Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. thümlichen Naturbedingungen und seines Klima aufgefaßt wird,mag er immerhin diese Betrachtungsweise noch nicht so auf die Spitze treiben, wie neuerdings Buckle. -- Weiter schon geht Vol- taire. Jhm sind die ältesten Traditionen der Völker, sowohl die theogonischen des Heidenthums, als die biblischen, sammt und son- ders nichts als Narrheit; das biblische Paradies "kritisirt er nach Yemen im glücklichen Arabien hin." Den von seinem Zeitgenossen Rousseau gelehrten rohen Naturzustand verspottet er zwar, aber nur soweit derselbe eine ungesellige Jsolirung und ein thierisches Auf allen Vieren gehen der Urmenschen behauptete. Er zieht es vor, ein heerdenweises Entstandensein unsres Geschlechts in verschiednen Erdtheilen anzunehmen. Das Vorkommen von Urbewohnern Ame- rikas däucht ihm so wenig verwunderlich, wie daß es dort, so gut wie in der alten Welt, Fliegen gibt; die Menschheit gehört nach ihm zur obersten Gattung der "gesellig lebenden Thiere" (animaux qui vivent en troupe), wie etwa die Biber und Schafe. Zur Verbreitung des Polygenismus in der modernen anthropologischen Betrachtungsweise hat seine Geschichtsansicht, seicht und oberflächlich wie sie ist, ziemlich viel beigetragen.1) Wieder in andrer Art hat Rousseau 2) sich zum Problem des Urstands gestellt. Er eifert gegen die kannibalischen Zustände, womit Hobbes die Geschichte beginnen ließ; aber sein isolirter Urmensch, der grundsätzliche Gegner aller Civilisation und höheren Gesittung, ist doch auch nur ein Wilder, ein ungeleckter Bär, den die bestehende Gesellschaft nothwendig mit Entsetzen von sich ausstößt, ein Anarchist und Egoist im absolutesten Sinn des Worts und ebendarum vom gottbildlich erschaffnen ersten Menschen der hl. Schrift nicht minder weit entfernt, als die Hobbesschen reißenden "Wölfe". Für eine gewisse Religiösität gilt er ihm als empfänglich, aber nur für eine ganz selbstisch geartete, im subjectiven Genuß eines gewissen Gottesgefühls aufgehende. 1) Siehe bes. den Essai sur les moeurs et l'esprit des nations, 1756. Vgl. Rocholl, S. 62 f. 2) Contrat social, 1762. Vgl. Rocholl, S. 67.
IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. thümlichen Naturbedingungen und ſeines Klima aufgefaßt wird,mag er immerhin dieſe Betrachtungsweiſe noch nicht ſo auf die Spitze treiben, wie neuerdings Buckle. — Weiter ſchon geht Vol- taire. Jhm ſind die älteſten Traditionen der Völker, ſowohl die theogoniſchen des Heidenthums, als die bibliſchen, ſammt und ſon- ders nichts als Narrheit; das bibliſche Paradies „kritiſirt er nach Yemen im glücklichen Arabien hin.‟ Den von ſeinem Zeitgenoſſen Rouſſeau gelehrten rohen Naturzuſtand verſpottet er zwar, aber nur ſoweit derſelbe eine ungeſellige Jſolirung und ein thieriſches Auf allen Vieren gehen der Urmenſchen behauptete. Er zieht es vor, ein heerdenweiſes Entſtandenſein unſres Geſchlechts in verſchiednen Erdtheilen anzunehmen. Das Vorkommen von Urbewohnern Ame- rikas däucht ihm ſo wenig verwunderlich, wie daß es dort, ſo gut wie in der alten Welt, Fliegen gibt; die Menſchheit gehört nach ihm zur oberſten Gattung der „geſellig lebenden Thiere‟ (animaux qui vivent en troupe), wie etwa die Biber und Schafe. Zur Verbreitung des Polygenismus in der modernen anthropologiſchen Betrachtungsweiſe hat ſeine Geſchichtsanſicht, ſeicht und oberflächlich wie ſie iſt, ziemlich viel beigetragen.1) Wieder in andrer Art hat Rouſſeau 2) ſich zum Problem des Urſtands geſtellt. Er eifert gegen die kannibaliſchen Zuſtände, womit Hobbes die Geſchichte beginnen ließ; aber ſein iſolirter Urmenſch, der grundſätzliche Gegner aller Civiliſation und höheren Geſittung, iſt doch auch nur ein Wilder, ein ungeleckter Bär, den die beſtehende Geſellſchaft nothwendig mit Entſetzen von ſich ausſtößt, ein Anarchiſt und Egoiſt im abſoluteſten Sinn des Worts und ebendarum vom gottbildlich erſchaffnen erſten Menſchen der hl. Schrift nicht minder weit entfernt, als die Hobbesſchen reißenden „Wölfe‟. Für eine gewiſſe Religiöſität gilt er ihm als empfänglich, aber nur für eine ganz ſelbſtiſch geartete, im ſubjectiven Genuß eines gewiſſen Gottesgefühls aufgehende. 1) Siehe beſ. den Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, 1756. Vgl. Rocholl, S. 62 f. 2) Contrat social, 1762. Vgl. Rocholl, S. 67.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0126" n="116"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Die Oppoſition des modernen Naturalismus.</fw><lb/> thümlichen Naturbedingungen und ſeines Klima aufgefaßt wird,<lb/> mag er immerhin dieſe Betrachtungsweiſe noch nicht ſo auf die<lb/> Spitze treiben, wie neuerdings Buckle. — Weiter ſchon geht <hi rendition="#g">Vol-<lb/> taire.