Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Prüfung der vorgeschichtlich-anthropologischen Gegeninstanzen.
mensch, von dieser Eigenthümlichkeit her ins Auge gefaßt, herzlich
schlecht in ein System urgeschichtlicher Speculation, das der biblischen
Urgeschichte den Krieg erklärt. Sind jene Knochenschnitzereien ächt,
und das scheint betreffs eines ziemlichen Theils von ihnen doch
angenommen werden zu müssen, so ist die Renthiercultur, also die
spätere Steinzeit überhaupt, sehr wenig dazu geeignet, Descendenz-
phantasieen zur Stütze zu dienen oder in polemischer Absicht gegen-
über dem status integritatis verwerthet zu werden.

Die frühere und früheste Steinzeit (paläolithische Zeit) aber
-- auch Mammuthperiode, wenn man dieß vorzieht, oder Zeit der
Canstatt-Race, oder schließlich gar Neanderthaloid-Zeit, u. s. f. --
kann sie wirklich als so ganz und gar vernichtend für den biblischen
Urstandsglauben gelten, wie der moderne Naturalismus dieß an-
nimmt? -- Sie läßt sich ja kaum irgendwo scharf und bestimmt
von der späteren Stein- oder Renthierzeit abgrenzen; fossile Mam-
muthknochen, Höhlenbären-, Höhlenhyänenknochen u. s. f. erscheinen
oft genug denjenigen der Thierwelt, die für die Renthierperiode als
charakteristisch gilt, sowie den menschlichen Spuren aus dieser Zeit,
in reichlicher Fülle beigemengt.1) Der ganze fragliche Zeitraum hat
etwas nebelhaft Unbestimmtes, Zerflossenes, weder nach vorne noch
nach hinten scharf Abgesondertes; die deutsche paläontologische
Forschung neigt überwiegend dazu, die Distinction zwischen ihm und
der Renthierzeit überhaupt als belanglos fallen zu lassen.2) Sta-
tuirt man eine besondre Mammuthperiode, wofür immerhin manche
Gründe geltend zu machen sein mögen, so wären ihr consequenter-
weise wohl auch solche Kunstwerke, wie das Elfenbeinstück von La

1) So z. B. in der Räuberhöhle bei Etterzhausen in der Oberpfalz (aus-
gegraben von Fraas und Zittel 1871), im Trou du Frontal in Belgien, auch
in mehreren englischen Höhlen, wie der Kents-Höhle bei Torquay, der Brixham-
Höhle etc.
2) Siehe namentlich Alfred Nehring, Die quaternären Faunen von Thiede
und Westeregeln, im Archiv für Anthropol. 1878, S. 1--25. Vgl. Ratzel
Vorgesch. S. 117 ff.; Zittel, Aus d. Urzeit, S. 521 ff.

V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.
menſch, von dieſer Eigenthümlichkeit her ins Auge gefaßt, herzlich
ſchlecht in ein Syſtem urgeſchichtlicher Speculation, das der bibliſchen
Urgeſchichte den Krieg erklärt. Sind jene Knochenſchnitzereien ächt,
und das ſcheint betreffs eines ziemlichen Theils von ihnen doch
angenommen werden zu müſſen, ſo iſt die Renthiercultur, alſo die
ſpätere Steinzeit überhaupt, ſehr wenig dazu geeignet, Deſcendenz-
phantaſieen zur Stütze zu dienen oder in polemiſcher Abſicht gegen-
über dem status integritatis verwerthet zu werden.

Die frühere und früheſte Steinzeit (paläolithiſche Zeit) aber
— auch Mammuthperiode, wenn man dieß vorzieht, oder Zeit der
Canſtatt-Race, oder ſchließlich gar Neanderthaloïd-Zeit, u. ſ. f. —
kann ſie wirklich als ſo ganz und gar vernichtend für den bibliſchen
Urſtandsglauben gelten, wie der moderne Naturalismus dieß an-
nimmt? — Sie läßt ſich ja kaum irgendwo ſcharf und beſtimmt
von der ſpäteren Stein- oder Renthierzeit abgrenzen; foſſile Mam-
muthknochen, Höhlenbären-, Höhlenhyänenknochen u. ſ. f. erſcheinen
oft genug denjenigen der Thierwelt, die für die Renthierperiode als
charakteriſtiſch gilt, ſowie den menſchlichen Spuren aus dieſer Zeit,
in reichlicher Fülle beigemengt.1) Der ganze fragliche Zeitraum hat
etwas nebelhaft Unbeſtimmtes, Zerfloſſenes, weder nach vorne noch
nach hinten ſcharf Abgeſondertes; die deutſche paläontologiſche
Forſchung neigt überwiegend dazu, die Diſtinction zwiſchen ihm und
der Renthierzeit überhaupt als belanglos fallen zu laſſen.2) Sta-
tuirt man eine beſondre Mammuthperiode, wofür immerhin manche
Gründe geltend zu machen ſein mögen, ſo wären ihr conſequenter-
weiſe wohl auch ſolche Kunſtwerke, wie das Elfenbeinſtück von La

