Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.den Erzähler, ohne seine Erklärung abzuwarten, ob er fortfahren wolle. Mit furchtsamer Neugier richteten sich Aller Augen auf ihn, als er endlich seinen Platz einnahm. Gruppenweise rückten gleich Anfangs die Mädchen die Stühle enger zusammen; eben so die Matronen unter einander. Es ward neue Stille. Das heutige Becker'sche Gut vor der Stadt gehörte ehemals, wie Sie wissen, einer freiherrlichen Familie von Roren, erzählte Waldrich, die es aber schon seit hundert Jahren nicht mehr bewohnte, sondern in Pacht gab, bis es vor ungefähr zwanzig Jahren in den Kriegsunruhen an den verstorbenen Herrn Hofrath Becker kaufsweise kam. Der letzte Baron, welcher dieses Gut, zu dem noch ein großer Theil unserer Stadtwaldungen gehörte, mit seiner Familie zuweilen selbst bewohnte, war ein ungeheurer Verschwender. Er zog freilich nur hierher, wenn er nach seinem Aufwand, den er zu Venedig oder Paris getrieben, wieder Kräfte sammeln wollte. Allein selbst seine ökonomischen Erholungszeiten auf dem prächtigen Edelsitze waren meistens nur Fortsetzungen der gewohnten Lustbarkeiten in verjüngtem Maßstabe. Noch jetzt sehen wir da die Spuren der alten Größe und Pracht an den weitläufigen Ruinen des ehemaligen Schlosses und der Nebengebäude, die schon vor siebenzig Jahren ein Raub der Flammen geworden sind, und an deren Seite sich jetzt das schöne, bürgerlich bescheidene Landhaus erhebt, welches der Hofrath Becker zu seiner Zeit aufführen den Erzähler, ohne seine Erklärung abzuwarten, ob er fortfahren wolle. Mit furchtsamer Neugier richteten sich Aller Augen auf ihn, als er endlich seinen Platz einnahm. Gruppenweise rückten gleich Anfangs die Mädchen die Stühle enger zusammen; eben so die Matronen unter einander. Es ward neue Stille. Das heutige Becker'sche Gut vor der Stadt gehörte ehemals, wie Sie wissen, einer freiherrlichen Familie von Roren, erzählte Waldrich, die es aber schon seit hundert Jahren nicht mehr bewohnte, sondern in Pacht gab, bis es vor ungefähr zwanzig Jahren in den Kriegsunruhen an den verstorbenen Herrn Hofrath Becker kaufsweise kam. Der letzte Baron, welcher dieses Gut, zu dem noch ein großer Theil unserer Stadtwaldungen gehörte, mit seiner Familie zuweilen selbst bewohnte, war ein ungeheurer Verschwender. Er zog freilich nur hierher, wenn er nach seinem Aufwand, den er zu Venedig oder Paris getrieben, wieder Kräfte sammeln wollte. Allein selbst seine ökonomischen Erholungszeiten auf dem prächtigen Edelsitze waren meistens nur Fortsetzungen der gewohnten Lustbarkeiten in verjüngtem Maßstabe. Noch jetzt sehen wir da die Spuren der alten Größe und Pracht an den weitläufigen Ruinen des ehemaligen Schlosses und der Nebengebäude, die schon vor siebenzig Jahren ein Raub der Flammen geworden sind, und an deren Seite sich jetzt das schöne, bürgerlich bescheidene Landhaus erhebt, welches der Hofrath Becker zu seiner Zeit aufführen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="10"> <p><pb facs="#f0078"/> den Erzähler, ohne seine Erklärung abzuwarten, ob er fortfahren wolle. Mit furchtsamer Neugier richteten sich Aller Augen auf ihn, als er endlich seinen Platz einnahm. Gruppenweise rückten gleich Anfangs die Mädchen die Stühle enger zusammen; eben so die Matronen unter einander. Es ward neue Stille.</p><lb/> <p>Das heutige Becker'sche Gut vor der Stadt gehörte ehemals, wie Sie wissen, einer freiherrlichen Familie von Roren, erzählte Waldrich, die es aber schon seit hundert Jahren nicht mehr bewohnte, sondern in Pacht gab, bis es vor ungefähr zwanzig Jahren in den Kriegsunruhen an den verstorbenen Herrn Hofrath Becker kaufsweise kam. Der letzte Baron, welcher dieses Gut, zu dem noch ein großer Theil unserer Stadtwaldungen gehörte, mit seiner Familie zuweilen selbst bewohnte, war ein ungeheurer Verschwender. Er zog freilich nur hierher, wenn er nach seinem Aufwand, den er zu Venedig oder Paris getrieben, wieder Kräfte sammeln wollte. Allein selbst seine ökonomischen Erholungszeiten auf dem prächtigen Edelsitze waren meistens nur Fortsetzungen der gewohnten Lustbarkeiten in verjüngtem Maßstabe. Noch jetzt sehen wir da die Spuren der alten Größe und Pracht an den weitläufigen Ruinen des ehemaligen Schlosses und der Nebengebäude, die schon vor siebenzig Jahren ein Raub der Flammen geworden sind, und an deren Seite sich jetzt das schöne, bürgerlich bescheidene Landhaus erhebt, welches der Hofrath Becker zu seiner Zeit aufführen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0078]
den Erzähler, ohne seine Erklärung abzuwarten, ob er fortfahren wolle. Mit furchtsamer Neugier richteten sich Aller Augen auf ihn, als er endlich seinen Platz einnahm. Gruppenweise rückten gleich Anfangs die Mädchen die Stühle enger zusammen; eben so die Matronen unter einander. Es ward neue Stille.
Das heutige Becker'sche Gut vor der Stadt gehörte ehemals, wie Sie wissen, einer freiherrlichen Familie von Roren, erzählte Waldrich, die es aber schon seit hundert Jahren nicht mehr bewohnte, sondern in Pacht gab, bis es vor ungefähr zwanzig Jahren in den Kriegsunruhen an den verstorbenen Herrn Hofrath Becker kaufsweise kam. Der letzte Baron, welcher dieses Gut, zu dem noch ein großer Theil unserer Stadtwaldungen gehörte, mit seiner Familie zuweilen selbst bewohnte, war ein ungeheurer Verschwender. Er zog freilich nur hierher, wenn er nach seinem Aufwand, den er zu Venedig oder Paris getrieben, wieder Kräfte sammeln wollte. Allein selbst seine ökonomischen Erholungszeiten auf dem prächtigen Edelsitze waren meistens nur Fortsetzungen der gewohnten Lustbarkeiten in verjüngtem Maßstabe. Noch jetzt sehen wir da die Spuren der alten Größe und Pracht an den weitläufigen Ruinen des ehemaligen Schlosses und der Nebengebäude, die schon vor siebenzig Jahren ein Raub der Flammen geworden sind, und an deren Seite sich jetzt das schöne, bürgerlich bescheidene Landhaus erhebt, welches der Hofrath Becker zu seiner Zeit aufführen
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