß ſeines ſchriftgläubig-reali-
ſtiſchen Lehrmeiſters Hamann niemals ganz verleugnet. Eine ein-
ſeitig perfectioniſtiſche Geſchichtsbetrachtung in der Weiſe des heutigen
Monismus iſt nicht bei ihm zu finden; und manches flüchtig hin-
geworfene Wort im Sinne der naturaliſtiſchen Lieblingsideen eines
Theils ſeiner Zeitgenoſſen empfing ſeine Correctur durch das ſonſtige
1) Vgl. Dilthey, in den Preuß. Jahrbb. 1867; Rocholl, S. 79 ff.
2) So der belgiſche Geſchichtsphiloſoph Laurent. Vgl. Rocholl, S. 88,
der noch weiter geht und Herdern vorwirft, er habe mit der theologiſchen Be-
trachtung der Geſchichte ganz gebrochen. S. dagegen de Rougemont, Les
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