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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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II. Die Schriftlehre vom Urstande.
jenes durch die sündige Corruption bedingten Degradationsgesetzes
in der Stelle enthalten sein. Allein gegen diese neuere Deutung,
als deren theilweise Vorgänger im Alterthum Philo und Josephus
aufgeführt werden können, sprechen verschiedne Gründe, vor allem
der eigenthümliche Zeitpunkt des Ausspruches. Als strafende Lebens-
verkürzungs-Sentenz würde derselbe entweder unmittelbar vor
der Fluth, oder auch gleich nach derselben am Platze gewesen sein,
vorausgesetzt daß wirklich alsbald nach der Fluth 120 Jahre Lebens-
zeit als menschliche Altersgrenze festgesetzt worden wäre. Allein
abgesehen davon, daß eine so weit gehende Herabsetzung ja erst
reichlich ein Jahrtausend nach der Fluth in Kraft trat, fällt auch
der Ausspruch laut 1 Mos 5, 32 (wo Noahs Alter um den Zeit-
punkt seines Ergehens auf erst 500 Jahre bestimmt wird, während
die Sintfluth erst in dessen 600. Jahre sich ereignete) ungefähr ein
Jahrhundert vor den Eintritt des Fluthgerichts. Deßhalb bleibt
-- wie auch immer die schwierige erste Hälfte des Verses zu er-
klären sein möge, ob von einem "Richten", oder "Herrschen", oder
"Wohnen" des göttlichen Geistes im Menschen -- für die Schluß-
worte immerhin die von Luther nach dem Vorgange des chaldäischen
Paraphrasen und andrer alter Uebersetzer erwählte Deutung die
besser gesicherte: "Jch will ihnen noch geben 120 Jahre", bis zur
Fluth nemlich. Das Wort scheint eher Ankündigung einer letzten
Gnadenfrist zu sein, als degradirender Richterspruch.1) Wäre es
aber auch im letzteren Sinne zu fassen: man bedürste seiner nicht
einmal zur Feststellung des heilsgeschichtlichen Gesetzes eines lang-
samen Sichverminderns der menschlichen Lebensjahre in Folge der
zunehmenden Corruption; die obige Zahlenzusammenstellung in Ver-
bindung mit der Klage des gealterten Jakob ergibt einen voll-
ständig ausreichenden Schriftbeweis für dessen thatsächliches Bestehen.

1) Siehe namentlich Delitzsch z. d. St., dem Keil, J. P. Lange,
Tiele,
Bibl. Chronologie, 1839), A. Köhler (Bibl. Geschichte I, 56 f.), über-
haupt die meisten positiven Exegeten neuerer Zeit zustimmen; vgl. jedoch auch
Rosenmüller z. d. St.

II. Die Schriftlehre vom Urſtande.
jenes durch die ſündige Corruption bedingten Degradationsgeſetzes
in der Stelle enthalten ſein. Allein gegen dieſe neuere Deutung,
als deren theilweiſe Vorgänger im Alterthum Philo und Joſephus
aufgeführt werden können, ſprechen verſchiedne Gründe, vor allem
der eigenthümliche Zeitpunkt des Ausſpruches. Als ſtrafende Lebens-
verkürzungs-Sentenz würde derſelbe entweder unmittelbar vor
der Fluth, oder auch gleich nach derſelben am Platze geweſen ſein,
vorausgeſetzt daß wirklich alsbald nach der Fluth 120 Jahre Lebens-
zeit als menſchliche Altersgrenze feſtgeſetzt worden wäre. Allein
abgeſehen davon, daß eine ſo weit gehende Herabſetzung ja erſt
reichlich ein Jahrtauſend nach der Fluth in Kraft trat, fällt auch
der Ausſpruch laut 1 Moſ 5, 32 (wo Noahs Alter um den Zeit-
punkt ſeines Ergehens auf erſt 500 Jahre beſtimmt wird, während
die Sintfluth erſt in deſſen 600. Jahre ſich ereignete) ungefähr ein
Jahrhundert vor den Eintritt des Fluthgerichts. Deßhalb bleibt
— wie auch immer die ſchwierige erſte Hälfte des Verſes zu er-
klären ſein möge, ob von einem „Richten‟, oder „Herrſchen‟, oder
„Wohnen‟ des göttlichen Geiſtes im Menſchen — für die Schluß-
worte immerhin die von Luther nach dem Vorgange des chaldäiſchen
Paraphraſen und andrer alter Ueberſetzer erwählte Deutung die
beſſer geſicherte: „Jch will ihnen noch geben 120 Jahre‟, bis zur
Fluth nemlich. Das Wort ſcheint eher Ankündigung einer letzten
Gnadenfriſt zu ſein, als degradirender Richterſpruch.1) Wäre es
aber auch im letzteren Sinne zu faſſen: man bedürſte ſeiner nicht
einmal zur Feſtſtellung des heilsgeſchichtlichen Geſetzes eines lang-
ſamen Sichverminderns der menſchlichen Lebensjahre in Folge der
zunehmenden Corruption; die obige Zahlenzuſammenſtellung in Ver-
bindung mit der Klage des gealterten Jakob ergibt einen voll-
ſtändig ausreichenden Schriftbeweis für deſſen thatſächliches Beſtehen.

