Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.IV. Die Opposition des modernen Naturalismus. doch nur ziemlich bedingter Weise aufnehmen und weiter bilden.Gelehrigere Schüler fanden sowohl Voltaire mit seiner plump ne- girenden, als Rousseau mit seiner phantastisch idealisirenden Manier, bei den Angehörigen ihrer eigenen Nation sowie bei den späteren Ausläufern des britischen Naturalismus. Wir heben als charakteri- stisch für die betr. Denk- und Lehrweise der Franzosen um die Zeit ihrer ersten großen Revolution beispielsweise Condorcets "Gemälde der Fortschritte des menschlichen Geistes" (1793) hervor. Darin werden im Ganzen zehn Zeitalter der aufsteigenden Vernunft- und Freiheitsentwicklung statuirt; im ersten entwickelt sich die mit thieri- scher Roheit beginnende, ihre jugendlichen Kräfte mittelst Jagd und Krieg übende Menschheit bis zur Stufe des Familienlebens, im zweiten bis zur Erlernung von Viehzucht und Ackerbau, 1) im dritten bis zur Begründung großer Despotieen mit ihren Kasten, ihrem Erbadel, Priesterstand, ihrer Sklaverei, u. s. f. Englischerseits sei hier Gibbon in Erinnerung gebracht, dessen 1787 vollendetes großes Geschichtswerk über Sinken und Fall des Römerreichs dem Gedanken, daß für unsre Vorstellungen von den frühesten Zuständen des Menschengeschlechts die heutigen wilden Völker maaßgebend sein müßten, einen besonders kräftigen Ausdruck gegeben hat. "Die Entdeckungen alter und neuer Seefahrer, sowie die nationalen Ueber- lieferungen der Völker stellen den wilden Menschen nackt dar an Leib und Seele, ohne Gesetze, Künste, Begriffe, ja fast ohne Sprache. Aus dieser kläglichen Lage, wohl dem ursprünglich allgemeinen Zu- stande des Menschen, hat sich derselbe allmählig zur Herrschaft über die Thiere, zur Urbarmachung der Erde, Durchschiffung des Meeres und Ausmessung des Himmels erhoben. Seine Fortschritte in Aus- bildung und Uebung seiner geistigen und körperlichen Kräfte sind unregelmäßig und verschiedenartig gewesen: unendlich langsam im Anfange und stufenweise mit beschleunigter Geschwindigkeit vorwärts 1) Ueber die Unhaltbarkeit dieser Voraussetzung, als seien Viehzucht und
Ackerbau auf ein ursprüngliches Jagdleben der Menschen erst gefolgt, s. oben: II, geg. E. IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. doch nur ziemlich bedingter Weiſe aufnehmen und weiter bilden.Gelehrigere Schüler fanden ſowohl Voltaire mit ſeiner plump ne- girenden, als Rouſſeau mit ſeiner phantaſtiſch idealiſirenden Manier, bei den Angehörigen ihrer eigenen Nation ſowie bei den ſpäteren Ausläufern des britiſchen Naturalismus. Wir heben als charakteri- ſtiſch für die betr. Denk- und Lehrweiſe der Franzoſen um die Zeit ihrer erſten großen Revolution beiſpielsweiſe Condorcets „Gemälde der Fortſchritte des menſchlichen Geiſtes‟ (1793) hervor. Darin werden im Ganzen zehn Zeitalter der aufſteigenden Vernunft- und Freiheitsentwicklung ſtatuirt; im erſten entwickelt ſich die mit thieri- ſcher Roheit beginnende, ihre jugendlichen Kräfte mittelſt Jagd und Krieg übende Menſchheit bis zur Stufe des Familienlebens, im zweiten bis zur Erlernung von Viehzucht und Ackerbau, 1) im dritten bis zur Begründung großer Deſpotieen mit ihren Kaſten, ihrem Erbadel, Prieſterſtand, ihrer Sklaverei, u. ſ. f. Engliſcherſeits ſei