</hi> Jhm ſind die älteſten Traditionen der Völker, ſowohl die<lb/> theogoniſchen des Heidenthums, als die bibliſchen, ſammt und ſon-<lb/> ders nichts als Narrheit; das bibliſche Paradies „kritiſirt er nach<lb/> Yemen im glücklichen Arabien hin.‟ Den von ſeinem Zeitgenoſſen<lb/> Rouſſeau gelehrten rohen Naturzuſtand verſpottet er zwar, aber nur<lb/> ſoweit derſelbe eine ungeſellige Jſolirung und ein thieriſches Auf<lb/> allen Vieren gehen der Urmenſchen behauptete. Er zieht es vor,<lb/> ein heerdenweiſes Entſtandenſein unſres Geſchlechts in verſchiednen<lb/> Erdtheilen anzunehmen. Das Vorkommen von Urbewohnern Ame-<lb/> rikas däucht ihm ſo wenig verwunderlich, wie daß es dort, ſo gut<lb/> wie in der alten Welt, Fliegen gibt; die Menſchheit gehört nach<lb/> ihm zur oberſten Gattung der „geſellig lebenden Thiere‟ (<hi rendition="#aq">animaux<lb/> qui vivent en troupe</hi>), wie etwa die Biber und Schafe. Zur<lb/> Verbreitung des Polygenismus in der modernen anthropologiſchen<lb/> Betrachtungsweiſe hat ſeine Geſchichtsanſicht, ſeicht und oberflächlich<lb/> wie ſie iſt, ziemlich viel beigetragen.<note place="foot" n="1)">Siehe beſ. den <hi rendition="#aq">Essai sur les moeurs et l’esprit des nations,</hi> 1756.<lb/> Vgl. Rocholl, S. 62 f.</note> Wieder in andrer Art hat<lb/><hi rendition="#g">Rouſſeau</hi> <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Contrat social,</hi> 1762. Vgl. Rocholl, S. 67.</note> ſich zum Problem des Urſtands geſtellt. Er eifert gegen<lb/> die kannibaliſchen Zuſtände, womit Hobbes die Geſchichte beginnen<lb/> ließ; aber ſein iſolirter Urmenſch, der grundſätzliche Gegner aller<lb/> Civiliſation und höheren Geſittung, iſt doch auch nur ein Wilder,<lb/> ein ungeleckter Bär, den die beſtehende Geſellſchaft nothwendig mit<lb/> Entſetzen von ſich ausſtößt, ein Anarchiſt und Egoiſt im abſoluteſten<lb/> Sinn des Worts und ebendarum vom gottbildlich erſchaffnen erſten<lb/> Menſchen der hl. Schrift nicht minder weit entfernt, als die<lb/> Hobbesſchen reißenden „Wölfe‟. Für eine gewiſſe Religiöſität gilt<lb/> er ihm als empfänglich, aber nur für eine ganz ſelbſtiſch geartete,<lb/> im ſubjectiven Genuß eines gewiſſen Gottesgefühls aufgehende.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [116/0126]
IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
thümlichen Naturbedingungen und ſeines Klima aufgefaßt wird,
mag er immerhin dieſe Betrachtungsweiſe noch nicht ſo auf die
Spitze treiben, wie neuerdings Buckle. — Weiter ſchon geht Vol-
taire. Jhm ſind die älteſten Traditionen der Völker, ſowohl die
theogoniſchen des Heidenthums, als die bibliſchen, ſammt und ſon-
ders nichts als Narrheit; das bibliſche Paradies „kritiſirt er nach
Yemen im glücklichen Arabien hin.‟ Den von ſeinem Zeitgenoſſen
Rouſſeau gelehrten rohen Naturzuſtand verſpottet er zwar, aber nur
ſoweit derſelbe eine ungeſellige Jſolirung und ein thieriſches Auf
allen Vieren gehen der Urmenſchen behauptete. Er zieht es vor,
ein heerdenweiſes Entſtandenſein unſres Geſchlechts in verſchiednen
Erdtheilen anzunehmen. Das Vorkommen von Urbewohnern Ame-
rikas däucht ihm ſo wenig verwunderlich, wie daß es dort, ſo gut
wie in der alten Welt, Fliegen gibt; die Menſchheit gehört nach
ihm zur oberſten Gattung der „geſellig lebenden Thiere‟ (animaux
qui vivent en troupe), wie etwa die Biber und Schafe. Zur
Verbreitung des Polygenismus in der modernen anthropologiſchen
Betrachtungsweiſe hat ſeine Geſchichtsanſicht, ſeicht und oberflächlich
wie ſie iſt, ziemlich viel beigetragen. 1) Wieder in andrer Art hat
Rouſſeau 2) ſich zum Problem des Urſtands geſtellt. Er eifert gegen
die kannibaliſchen Zuſtände, womit Hobbes die Geſchichte beginnen
ließ; aber ſein iſolirter Urmenſch, der grundſätzliche Gegner aller
Civiliſation und höheren Geſittung, iſt doch auch nur ein Wilder,
ein ungeleckter Bär, den die beſtehende Geſellſchaft nothwendig mit
Entſetzen von ſich ausſtößt, ein Anarchiſt und Egoiſt im abſoluteſten
Sinn des Worts und ebendarum vom gottbildlich erſchaffnen erſten
Menſchen der hl. Schrift nicht minder weit entfernt, als die
Hobbesſchen reißenden „Wölfe‟. Für eine gewiſſe Religiöſität gilt
er ihm als empfänglich, aber nur für eine ganz ſelbſtiſch geartete,
im ſubjectiven Genuß eines gewiſſen Gottesgefühls aufgehende.
1) Siehe beſ. den Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, 1756.
Vgl. Rocholl, S. 62 f.
2) Contrat social, 1762. Vgl. Rocholl, S. 67.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |