Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.X. Schluß. das Axiom festhält: "Je weiter rückwärts in der Entwicklung unsresGeschlechts, desto roher, brutaler und unreiner hat man sich dasselbe zu denken", befindet diese unsre Auffassungsweise sich in einem aus- gesprochnen Gegensatze, obschon auch wir ein stetiges Emporsteigen des Culturlebens zu vollkommneren Zuständen annehmen und die altkirchlich-scholastische Steigerung der ethisch-religiösen Urvollkommen- heit Adams zu einer auch intellectuellen ebenso entschieden verwerfen, wie die überschwenglichen Phantasien einzelner neuerer Apologeten, welche von einer hohen Civilisationsstufe der ersten Erzväter träu- men und beispielsweise gleich der menschlichen Sprache auch die Schrift, irgendwelches älteste Ur- oder Mutter-Alphabet also, bereits aus dem Paradiese herzuleiten und als ein Geschenk göttlicher Ur- offenbarung an Adam darzustellen suchen.1) Auch ohne so weit zu gehen, stehen wir doch in tiefgreifendem Gegensatze zur Urstandslehre des modernen Naturalismus, weil diesem alle und jede Erkenntniß von der gewaltigen Bedeutung der Sünde als störenden Factors der sündefrei und gottbildlich rein begonnenen Entwicklung unsres Geschlechts abgeht. Die Parallele der individuellen mit den gesammt- menschheitlichen Lebensstufen, also die Auffassung der frühesten Anfänge menschlicher Geschichte als eines Kindesalters, ist ja den Vertretern auch dieses Standpunktes keineswegs fremd. Häckels vielgepriesenes biogenetisches Grundgesetz legt sie den darwinistisch Gerichteten unter ihnen gleichsam von selbst nahe; und schon Rous- seau's phantastisch idealisirter Naturmensch, der ja hie und da immer noch in den Köpfen unsrer Gebildeten spukt, trägt einige Züge vom Leben und Bewußtsein eines Kindes an sich. Aber wir müssen protestiren gegen diese Kindheitstheorie mit ihren durchaus schiefen und einseitigen Anschauungen und ihrer totalen Verkennung einerseits 1) So G. A. Wimmer in der schon einige Male citirten Schrift: "Adam
und sein Geschlecht" (1863), S. 79, wo alles Ernstes behauptet wird, Gott habe Adam im Paradiese wie das Sprechen, so auch schon das Schreiben gelehrt; was mit der Frage motivirt wird: "Kann uns die Geschichte eine Zeit nach- weisen, in welcher nicht geschrieben wurde?" -- Vgl. auch das., S. 98. X. Schluß. das Axiom feſthält: „Je weiter rückwärts in der Entwicklung unſresGeſchlechts, deſto roher, brutaler und unreiner hat man ſich daſſelbe zu denken‟, befindet dieſe unſre Auffaſſungsweiſe ſich in einem aus- geſprochnen Gegenſatze, obſchon auch wir ein ſtetiges Emporſteigen des Culturlebens zu vollkommneren Zuſtänden annehmen und die altkirchlich-ſcholaſtiſche Steigerung der ethiſch-religiöſen Urvollkommen- heit Adams zu einer auch intellectuellen ebenſo entſchieden verwerfen, wie die überſchwenglichen Phantaſien einzelner neuerer Apologeten, welche von einer hohen Civiliſationsſtufe der erſten Erzväter träu- men und beiſpielsweiſe gleich der menſchlichen Sprache auch die Schrift, irgendwelches älteſte Ur- oder Mutter-Alphabet alſo, bereits aus dem Paradieſe herzuleiten und als ein Geſchenk göttlicher Ur- offenbarung an Adam darzuſtellen ſuchen.1) Auch ohne ſo weit zu gehen, ſtehen wir doch in tiefgreifendem Gegenſatze zur Urſtandslehre des modernen Naturalismus, weil dieſem alle und jede Erkenntniß von der gewaltigen Bedeutung der Sünde als ſtörenden Factors der ſündefrei und gottbildlich rein begonnenen Entwicklung unſres Geſchlechts abgeht. Die Parallele der individuellen mit den geſammt- menſchheitlichen Lebensſtufen, alſo die Auffaſſung der früheſten Anfänge menſchlicher Geſchichte