1) So z. B. in der Räuberhöhle bei Etterzhauſen in der Oberpfalz (aus-
gegraben von Fraas und Zittel 1871), im Trou du Frontal in Belgien, auch
in mehreren engliſchen Höhlen, wie der Kents-Höhle bei Torquay, der Brixham-
Höhle ꝛc.
2) Siehe namentlich Alfred Nehring, Die quaternären Faunen von Thiede
und Weſteregeln, im Archiv für Anthropol. 1878, S. 1—25. Vgl. Ratzel
Vorgeſch. S. 117 ff.; Zittel, Aus d. Urzeit, S. 521 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0176" n="166"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Prüfung der vorge&#x017F;chichtlich-anthropologi&#x017F;chen Gegenin&#x017F;tanzen.</fw><lb/>
men&#x017F;ch, von die&#x017F;er Eigenthümlichkeit her ins Auge gefaßt, herzlich<lb/>
&#x017F;chlecht in ein Sy&#x017F;tem urge&#x017F;chichtlicher Speculation, das der bibli&#x017F;chen<lb/>
Urge&#x017F;chichte den Krieg erklärt. Sind jene Knochen&#x017F;chnitzereien ächt,<lb/>
und das &#x017F;cheint betreffs eines ziemlichen Theils von ihnen doch<lb/>
angenommen werden zu mü&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o i&#x017F;t die Renthiercultur, al&#x017F;o die<lb/>
&#x017F;pätere Steinzeit überhaupt, &#x017F;ehr wenig dazu geeignet, De&#x017F;cendenz-<lb/>
phanta&#x017F;ieen zur Stütze zu dienen oder in polemi&#x017F;cher Ab&#x017F;icht gegen-<lb/>
über dem <hi rendition="#aq">status integritatis</hi> verwerthet zu werden.</p><lb/>
        <p>Die frühere und frühe&#x017F;te Steinzeit (paläolithi&#x017F;che Zeit) aber<lb/>
&#x2014; auch Mammuthperiode, wenn man dieß vorzieht, oder Zeit der<lb/>
Can&#x017F;tatt-Race, oder &#x017F;chließlich gar Neanderthalo<hi rendition="#aq">ï</hi>d-Zeit, u. &#x017F;. f. &#x2014;<lb/>
kann &#x017F;ie wirklich als &#x017F;o ganz und gar vernichtend für den bibli&#x017F;chen<lb/>
Ur&#x017F;tandsglauben gelten, wie der moderne Naturalismus dieß an-<lb/>
nimmt? &#x2014; Sie läßt &#x017F;ich ja kaum irgendwo &#x017F;charf und be&#x017F;timmt<lb/>
von der &#x017F;päteren Stein- oder Renthierzeit abgrenzen; fo&#x017F;&#x017F;ile Mam-<lb/>
muthknochen, Höhlenbären-, Höhlenhyänenknochen u. &#x017F;. f. er&#x017F;cheinen<lb/>
oft genug denjenigen der Thierwelt, die für die Renthierperiode als<lb/>
charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch gilt, &#x017F;owie den men&#x017F;chlichen Spuren aus die&#x017F;er Zeit,<lb/>
in reichlicher Fülle beigemengt.<note place="foot" n="1)">So z. B. in der Räuberhöhle bei Etterzhau&#x017F;en in der Oberpfalz (aus-<lb/>
gegraben von Fraas und Zittel 1871), im Trou du Frontal in Belgien, auch<lb/>
in mehreren engli&#x017F;chen Höhlen, wie der Kents-Höhle bei Torquay, der Brixham-<lb/>
Höhle &#xA75B;c.</note> Der ganze fragliche Zeitraum hat<lb/>
etwas nebelhaft Unbe&#x017F;timmtes, Zerflo&#x017F;&#x017F;enes, weder nach vorne noch<lb/>
nach hinten &#x017F;charf Abge&#x017F;ondertes; die deut&#x017F;che paläontologi&#x017F;che<lb/>
For&#x017F;chung neigt überwiegend dazu, die Di&#x017F;tinction zwi&#x017F;chen ihm und<lb/>
