Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. Mensch dem Anderen Wolf ist" (homo homini lupus).1) AlleMenschen sind in diesem Zustande an Stärke, Verstand etc. einander ungefähr gleich, auch gleich frei, einander zuzufügen was sie wollen. Gegenseitige Furcht, Versuche sich gegen die Feinde zu schützen, Ab- schluß von Verträgen, zuletzt die Aufrichtung einer Alleinherrschaft, der die Einzelnen sich unterwerfen und durch welche die anfängliche Freiheit in allgemeine Knechtschaft verwandelt wird, sind die noth- wendige Folge jenes wolfsmäßigen Urzustandes. Man sieht hier die anarchischen Zustände des englischen Revolutionszeitalters zurück- datirt in die Anfänge unsres Geschlechts; es ist nicht historisches Studium der Urzeit, sondern Beobachtung der unmittelbaren Gegen- wart, was diesem Philosophen die Farben zu seinem düsteren, von grellen Effecten durchzuckten Gemälde lieferte. 2) -- Maaßvoller hielt sich der als sensualistischer Psychologe und Leugner des Angeboren- seins unsrer Jdeen ihm gleichgesinnte Locke. Er ließ ein gewisses physisches Wohlsein und Glück durch den Sündenfall verloren gehen, wurde übrigens durch seine naturalistischen Grundsätze auf pädago- gischem Gebiete und durch seinen politischen Constitutionalismus zum Vorläufer der französischen Aufklärungsphilosophen des vorigen Jahrhunderts, und inaugurirte durch den Eifer, womit er aus Be- schreibungen von Reisen unter wilden Völkern u. dgl. Belege für seinen Lieblingssatz vom Nichtangeborensein sittlicher Jdeen (bestehend in Beispielen rohesten Kannibalenthums, geschichtlicher Unsitten u. s. f.) zu sammeln pflegte, eine gewisse wohlfeile Beweisführungsmethode moderner Naturalisten, über welche wir weiter unten noch zu han- deln haben werden. Jn Montesquieus "Geist und Gesetze" (1745) sieht man ähn- 1) De cive I, 1, 3. 11. Epist. dedicat. Vgl. Leviath. c. 1, 59. 2) Vgl. E. Pfleiderer, a. a. O., S. 22. 8*
IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. Menſch dem Anderen Wolf iſt‟ (homo homini lupus).1) AlleMenſchen ſind in dieſem Zuſtande an Stärke, Verſtand ꝛc. einander ungefähr gleich, auch gleich frei, einander zuzufügen was ſie wollen. Gegenſeitige Furcht, Verſuche ſich gegen die Feinde zu ſchützen, Ab- ſchluß von Verträgen, zuletzt die Aufrichtung einer Alleinherrſchaft, der die Einzelnen ſich unterwerfen und durch welche die anfängliche Freiheit in allgemeine Knechtſchaft verwandelt wird, ſind die noth- wendige Folge jenes wolfsmäßigen Urzuſtandes. Man ſieht hier die anarchiſchen Zuſtände des engliſchen Revolutionszeitalters zurück- datirt in die Anfänge unſres Geſchlechts; es iſt nicht hiſtoriſches Studium der Urzeit, ſondern Beobachtung der unmittelbaren Gegen- wart, was dieſem Philoſophen die Farben zu ſeinem düſteren, von grellen Effecten durchzuckten Gemälde lieferte. 2) — Maaßvoller hielt ſich der als ſenſualiſtiſcher Pſychologe und Leugner des Angeboren- ſeins unſrer Jdeen ihm gleichgeſinnte Locke. Er ließ ein gewiſſes phyſiſches Wohlſein und Glück durch den Sündenfall verloren gehen, wurde übrigens durch ſeine naturaliſtiſchen Grundſätze auf pädago- giſchem Gebiete und durch ſeinen politiſchen Conſtitutionalismus zum Vorläufer der franzöſiſchen Aufklärungsphiloſophen des vorigen Jahrhunderts, und inaugurirte durch den Eifer, womit er aus Be- ſchreibungen von Reiſen unter wilden Völkern u. dgl. Belege für ſeinen Lieblingsſatz vom Nichtangeborenſein ſittlicher Jdeen (beſtehend in Beiſpielen roheſten Kannibalenthums, geſchichtlicher Unſitten u. ſ. f.) zu ſammeln pflegte, eine gewiſſe wohlfeile Beweisführungsmethode moderner Naturaliſten, über welche wir weiter unten noch zu han- deln haben werden. Jn Montesquieus „Geiſt und Geſetze‟ (1745) ſieht man ähn- 1) De cive I, 1, 3. 11. Epist. dedicat. Vgl. Leviath. c. 1, 59. 2) Vgl. E. Pfleiderer, a. a. O., S. 22. 8*
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IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
Menſch dem Anderen Wolf iſt‟ (homo homini lupus). 1) Alle
Menſchen ſind in dieſem Zuſtande an Stärke, Verſtand ꝛc. einander
ungefähr gleich, auch gleich frei, einander zuzufügen was ſie wollen.
Gegenſeitige Furcht, Verſuche ſich gegen die Feinde zu ſchützen, Ab-
ſchluß von Verträgen, zuletzt die Aufrichtung einer Alleinherrſchaft,
der die Einzelnen ſich unterwerfen und durch welche die anfängliche
Freiheit in allgemeine Knechtſchaft verwandelt wird, ſind die noth-
wendige Folge jenes wolfsmäßigen Urzuſtandes. Man ſieht hier
die anarchiſchen Zuſtände des engliſchen Revolutionszeitalters zurück-
datirt in die Anfänge unſres Geſchlechts; es iſt nicht hiſtoriſches
Studium der Urzeit, ſondern Beobachtung der unmittelbaren Gegen-
wart, was dieſem Philoſophen die Farben zu ſeinem düſteren, von
grellen Effecten durchzuckten Gemälde lieferte. 2) — Maaßvoller hielt
ſich der als ſenſualiſtiſcher Pſychologe und Leugner des Angeboren-
ſeins unſrer Jdeen ihm gleichgeſinnte Locke. Er ließ ein gewiſſes
phyſiſches Wohlſein und Glück durch den Sündenfall verloren gehen,
wurde übrigens durch ſeine naturaliſtiſchen Grundſätze auf pädago-
giſchem Gebiete und durch ſeinen politiſchen Conſtitutionalismus zum
Vorläufer der franzöſiſchen Aufklärungsphiloſophen des vorigen
Jahrhunderts, und inaugurirte durch den Eifer, womit er aus Be-
ſchreibungen von Reiſen unter wilden Völkern u. dgl. Belege für
ſeinen Lieblingsſatz vom Nichtangeborenſein ſittlicher Jdeen (beſtehend
in Beiſpielen roheſten Kannibalenthums, geſchichtlicher Unſitten u. ſ. f.)
zu ſammeln pflegte, eine gewiſſe wohlfeile Beweisführungsmethode
moderner Naturaliſten, über welche wir weiter unten noch zu han-
deln haben werden.
Jn Montesquieus „Geiſt und Geſetze‟ (1745) ſieht man ähn-
liche Anſchauungen naturrechtlicher Art zum Ausgangspunkte poli-
tiſcher Speculation gemacht, wie die eines Bodin und Hobbes, nur
gemildert und humaniſtiſch veredelt. Aecht naturaliſtiſch iſt aber
auch bei ihm die Art, wie jedes Volk als Product ſeiner eigen-
1) De cive I, 1, 3. 11. Epist. dedicat. Vgl. Leviath. c. 1, 59.
2) Vgl. E. Pfleiderer, a. a. O., S. 22.
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