Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. Auch als vervollkommnungsfähig stellt er ihn an und für sich dar,aber er fordert nichtsdestoweniger sein Verharren im thierartig wilden Naturstande, weil ja die Civilisation nothwendig sein Verderben werden müßte. Rousseau leugnet also nicht die Thätigkeit eines einstigen Urstands oder Unschuldsstands an der Spitze der mensch- licher Entwicklung, aber er läßt diesen Urstand noch jetzt überall da, wo ächte Naturmenschen leben, fortdauern. Er idealisirt die Wilden, als seien sie die wahren Normalmenschen, zeigt aber eben damit, daß er von der wahren, gottbildlich heiligen und naturbeherrschenden Würde der Menschheit keine Ahnung hat. Es mangelt ihm jede ernstere Erkenntniß des Gegensatzes zwischen Gut und Böse; Un- schuld und Schuld, vorsündiger und sündiger Zustand fließen bei ihm ununterschieden ineinander. Seine Weltansicht ist zwar, im Gegensatz zum groben Materialismus vieler seiner philosophischen Zeitgenossen, eine idealistische; aber es ist nur der unklare und un- lautere Jdealismus des Revolutionsgeistes, dem er huldigt. Rousseau hat ungeachtet des cynisch Rohen und phantastisch 1) Jselin, "Ueber die Geschichte der Menschheit", 2 Bde. Zürich 1768. --
Gatterer, Handb. der Universalhistorie, 1785, I, S. 155 f. IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. Auch als vervollkommnungsfähig ſtellt er ihn an und für ſich dar,aber er fordert nichtsdeſtoweniger ſein Verharren im thierartig wilden Naturſtande, weil ja die Civiliſation nothwendig ſein Verderben werden müßte. Rouſſeau leugnet alſo nicht die Thätigkeit eines einſtigen Urſtands oder Unſchuldsſtands an der Spitze der menſch- licher Entwicklung, aber er läßt dieſen Urſtand noch jetzt überall da, wo ächte Naturmenſchen leben, fortdauern. Er idealiſirt die Wilden, als ſeien ſie die wahren Normalmenſchen, zeigt aber eben damit, daß er von der wahren, gottbildlich heiligen und naturbeherrſchenden Würde der Menſchheit keine Ahnung hat. Es mangelt ihm jede ernſtere Erkenntniß des Gegenſatzes zwiſchen Gut und Böſe; Un- ſchuld und Schuld, vorſündiger und ſündiger Zuſtand fließen bei ihm ununterſchieden ineinander. Seine Weltanſicht iſt zwar, im Gegenſatz zum groben Materialismus vieler ſeiner philoſophiſchen Zeitgenoſſen, eine idealiſtiſche; aber es iſt nur der unklare und un- lautere Jdealismus des Revolutionsgeiſtes, dem er huldigt. Rouſſeau hat ungeachtet des cyniſch Rohen und phantaſtiſch 1) Jſelin, „Ueber die Geſchichte der Menſchheit‟, 2 Bde. Zürich 1768. —
Gatterer, Handb. der Univerſalhiſtorie, 1785, I, S. 155 f. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0127" n="117"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Die Oppoſition des modernen Naturalismus.</fw><lb/> Auch als vervollkommnungsfähig ſtellt er ihn an und für ſich dar,<lb/> aber er fordert nichtsdeſtoweniger ſein Verharren im thierartig wilden<lb/> Naturſtande, weil ja die Civiliſation nothwendig ſein Verderben<lb/> werden müßte. Rouſſeau leugnet alſo nicht die Thätigkeit eines<lb/> einſtigen Urſtands oder Unſchuldsſtands an der Spitze der menſch-<lb/> licher Entwicklung, aber er läßt dieſen Urſtand noch jetzt überall da,<lb/> wo ächte Naturmenſchen leben, fortdauern. Er idealiſirt die Wilden,<lb/> als ſeien ſie die wahren Normalmenſchen, zeigt aber eben damit,<lb/> daß er von der wahren, gottbildlich heiligen und naturbeherrſchenden<lb/> Würde der Menſchheit keine Ahnung hat. Es mangelt ihm jede<lb/> ernſtere Erkenntniß des Gegenſatzes zwiſchen Gut und Böſe; Un-<lb/> ſchuld und Schuld, vorſündiger und ſündiger Zuſtand fließen bei<lb/> ihm ununterſchieden ineinander. Seine Weltanſicht iſt zwar, im<lb/> Gegenſatz zum groben Materialismus vieler ſeiner philoſophiſchen<lb/> Zeitgenoſſen, eine idealiſtiſche; aber es iſt nur der unklare und un-<lb/> lautere Jdealismus des Revolutionsgeiſtes, dem er huldigt.</p><lb/> <p>Rouſſeau hat ungeachtet des cyniſch Rohen und phantaſtiſch<lb/> Ueberſchwenglichen ſeiner Weltanſicht einen weitgreifenden Einfluß<lb/> geübt. Nur wenige der an ihn anknüpfenden geſchichtsphiloſophiſchen<lb/> Denker des ausgehenden 18. Jahrhunderts haben ihn in der Weiſe<lb/> zu idealiſiren geſucht, wie beiſpielsweiſe der Basler Jſelin (1768),<lb/> der ſtatt thieriſcher Rohheit vielmehr Kindeseinfalt an die Spitze der<lb/> Menſchheitsentwicklung ſetzte und dieſe dann weiter die Stadien des<lb/> Knaben-, Jünglings- und Mannesalter zurücklegen ließ, oder wie<lb/> der dieſe Entwicklungsſtufen auf ähnliche Weiſe, nur mit noch enge-<lb/> rem Anſchluſſe an die bibliſche Urgeſchichte lehrende Univerſalhiſtoriker<lb/> Gatterer. <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Jſelin,</hi> „Ueber die Geſchichte der Menſchheit‟, 2 Bde. Zürich 1768. —<lb/><hi rendition="#g">Gatterer,</hi> Handb. der Univerſalhiſtorie, 1785, <hi rendition="#aq">I,</hi> S. 155 f.</note> Für <hi rendition="#g">Leſſings</hi> „Erziehung des Menſchengeſchlechts (1780)‟<lb/> iſt der Ausgangspunkt der gleichfalls durch die Stufen des Knaben-,<lb/> Jünglingsalters ꝛc. ſich hindurchbewegenden Geſchichtsſpeculation die<lb/> Annahme eines Urzuſtands von ähnlicher rein natürlicher Art wie<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [117/0127]
IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
Auch als vervollkommnungsfähig ſtellt er ihn an und für ſich dar,
aber er fordert nichtsdeſtoweniger ſein Verharren im thierartig wilden
Naturſtande, weil ja die Civiliſation nothwendig ſein Verderben
werden müßte. Rouſſeau leugnet alſo nicht die Thätigkeit eines
einſtigen Urſtands oder Unſchuldsſtands an der Spitze der menſch-
licher Entwicklung, aber er läßt dieſen Urſtand noch jetzt überall da,
wo ächte Naturmenſchen leben, fortdauern. Er idealiſirt die Wilden,
als ſeien ſie die wahren Normalmenſchen, zeigt aber eben damit,
daß er von der wahren, gottbildlich heiligen und naturbeherrſchenden
Würde der Menſchheit keine Ahnung hat. Es mangelt ihm jede
ernſtere Erkenntniß des Gegenſatzes zwiſchen Gut und Böſe; Un-
ſchuld und Schuld, vorſündiger und ſündiger Zuſtand fließen bei
ihm ununterſchieden ineinander. Seine Weltanſicht iſt zwar, im
Gegenſatz zum groben Materialismus vieler ſeiner philoſophiſchen
Zeitgenoſſen, eine idealiſtiſche; aber es iſt nur der unklare und un-
lautere Jdealismus des Revolutionsgeiſtes, dem er huldigt.
Rouſſeau hat ungeachtet des cyniſch Rohen und phantaſtiſch
Ueberſchwenglichen ſeiner Weltanſicht einen weitgreifenden Einfluß
geübt. Nur wenige der an ihn anknüpfenden geſchichtsphiloſophiſchen
Denker des ausgehenden 18. Jahrhunderts haben ihn in der Weiſe
zu idealiſiren geſucht, wie beiſpielsweiſe der Basler Jſelin (1768),
der ſtatt thieriſcher Rohheit vielmehr Kindeseinfalt an die Spitze der
Menſchheitsentwicklung ſetzte und dieſe dann weiter die Stadien des
Knaben-, Jünglings- und Mannesalter zurücklegen ließ, oder wie
der dieſe Entwicklungsſtufen auf ähnliche Weiſe, nur mit noch enge-
rem Anſchluſſe an die bibliſche Urgeſchichte lehrende Univerſalhiſtoriker
Gatterer. 1) Für Leſſings „Erziehung des Menſchengeſchlechts (1780)‟
iſt der Ausgangspunkt der gleichfalls durch die Stufen des Knaben-,
Jünglingsalters ꝛc. ſich hindurchbewegenden Geſchichtsſpeculation die
Annahme eines Urzuſtands von ähnlicher rein natürlicher Art wie
1) Jſelin, „Ueber die Geſchichte der Menſchheit‟, 2 Bde. Zürich 1768. —
Gatterer, Handb. der Univerſalhiſtorie, 1785, I, S. 155 f.
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