Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Prüfung der vorgeschichtlich-anthropologischen Gegeninstanzen.
Madeleine zu vindiciren. Mit dem absolut rohen thierähnlichen
Charakter der Menschheit dieser frühesten Vorzeit wäre es dann
doch auch wieder nichts. Und Menschen vom Naulette- oder vom
Neanderthal-Schädeltypus müßten dann, gerade um des Herrührens
so bedeutender Kunstleistungen aus ihr willen, jedenfalls als bloße
Ausnahmen von der Regel, als vereinzelte Abnormitäten, dergleichen
auch die Jetztzeit noch gar manche aufweist (vgl. unten), betrachtet
werden. Wir bewegen uns hier, wo aus Schädeltrümmern vom
defectesten Charakter sowie aus Artefacten theils der primitivsten
theils der zweifelhaftesten Art der Stoff zur vollständigen Charak-
teristik einer angeblich nach Jahrtausenden zu messenden Culturperiode
gesammelt werden soll, auf einem mehr als bloß schlüpfrigen Boden.
Täuschungen der verschiedensten Art bilden hier geradezu die Regel,
nicht eine Ausnahme. Läßt die Renthierzeit um des oben angege-
benen Grundes willen sich mit einem gewissen Rechte als ein Gebiet
der Fälschungen bezeichnen, dann die Mammuth- oder ältere
Steinzeit sicherlich mit noch viel größerem Rechte als ein Gebiet
der Täuschungen.
Es gehört der heißblütige Enthusiasmus
französischer Archäologen, es gehört eine de Mortillet'sche Phantasie
dazu, dieß nicht einsehen zu wollen oder zu können.1) Und welche
arge Streiche werden doch den Forschern auf diesem Gebiete nicht
immer wiederholt durch die allzu hitzigen und kühnen Operationen

1) Bei der jüngsten Pariser Weltausstellung hatte dieser Archäologe eine
Anzahl von angeblichen Feuerstein-Artefacten des Tertiärmenschen, oder wie er
ihn nannte des "Anthropopithekus", (gefunden theils bei Beauce, theils bei
Aurillac im Dep. Cantal) ausgestellt. Die meisten dieser Splitter stießen hin-
sichtlich ihres wirklichen Artefact-Charakters auf so erhebliche und gerechte Zweifel,
daß ein deutscher Kritiker sich zu der Bemerkung veranlaßt sah: "So gut uns
der quaternäre Mensch durch seine Reste bewiesen scheint, so unsichen steht es
noch mit seinem Collegen, dem Mortilletschen Menschenaffen; denn nach den in
Paris aufgestellten Feuersteinsplittern vermögen wir uns denselben noch nicht zu
construiren .... Es sind da kräftigere Beweise nöthig, als Feuersteinsplitter,
bei denen -- -- bereits so viele Täuschungen unterliefen."

V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen.
Madeleine zu vindiciren. Mit dem abſolut rohen thierähnlichen
Charakter der Menſchheit dieſer früheſten Vorzeit wäre es dann
doch auch wieder nichts. Und Menſchen vom Naulette- oder vom
Neanderthal-Schädeltypus müßten dann, gerade um des Herrührens
ſo bedeutender Kunſtleiſtungen aus ihr willen, jedenfalls als bloße
Ausnahmen von der Regel, als vereinzelte Abnormitäten, dergleichen
auch die Jetztzeit noch gar manche aufweiſt (vgl. unten), betrachtet
werden. Wir bewegen uns hier, wo aus Schädeltrümmern vom
defecteſten Charakter ſowie aus Artefacten theils der primitivſten
theils der zweifelhafteſten Art der Stoff zur vollſtändigen Charak-
teriſtik einer angeblich nach Jahrtauſenden zu meſſenden Culturperiode
geſammelt werden ſoll, auf einem mehr als bloß ſchlüpfrigen Boden.
Täuſchungen der verſchiedenſten Art bilden hier geradezu die Regel,
nicht eine Ausnahme. Läßt die Renthierzeit um des oben angege-
benen Grundes willen ſich mit einem gewiſſen Rechte als ein Gebiet
der Fälſchungen bezeichnen, dann die Mammuth- oder ältere
Steinzeit ſicherlich mit noch viel größerem Rechte als ein Gebiet
der Täuſchungen.
