Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
keineswegs geglückt. Sein Gesichtskreis ist ein viel zu enger; daß
er grundsätzlich nur britische Beispiele anführt und kritisch bespricht,
scheint an und für sich recht zweckmäßig, fördert ihn jedoch in der
Sicherheit seines Urtheils nicht. Nur auf einen möglichst umfassenden
Apparat gestützt, lassen sich über Fragen, wie die in Rede stehende,
kritisch zuverlässige Urtheile fällen. Hätte er jenen von Hufeland
in der "Makrobiotik" hervorgehobenen, höchst merkwürdigen und in
keiner Weise schlecht bezeugten Fall des 116jährigen Greisen zu
Rechingen, Oberamt Bamberg, welcher in so hohem Alter, vier
Jahre vor seinem 1791 erfolgten Tode, noch einmal einen Zahn-
wechsel (mit acht neuen Zähnen) zu bestehen bekam, mit in Unter-
suchung gezogen, so hätte er über den Fall des nach dem 100. Jahre
noch zeugungsfähigen Parr schwerlich so wegwerfend, wie er dieß
thut, urtheilen gekonnt. Dabei zieht er aber nicht einmal die sämmt-
lichen Beispiele excessiv hohen Alters aus Großbritanien selbst mit
der nöthigen Sorgfalt in Rechnung, schweigt z. B. ganz von jenem
schottischen Fischer Lawrence, der nach Rob. Sibbalds Prodromus
einer Naturbeschreibung Schottlands noch im 100. Jahre ein Weib
genommen und bis gegen sein 140. Jahr, wo er starb, fast täglich
fischen gefahren sein soll. Mag es dem Kritiker am nöthigen Material
zu genauerer Prüfung dieses Falles gefehlt haben: schweigen durfte
er doch von ihm so wenig, wie von den ähnlichen, die sonst noch
nur allein aus schottischen und englischen Quellen zu erbringen ge-
wesen wären. Namentlich vermißt man ungern eine Berichterstattung
und kritische Erörterung über jenen von Hebel im "Schatzkästlein"
unnachahmlich schön erzählten Fall aus Schottland, wo ein Reisender
vor einer Hütte dieses Landes einen 62jährigen Sohn antrifft wei-
nend, ob der Ohrfeige, die sein 96jähriger Vater ihm wegen seiner
Ungeschicklichkeit beim Heben des 130jährigen Großvaters ins Bett
gegeben hat. Auch des 1757 gestorbnen, angeblich 144 Jahre alt
gewordnen Soldaten Effingham aus Cornwallis; ferner des John
Weeks, der 106 Jahr alt seine zehnte Frau geehelicht haben und
114 Jahr alt gestorben sein soll, geschieht bei unserm Kritiker keine

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
keineswegs geglückt. Sein Geſichtskreis iſt ein viel zu enger; daß
er grundſätzlich nur britiſche Beiſpiele anführt und kritiſch beſpricht,
ſcheint an und für ſich recht zweckmäßig, fördert ihn jedoch in der
Sicherheit ſeines Urtheils nicht. Nur auf einen möglichſt umfaſſenden
Apparat geſtützt, laſſen ſich über Fragen, wie die in Rede ſtehende,
kritiſch zuverläſſige Urtheile fällen. Hätte er jenen von Hufeland
in der „Makrobiotik‟ hervorgehobenen, höchſt merkwürdigen und in
keiner Weiſe ſchlecht bezeugten Fall des 116jährigen Greiſen zu
Rechingen, Oberamt Bamberg, welcher in ſo hohem Alter, vier
Jahre vor ſeinem 1791 erfolgten Tode, noch einmal einen Zahn-
wechſel (mit acht neuen Zähnen) zu beſtehen bekam, mit in Unter-
ſuchung gezogen, ſo hätte er über den Fall des nach dem 100. Jahre
noch zeugungsfähigen Parr ſchwerlich ſo wegwerfend, wie er dieß
thut, urtheilen gekonnt. Dabei zieht er aber nicht einmal die ſämmt-
lichen Beiſpiele exceſſiv hohen Alters aus Großbritanien ſelbſt mit
der nöthigen Sorgfalt in Rechnung, ſchweigt z. B. ganz von jenem
ſchottiſchen Fiſcher Lawrence, der nach Rob. Sibbalds Prodromus
einer Naturbeſchreibung Schottlands noch im 100. Jahre ein Weib
genommen und bis gegen ſein 140. Jahr, wo er ſtarb, faſt täglich
fiſchen gefahren ſein ſoll. Mag es dem Kritiker am nöthigen Material
zu genauerer Prüfung dieſes Falles gefehlt haben: ſchweigen durfte
er doch von ihm ſo wenig, wie von den ähnlichen, die ſonſt noch
nur allein aus ſchottiſchen und engliſchen Quellen zu erbringen ge-
weſen wären. Namentlich vermißt man ungern eine Berichterſtattung
und kritiſche Erörterung über jenen von Hebel im „Schatzkäſtlein‟
unnachahmlich ſchön erzählten Fall aus Schottland, wo ein Reiſender
vor einer Hütte dieſes Landes einen 62jährigen Sohn antrifft wei-
nend, ob der Ohrfeige, die ſein 96jähriger Vater ihm wegen ſeiner
Ungeſchicklichkeit beim Heben des 130jährigen Großvaters ins Bett
gegeben hat. Auch des 1757 geſtorbnen, angeblich 144 Jahre alt
gewordnen Soldaten Effingham aus Cornwallis; ferner des John
Weeks, der 106 Jahr alt ſeine zehnte Frau geehelicht haben und
114 Jahr alt geſtorben ſein ſoll, geſchieht bei unſerm Kritiker keine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0262" n="252"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Die Langlebigkeit der Patriarchen.</fw><lb/>
keineswegs geglückt. Sein Ge&#x017F;ichtskreis i&#x017F;t ein viel zu enger; daß<lb/>
er grund&#x017F;ätzlich nur briti&#x017F;che Bei&#x017F;piele anführt und kriti&#x017F;ch be&#x017F;pricht,<lb/>
&#x017F;cheint an und für &#x017F;ich recht zweckmäßig, fördert ihn jedoch in der<lb/>
Sicherheit &#x017F;eines Urtheils nicht. Nur auf einen möglich&#x017F;t umfa&#x017F;&#x017F;enden<lb/>
Apparat ge&#x017F;tützt, la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich über Fragen, wie die in Rede &#x017F;tehende,<lb/>
kriti&#x017F;ch zuverlä&#x017F;&#x017F;ige Urtheile fällen. Hätte er jenen von Hufeland<lb/>
in der &#x201E;Makrobiotik&#x201F; hervorgehobenen, höch&#x017F;t merkwürdigen und in<lb/>
keiner Wei&#x017F;e &#x017F;chlecht bezeugten Fall des 116jährigen Grei&#x017F;en zu<lb/>
Rechingen, Oberamt Bamberg, welcher in &#x017F;o hohem Alter, vier<lb/>
Jahre vor &#x017F;einem 1791 erfolgten Tode, noch einmal einen Zahn-<lb/>
wech&#x017F;el (mit acht neuen Zähnen) zu be&#x017F;tehen bekam, mit in Unter-<lb/>
&#x017F;uchung gezogen, &#x017F;o hätte er über den Fall des nach dem 100. Jahre<lb/>
noch zeugungsfähigen Parr &#x017F;chwerlich &#x017F;o wegwerfend, wie er dieß<lb/>
thut, urtheilen gekonnt. Dabei zieht er aber nicht einmal die &#x017F;ämmt-<lb/>
lichen Bei&#x017F;piele exce&#x017F;&#x017F;iv hohen Alters aus Großbritanien &#x017F;elb&#x017F;t mit<lb/>
der nöthigen Sorgfalt in Rechnung, &#x017F;chweigt z. B. ganz von jenem<lb/>
&#x017F;chotti&#x017F;chen Fi&#x017F;cher Lawrence, der nach Rob. Sibbalds Prodromus<lb/>
einer Naturbe&#x017F;chreibung Schottlands noch im 100. Jahre ein Weib<lb/>
genommen und bis gegen &#x017F;ein 140. Jahr, wo er &#x017F;tarb, fa&#x017F;t täglich<lb/>
fi&#x017F;chen gefahren &#x017F;ein &#x017F;oll. Mag es dem Kritiker am nöthigen Material<lb/>
zu genauerer Prüfung die&#x017F;es Falles gefehlt haben: &#x017F;chweigen durfte<lb/>
er doch von ihm &#x017F;o wenig, wie von den ähnlichen, die &#x017F;on&#x017F;t noch<lb/>
nur allein aus &#x017F;chotti&#x017F;chen und engli&#x017F;chen Quellen zu erbringen ge-<lb/>
we&#x017F;en wären. Namentlich vermißt man ungern eine Berichter&#x017F;tattung<lb/>
und kriti&#x017F;che Erörterung über jenen von Hebel im &#x201E;Schatzkä&#x017F;tlein&#x201F;<lb/>
unnachahmlich &#x017F;chön erzählten Fall aus Schottland, wo ein Rei&#x017F;ender<lb/>
vor einer Hütte die&#x017F;es Landes einen 62jährigen Sohn antrifft wei-<lb/>
nend, ob der Ohrfeige, die &#x017F;ein 96jähriger Vater ihm wegen &#x017F;einer<lb/>
Unge&#x017F;chicklichkeit beim Heben des 130jährigen Großvaters ins Bett<lb/>
gegeben hat. Auch des 1757 ge&#x017F;torbnen, angeblich 144 Jahre alt<lb/>
gewordnen Soldaten Effingham aus Cornwallis; ferner des John<lb/>
Weeks, der 106 Jahr alt &#x017F;eine zehnte Frau geehelicht haben und<lb/>
114 Jahr alt ge&#x017F;torben &#x017F;ein &#x017F;oll, ge&#x017F;chieht bei un&#x017F;erm Kritiker keine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0262] VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. keineswegs geglückt. Sein Geſichtskreis iſt ein viel zu enger; daß er grundſätzlich nur britiſche Beiſpiele anführt und kritiſch beſpricht, ſcheint an und für ſich recht zweckmäßig, fördert ihn jedoch in der Sicherheit ſeines Urtheils nicht. Nur auf einen möglichſt umfaſſenden Apparat geſtützt, laſſen ſich über Fragen, wie die in Rede ſtehende, kritiſch zuverläſſige Urtheile fällen. Hätte er jenen von Hufeland in der „Makrobiotik‟ hervorgehobenen, höchſt merkwürdigen und in keiner Weiſe ſchlecht bezeugten Fall des 116jährigen Greiſen zu Rechingen, Oberamt Bamberg, welcher in ſo hohem Alter, vier Jahre vor ſeinem 1791 erfolgten Tode, noch einmal einen Zahn- wechſel (mit acht neuen Zähnen) zu beſtehen bekam, mit in Unter- ſuchung gezogen, ſo hätte er über den Fall des nach dem 100. Jahre noch zeugungsfähigen Parr ſchwerlich ſo wegwerfend, wie er dieß thut, urtheilen gekonnt. Dabei zieht er aber nicht einmal die ſämmt- lichen Beiſpiele exceſſiv hohen Alters aus Großbritanien ſelbſt mit der nöthigen Sorgfalt in Rechnung, ſchweigt z. B. ganz von jenem ſchottiſchen Fiſcher Lawrence, der nach Rob. Sibbalds Prodromus einer Naturbeſchreibung Schottlands noch im 100. Jahre ein Weib genommen und bis gegen ſein 140. Jahr, wo er ſtarb, faſt täglich fiſchen gefahren ſein ſoll. Mag es dem Kritiker am nöthigen Material zu genauerer Prüfung dieſes Falles gefehlt haben: ſchweigen durfte er doch von ihm ſo wenig, wie von den ähnlichen, die ſonſt noch nur allein aus ſchottiſchen und engliſchen Quellen zu erbringen ge- weſen wären. Namentlich vermißt man ungern eine Berichterſtattung und kritiſche Erörterung über jenen von Hebel im „Schatzkäſtlein‟ unnachahmlich ſchön erzählten Fall aus Schottland, wo ein Reiſender vor einer Hütte dieſes Landes einen 62jährigen Sohn antrifft wei- nend, ob der Ohrfeige, die ſein 96jähriger Vater ihm wegen ſeiner Ungeſchicklichkeit beim Heben des 130jährigen Großvaters ins Bett gegeben hat. Auch des 1757 geſtorbnen, angeblich 144 Jahre alt gewordnen Soldaten Effingham aus Cornwallis; ferner des John Weeks, der 106 Jahr alt ſeine zehnte Frau geehelicht haben und 114 Jahr alt geſtorben ſein ſoll, geſchieht bei unſerm Kritiker keine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/262
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/262>, abgerufen am 22.11.2024.