hier Gibbon in Erinnerung gebracht, deſſen 1787 vollendetes großes Geſchichtswerk über Sinken und Fall des Römerreichs dem Gedanken, daß für unſre Vorſtellungen von den früheſten Zuſtänden des Menſchengeſchlechts die heutigen wilden Völker maaßgebend ſein müßten, einen beſonders kräftigen Ausdruck gegeben hat. „Die Entdeckungen alter und neuer Seefahrer, ſowie die nationalen Ueber- lieferungen der Völker ſtellen den wilden Menſchen nackt dar an Leib und Seele, ohne Geſetze, Künſte, Begriffe, ja faſt ohne Sprache. Aus dieſer kläglichen Lage, wohl dem urſprünglich allgemeinen Zu- ſtande des Menſchen, hat ſich derſelbe allmählig zur Herrſchaft über die Thiere, zur Urbarmachung der Erde, Durchſchiffung des Meeres und Ausmeſſung des Himmels erhoben. Seine Fortſchritte in Aus- bildung und Uebung ſeiner geiſtigen und körperlichen Kräfte ſind unregelmäßig und verſchiedenartig geweſen: unendlich langſam im Anfange und ſtufenweiſe mit beſchleunigter Geſchwindigkeit vorwärts 1) Ueber die Unhaltbarkeit dieſer Vorausſetzung, als ſeien Viehzucht und
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doch nur ziemlich bedingter Weiſe aufnehmen und weiter bilden.
Gelehrigere Schüler fanden ſowohl Voltaire mit ſeiner plump ne-
girenden, als Rouſſeau mit ſeiner phantaſtiſch idealiſirenden Manier,
bei den Angehörigen ihrer eigenen Nation ſowie bei den ſpäteren
Ausläufern des britiſchen Naturalismus. Wir heben als charakteri-
ſtiſch für die betr. Denk- und Lehrweiſe der Franzoſen um die Zeit
ihrer erſten großen Revolution beiſpielsweiſe Condorcets „Gemälde
der Fortſchritte des menſchlichen Geiſtes‟ (1793) hervor. Darin
werden im Ganzen zehn Zeitalter der aufſteigenden Vernunft- und
Freiheitsentwicklung ſtatuirt; im erſten entwickelt ſich die mit thieri-
ſcher Roheit beginnende, ihre jugendlichen Kräfte mittelſt Jagd und
Krieg übende Menſchheit bis zur Stufe des Familienlebens, im
zweiten bis zur Erlernung von Viehzucht und Ackerbau, 1) im dritten
bis zur Begründung großer Deſpotieen mit ihren Kaſten, ihrem
Erbadel, Prieſterſtand, ihrer Sklaverei, u. ſ. f. Engliſcherſeits ſei
hier Gibbon in Erinnerung gebracht, deſſen 1787 vollendetes
großes Geſchichtswerk über Sinken und Fall des Römerreichs dem
Gedanken, daß für unſre Vorſtellungen von den früheſten Zuſtänden
des Menſchengeſchlechts die heutigen wilden Völker maaßgebend ſein
müßten, einen beſonders kräftigen Ausdruck gegeben hat. „Die
Entdeckungen alter und neuer Seefahrer, ſowie die nationalen Ueber-
lieferungen der Völker ſtellen den wilden Menſchen nackt dar an
Leib und Seele, ohne Geſetze, Künſte, Begriffe, ja faſt ohne Sprache.
Aus dieſer kläglichen Lage, wohl dem urſprünglich allgemeinen Zu-
ſtande des Menſchen, hat ſich derſelbe allmählig zur Herrſchaft über
die Thiere, zur Urbarmachung der Erde, Durchſchiffung des Meeres
und Ausmeſſung des Himmels erhoben. Seine Fortſchritte in Aus-
bildung und Uebung ſeiner geiſtigen und körperlichen Kräfte ſind
unregelmäßig und verſchiedenartig geweſen: unendlich langſam im
Anfange und ſtufenweiſe mit beſchleunigter Geſchwindigkeit vorwärts
1) Ueber die Unhaltbarkeit dieſer Vorausſetzung, als ſeien Viehzucht und
Ackerbau auf ein urſprüngliches Jagdleben der Menſchen erſt gefolgt, ſ. oben:
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