Es gehört der heißblütige Enthuſiasmus
franzöſiſcher Archäologen, es gehört eine de Mortillet’ſche Phantaſie
dazu, dieß nicht einſehen zu wollen oder zu können.1) Und welche
arge Streiche werden doch den Forſchern auf dieſem Gebiete nicht
immer wiederholt durch die allzu hitzigen und kühnen Operationen

1) Bei der jüngſten Pariſer Weltausſtellung hatte dieſer Archäologe eine
Anzahl von angeblichen Feuerſtein-Artefacten des Tertiärmenſchen, oder wie er
ihn nannte des „Anthropopithekus‟, (gefunden theils bei Beauce, theils bei
Aurillac im Dep. Cantal) ausgeſtellt. Die meiſten dieſer Splitter ſtießen hin-
ſichtlich ihres wirklichen Artefact-Charakters auf ſo erhebliche und gerechte Zweifel,
daß ein deutſcher Kritiker ſich zu der Bemerkung veranlaßt ſah: „So gut uns
der quaternäre Menſch durch ſeine Reſte bewieſen ſcheint, ſo unſichen ſteht es
noch mit ſeinem Collegen, dem Mortilletſchen Menſchenaffen; denn nach den in
Paris aufgeſtellten Feuerſteinſplittern vermögen wir uns denſelben noch nicht zu
conſtruiren …. Es ſind da kräftigere Beweiſe nöthig, als Feuerſteinſplitter,
bei denen — — bereits ſo viele Täuſchungen unterliefen.‟
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0177" n="167"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Prüfung der vorge&#x017F;chichtlich-anthropologi&#x017F;chen Gegenin&#x017F;tanzen.</fw><lb/>
Madeleine zu vindiciren. Mit dem ab&#x017F;olut rohen thierähnlichen<lb/>
Charakter der Men&#x017F;chheit die&#x017F;er frühe&#x017F;ten Vorzeit wäre es dann<lb/>
doch auch wieder nichts. Und Men&#x017F;chen vom Naulette- oder vom<lb/>
Neanderthal-Schädeltypus müßten dann, gerade um des Herrührens<lb/>
&#x017F;o bedeutender Kun&#x017F;tlei&#x017F;tungen aus ihr willen, jedenfalls als bloße<lb/>
Ausnahmen von der Regel, als vereinzelte Abnormitäten, dergleichen<lb/>
auch die Jetztzeit noch gar manche aufwei&#x017F;t (vgl. unten), betrachtet<lb/>
werden. Wir bewegen uns hier, wo aus Schädeltrümmern vom<lb/>
defecte&#x017F;ten Charakter &#x017F;owie aus Artefacten theils der primitiv&#x017F;ten<lb/>
theils der zweifelhafte&#x017F;ten Art der Stoff zur voll&#x017F;tändigen Charak-<lb/>
teri&#x017F;tik einer angeblich nach Jahrtau&#x017F;enden zu me&#x017F;&#x017F;enden Culturperiode<lb/>
ge&#x017F;ammelt werden &#x017F;oll, auf einem mehr als bloß &#x017F;chlüpfrigen Boden.<lb/>
Täu&#x017F;chungen der ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Art bilden hier geradezu die Regel,<lb/>
nicht eine Ausnahme. Läßt die Renthierzeit um des oben angege-<lb/>
benen Grundes willen &#x017F;ich mit einem gewi&#x017F;&#x017F;en Rechte als ein Gebiet<lb/>
der <hi rendition="#g">Fäl&#x017F;chungen</hi> bezeichnen, dann die Mammuth- oder ältere<lb/>
Steinzeit &#x017F;icherlich mit noch viel größerem Rechte als ein <hi rendition="#g">Gebiet<lb/>
der Täu&#x017F;chungen.</hi> Es gehört der heißblütige Enthu&#x017F;iasmus<lb/>
franzö&#x017F;i&#x017F;cher Archäologen, es gehört eine de Mortillet&#x2019;&#x017F;che Phanta&#x017F;ie<lb/>
dazu, dieß nicht ein&#x017F;ehen zu wollen oder zu können.<note place="foot" n="1)">Bei der jüng&#x017F;ten Pari&#x017F;er Weltaus&#x017F;tellung hatte die&#x017F;er Archäologe eine<lb/>
Anzahl von angeblichen Feuer&#x017F;tein-Artefacten des Tertiärmen&#x017F;chen, oder wie er<lb/>
ihn nannte des &#x201E;Anthropopithekus&#x201F;, (gefunden theils bei Beauce, theils bei<lb/>
Aurillac im Dep. Cantal) ausge&#x017F;tellt. Die mei&#x017F;ten die&#x017F;er Splitter &#x017F;tießen hin-<lb/>
&#x017F;ichtlich ihres wirklichen Artefact-Charakters auf &#x017F;o erhebliche und gerechte Zweifel,<lb/>
daß ein deut&#x017F;cher Kritiker &#x017F;ich zu der Bemerkung veranlaßt &#x017F;ah: &#x201E;So gut uns<lb/>
der quaternäre Men&#x017F;ch durch &#x017F;eine Re&#x017F;te bewie&#x017F;en &#x017F;cheint, &#x017F;o un&#x017F;ichen &#x017F;teht es<lb/>
noch mit &#x017F;einem Collegen, dem Mortillet&#x017F;chen Men&#x017F;chenaffen; denn nach den in<lb/>
Paris aufge&#x017F;tellten Feuer&#x017F;tein&#x017F;plittern vermögen wir uns den&#x017F;elben noch nicht zu<lb/>
con&#x017F;truiren &#x2026;. Es &#x017F;ind da kräftigere Bewei&#x017F;e nöthig, als Feuer&#x017F;tein&#x017F;plitter,<lb/>
bei denen &#x2014; &#x2014; bereits &#x017F;o viele Täu&#x017F;chungen unterliefen.&#x201F;</note> Und welche<lb/>
arge Streiche werden doch den For&#x017F;chern auf die&#x017F;em Gebiete nicht<lb/>
immer wiederholt durch die allzu hitzigen und kühnen Operationen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0177] V. Prüfung der vorgeſchichtlich-anthropologiſchen Gegeninſtanzen. Madeleine zu vindiciren. Mit dem abſolut rohen thierähnlichen Charakter der Menſchheit dieſer früheſten Vorzeit wäre es dann doch auch wieder nichts. Und Menſchen vom Naulette- oder vom Neanderthal-Schädeltypus müßten dann, gerade um des Herrührens ſo bedeutender Kunſtleiſtungen aus ihr willen, jedenfalls als bloße Ausnahmen von der Regel, als vereinzelte Abnormitäten, dergleichen auch die Jetztzeit noch gar manche aufweiſt (vgl. unten), betrachtet werden. Wir bewegen uns hier, wo aus Schädeltrümmern vom defecteſten Charakter ſowie aus Artefacten theils der primitivſten theils der zweifelhafteſten Art der Stoff zur vollſtändigen Charak- teriſtik einer angeblich nach Jahrtauſenden zu meſſenden Culturperiode geſammelt werden ſoll, auf einem mehr als bloß ſchlüpfrigen Boden. Täuſchungen der verſchiedenſten Art bilden hier geradezu die Regel, nicht eine Ausnahme. Läßt die Renthierzeit um des oben angege- benen Grundes willen ſich mit einem gewiſſen Rechte als ein Gebiet der Fälſchungen bezeichnen, dann die Mammuth- oder ältere Steinzeit ſicherlich mit noch viel größerem Rechte als ein Gebiet der Täuſchungen. Es gehört der heißblütige Enthuſiasmus franzöſiſcher Archäologen, es gehört eine de Mortillet’ſche Phantaſie dazu, dieß nicht einſehen zu wollen oder zu können. 1) Und welche arge Streiche werden doch den Forſchern auf dieſem Gebiete nicht immer wiederholt durch die allzu hitzigen und kühnen Operationen 1) Bei der jüngſten Pariſer Weltausſtellung hatte dieſer Archäologe eine Anzahl von angeblichen Feuerſtein-Artefacten des Tertiärmenſchen, oder wie er ihn nannte des „Anthropopithekus‟, (gefunden theils bei Beauce, theils bei Aurillac im Dep. Cantal) ausgeſtellt. Die meiſten dieſer Splitter ſtießen hin- ſichtlich ihres wirklichen Artefact-Charakters auf ſo erhebliche und gerechte Zweifel, daß ein deutſcher Kritiker ſich zu der Bemerkung veranlaßt ſah: „So gut uns der quaternäre Menſch durch ſeine Reſte bewieſen ſcheint, ſo unſichen ſteht es noch mit ſeinem Collegen, dem Mortilletſchen Menſchenaffen; denn nach den in Paris aufgeſtellten Feuerſteinſplittern vermögen wir uns denſelben noch nicht zu conſtruiren …. Es ſind da kräftigere Beweiſe nöthig, als Feuerſteinſplitter, bei denen — — bereits ſo viele Täuſchungen unterliefen.‟

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/177
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/177>, abgerufen am 21.11.2024.