als eines Kindesalters, iſt ja den Vertretern auch dieſes Standpunktes keineswegs fremd. Häckels vielgeprieſenes biogenetiſches Grundgeſetz legt ſie den darwiniſtiſch Gerichteten unter ihnen gleichſam von ſelbſt nahe; und ſchon Rouſ- ſeau’s phantaſtiſch idealiſirter Naturmenſch, der ja hie und da immer noch in den Köpfen unſrer Gebildeten ſpukt, trägt einige Züge vom Leben und Bewußtſein eines Kindes an ſich. Aber wir müſſen proteſtiren gegen dieſe Kindheitstheorie mit ihren durchaus ſchiefen und einſeitigen Anſchauungen und ihrer totalen Verkennung einerſeits 1) So G. A. Wimmer in der ſchon einige Male citirten Schrift: „Adam
und ſein Geſchlecht‟ (1863), S. 79, wo alles Ernſtes behauptet wird, Gott habe Adam im Paradieſe wie das Sprechen, ſo auch ſchon das Schreiben gelehrt; was mit der Frage motivirt wird: „Kann uns die Geſchichte eine Zeit nach- weiſen, in welcher nicht geſchrieben wurde?‟ — Vgl. auch daſ., S. 98. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0341" n="331"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">X.</hi> Schluß.</fw><lb/> das Axiom feſthält: „Je weiter rückwärts in der Entwicklung unſres<lb/> Geſchlechts, deſto roher, brutaler und unreiner hat man ſich daſſelbe<lb/> zu denken‟, befindet dieſe unſre Auffaſſungsweiſe ſich in einem aus-<lb/> geſprochnen Gegenſatze, obſchon auch wir ein ſtetiges Emporſteigen<lb/> des Culturlebens zu vollkommneren Zuſtänden annehmen und die<lb/> altkirchlich-ſcholaſtiſche Steigerung der ethiſch-religiöſen Urvollkommen-<lb/> heit Adams zu einer auch intellectuellen ebenſo entſchieden verwerfen,<lb/> wie die überſchwenglichen Phantaſien einzelner neuerer Apologeten,<lb/> welche von einer hohen Civiliſationsſtufe der erſten Erzväter träu-<lb/> men und beiſpielsweiſe gleich der menſchlichen Sprache auch die<lb/> Schrift, irgendwelches älteſte Ur- oder Mutter-Alphabet alſo, bereits<lb/> aus dem Paradieſe herzuleiten und als ein Geſchenk göttlicher Ur-<lb/> offenbarung an Adam darzuſtellen ſuchen.<note place="foot" n="1)">So G. A. <hi rendition="#g">Wimmer</hi> in der ſchon einige Male citirten Schrift: „Adam<lb/> und ſein Geſchlecht‟ (1863), S. 79, wo alles Ernſtes behauptet wird, Gott<lb/> habe Adam im Paradieſe wie das Sprechen, ſo auch ſchon das Schreiben gelehrt;<lb/> was mit der Frage motivirt wird: „Kann uns die Geſchichte eine Zeit nach-<lb/> weiſen, in welcher nicht geſchrieben wurde?‟ — Vgl. auch daſ., S. 98.</note> Auch ohne ſo weit zu<lb/> gehen, ſtehen wir doch in tiefgreifendem Gegenſatze zur Urſtandslehre<lb/> des modernen Naturalismus, weil dieſem alle und jede Erkenntniß<lb/> von der gewaltigen Bedeutung der Sünde als ſtörenden Factors<lb/> der ſündefrei und gottbildlich rein begonnenen Entwicklung unſres<lb/> Geſchlechts abgeht. Die Parallele der individuellen mit den geſammt-<lb/> menſchheitlichen Lebensſtufen, alſo die Auffaſſung der früheſten<lb/> Anfänge menſchlicher Geſchichte als eines Kindesalters, iſt ja den<lb/> Vertretern auch dieſes Standpunktes keineswegs fremd. Häckels<lb/> vielgeprieſenes biogenetiſches Grundgeſetz legt ſie den darwiniſtiſch<lb/> Gerichteten unter ihnen gleichſam von ſelbſt nahe; und ſchon Rouſ-<lb/> ſeau’s phantaſtiſch idealiſirter Naturmenſch, der ja hie und da immer<lb/> noch in den Köpfen unſrer Gebildeten ſpukt, trägt einige Züge vom<lb/> Leben und Bewußtſein eines Kindes an ſich. Aber wir müſſen<lb/> proteſtiren gegen <hi rendition="#g">dieſe</hi> Kindheitstheorie mit ihren durchaus ſchiefen<lb/> und einſeitigen Anſchauungen und ihrer totalen Verkennung einerſeits<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [331/0341]
X. Schluß.
das Axiom feſthält: „Je weiter rückwärts in der Entwicklung unſres
Geſchlechts, deſto roher, brutaler und unreiner hat man ſich daſſelbe
zu denken‟, befindet dieſe unſre Auffaſſungsweiſe ſich in einem aus-
geſprochnen Gegenſatze, obſchon auch wir ein ſtetiges Emporſteigen
des Culturlebens zu vollkommneren Zuſtänden annehmen und die
altkirchlich-ſcholaſtiſche Steigerung der ethiſch-religiöſen Urvollkommen-
heit Adams zu einer auch intellectuellen ebenſo entſchieden verwerfen,
wie die überſchwenglichen Phantaſien einzelner neuerer Apologeten,
welche von einer hohen Civiliſationsſtufe der erſten Erzväter träu-
men und beiſpielsweiſe gleich der menſchlichen Sprache auch die
Schrift, irgendwelches älteſte Ur- oder Mutter-Alphabet alſo, bereits
aus dem Paradieſe herzuleiten und als ein Geſchenk göttlicher Ur-
offenbarung an Adam darzuſtellen ſuchen. 1) Auch ohne ſo weit zu
gehen, ſtehen wir doch in tiefgreifendem Gegenſatze zur Urſtandslehre
des modernen Naturalismus, weil dieſem alle und jede Erkenntniß
von der gewaltigen Bedeutung der Sünde als ſtörenden Factors
der ſündefrei und gottbildlich rein begonnenen Entwicklung unſres
Geſchlechts abgeht. Die Parallele der individuellen mit den geſammt-
menſchheitlichen Lebensſtufen, alſo die Auffaſſung der früheſten
Anfänge menſchlicher Geſchichte als eines Kindesalters, iſt ja den
Vertretern auch dieſes Standpunktes keineswegs fremd. Häckels
vielgeprieſenes biogenetiſches Grundgeſetz legt ſie den darwiniſtiſch
Gerichteten unter ihnen gleichſam von ſelbſt nahe; und ſchon Rouſ-
ſeau’s phantaſtiſch idealiſirter Naturmenſch, der ja hie und da immer
noch in den Köpfen unſrer Gebildeten ſpukt, trägt einige Züge vom
Leben und Bewußtſein eines Kindes an ſich. Aber wir müſſen
proteſtiren gegen dieſe Kindheitstheorie mit ihren durchaus ſchiefen
und einſeitigen Anſchauungen und ihrer totalen Verkennung einerſeits
1) So G. A. Wimmer in der ſchon einige Male citirten Schrift: „Adam
und ſein Geſchlecht‟ (1863), S. 79, wo alles Ernſtes behauptet wird, Gott
habe Adam im Paradieſe wie das Sprechen, ſo auch ſchon das Schreiben gelehrt;
was mit der Frage motivirt wird: „Kann uns die Geſchichte eine Zeit nach-
weiſen, in welcher nicht geſchrieben wurde?‟ — Vgl. auch daſ., S. 98.
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