1) Siehe namentlich Delitzſch z. d. St., dem Keil, J. P. Lange,
Tiele,
Bibl. Chronologie, 1839), A. Köhler (Bibl. Geſchichte I, 56 f.), über-
haupt die meiſten poſitiven Exegeten neuerer Zeit zuſtimmen; vgl. jedoch auch
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[77/0087] II. Die Schriftlehre vom Urſtande. jenes durch die ſündige Corruption bedingten Degradationsgeſetzes in der Stelle enthalten ſein. Allein gegen dieſe neuere Deutung, als deren theilweiſe Vorgänger im Alterthum Philo und Joſephus aufgeführt werden können, ſprechen verſchiedne Gründe, vor allem der eigenthümliche Zeitpunkt des Ausſpruches. Als ſtrafende Lebens- verkürzungs-Sentenz würde derſelbe entweder unmittelbar vor der Fluth, oder auch gleich nach derſelben am Platze geweſen ſein, vorausgeſetzt daß wirklich alsbald nach der Fluth 120 Jahre Lebens- zeit als menſchliche Altersgrenze feſtgeſetzt worden wäre. Allein abgeſehen davon, daß eine ſo weit gehende Herabſetzung ja erſt reichlich ein Jahrtauſend nach der Fluth in Kraft trat, fällt auch der Ausſpruch laut 1 Moſ 5, 32 (wo Noahs Alter um den Zeit- punkt ſeines Ergehens auf erſt 500 Jahre beſtimmt wird, während die Sintfluth erſt in deſſen 600. Jahre ſich ereignete) ungefähr ein Jahrhundert vor den Eintritt des Fluthgerichts. Deßhalb bleibt — wie auch immer die ſchwierige erſte Hälfte des Verſes zu er- klären ſein möge, ob von einem „Richten‟, oder „Herrſchen‟, oder „Wohnen‟ des göttlichen Geiſtes im Menſchen — für die Schluß- worte immerhin die von Luther nach dem Vorgange des chaldäiſchen Paraphraſen und andrer alter Ueberſetzer erwählte Deutung die beſſer geſicherte: „Jch will ihnen noch geben 120 Jahre‟, bis zur Fluth nemlich. Das Wort ſcheint eher Ankündigung einer letzten Gnadenfriſt zu ſein, als degradirender Richterſpruch. 1) Wäre es aber auch im letzteren Sinne zu faſſen: man bedürſte ſeiner nicht einmal zur Feſtſtellung des heilsgeſchichtlichen Geſetzes eines lang- ſamen Sichverminderns der menſchlichen Lebensjahre in Folge der zunehmenden Corruption; die obige Zahlenzuſammenſtellung in Ver- bindung mit der Klage des gealterten Jakob ergibt einen voll- ſtändig ausreichenden Schriftbeweis für deſſen thatſächliches Beſtehen. 1) Siehe namentlich Delitzſch z. d. St., dem Keil, J. P. Lange, Tiele, Bibl. Chronologie, 1839), A. Köhler (Bibl. Geſchichte I, 56 f.), über- haupt die meiſten poſitiven Exegeten neuerer Zeit zuſtimmen; vgl. jedoch auch Roſenmüller z. d. St.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/87>, abgerufen am 21.11.2024.