der Renthierzeit überhaupt als belanglos fallen zu la&#x017F;&#x017F;en.<note place="foot" n="2)">Siehe namentlich Alfred <hi rendition="#g">Nehring,</hi> Die quaternären Faunen von Thiede<lb/>
und We&#x017F;teregeln, im Archiv für Anthropol. 1878, S. 1&#x2014;25. Vgl. <hi rendition="#g">Ratzel</hi><lb/>
Vorge&#x017F;ch. S. 117 ff.; <hi rendition="#g">Zittel,</hi> Aus d. Urzeit, S. 521 ff.</note> Sta-<lb/>
tuirt man eine be&#x017F;ondre Mammuthperiode, wofür immerhin manche<lb/>
Gründe geltend zu machen &#x017F;ein mögen, &#x017F;o wären ihr con&#x017F;equenter-<lb/>
wei&#x017F;e wohl auch &#x017F;olche Kun&#x017F;twerke, wie das Elfenbein&#x017F;tück von La<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0176] V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen. menſch, von dieſer Eigenthümlichkeit her ins Auge gefaßt, herzlich ſchlecht in ein Syſtem urgeſchichtlicher Speculation, das der bibliſchen Urgeſchichte den Krieg erklärt. Sind jene Knochenſchnitzereien ächt, und das ſcheint betreffs eines ziemlichen Theils von ihnen doch angenommen werden zu müſſen, ſo iſt die Renthiercultur, alſo die ſpätere Steinzeit überhaupt, ſehr wenig dazu geeignet, Deſcendenz- phantaſieen zur Stütze zu dienen oder in polemiſcher Abſicht gegen- über dem status integritatis verwerthet zu werden. Die frühere und früheſte Steinzeit (paläolithiſche Zeit) aber — auch Mammuthperiode, wenn man dieß vorzieht, oder Zeit der Canſtatt-Race, oder ſchließlich gar Neanderthaloïd-Zeit, u. ſ. f. — kann ſie wirklich als ſo ganz und gar vernichtend für den bibliſchen Urſtandsglauben gelten, wie der moderne Naturalismus dieß an- nimmt? — Sie läßt ſich ja kaum irgendwo ſcharf und beſtimmt von der ſpäteren Stein- oder Renthierzeit abgrenzen; foſſile Mam- muthknochen, Höhlenbären-, Höhlenhyänenknochen u. ſ. f. erſcheinen oft genug denjenigen der Thierwelt, die für die Renthierperiode als charakteriſtiſch gilt, ſowie den menſchlichen Spuren aus dieſer Zeit, in reichlicher Fülle beigemengt. 1) Der ganze fragliche Zeitraum hat etwas nebelhaft Unbeſtimmtes, Zerfloſſenes, weder nach vorne noch nach hinten ſcharf Abgeſondertes; die deutſche paläontologiſche Forſchung neigt überwiegend dazu, die Diſtinction zwiſchen ihm und der Renthierzeit überhaupt als belanglos fallen zu laſſen. 2) Sta- tuirt man eine beſondre Mammuthperiode, wofür immerhin manche Gründe geltend zu machen ſein mögen, ſo wären ihr conſequenter- weiſe wohl auch ſolche Kunſtwerke, wie das Elfenbeinſtück von La 1) So z. B. in der Räuberhöhle bei Etterzhauſen in der Oberpfalz (aus- gegraben von Fraas und Zittel 1871), im Trou du Frontal in Belgien, auch in mehreren engliſchen Höhlen, wie der Kents-Höhle bei Torquay, der Brixham- Höhle ꝛc. 2) Siehe namentlich Alfred Nehring, Die quaternären Faunen von Thiede und Weſteregeln, im Archiv für Anthropol. 1878, S. 1—25. Vgl. Ratzel Vorgeſch. S. 117 ff.; Zittel, Aus d. Urzeit, S. 521 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/176
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/176>, abgerufen am 09.11.2024.