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Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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abergläubige Einbildung Vorwürfe und ging zum Schränkchen, eine kleine Herzstärkung gegen seine Schwäche zu nehmen, ein Gläschen Madera, von des Grafen Geschenken. Zu seiner Verwunderung fehlte die Flasche; noch mehr staunte er, als er, in andern Schränken nachsuchend, Eins ums Andere Alles fehlen sah, was er oder seine Tochter jemals durch die Freigebigkeit des Grafen empfangen hatten. Er schüttelte den Kopf.

Ihm ward nicht wohl. Er ahnete Böses. Allein und still schlich er die Treppe hinauf zu Henriettens Kämmerlein, daß im schrecklichsten Fall kein anderer Zeuge vorhanden wäre und er nicht das Gerede der Stadt würde. Leise öffnete er die Thür. Er ging zum Bett der Tochter und hatte doch nicht das Herz, aufzublicken. Und als er endlich die Augen flüchtig dahin richtete -- dunkel ward es ihm vor seinen Sinnen -- da lag sie todt, das schöne Gesicht im Nacken. Betäubt, wie vom Blitzstrahl, stand er da. Mitten in der Betäubung nahm er den blassen Kopf der Verstorbenen und legte denselben in seine natürliche Lage. Ohne zu wissen, was er that, eilte er davon zum Arzte und meldete ihm den jähen Tod seines Kindes. Der Arzt betrachtete die schöne Leiche und schüttelte den Kopf. Meister Vogel, der um Alles in der Welt die Wahrheit nicht verrathen wissen wollte, meinte, Erhitzung auf dem nächtlichen Balle, dann der kalte Windsturm bei der Heimkehr möge die Ursache des

abergläubige Einbildung Vorwürfe und ging zum Schränkchen, eine kleine Herzstärkung gegen seine Schwäche zu nehmen, ein Gläschen Madera, von des Grafen Geschenken. Zu seiner Verwunderung fehlte die Flasche; noch mehr staunte er, als er, in andern Schränken nachsuchend, Eins ums Andere Alles fehlen sah, was er oder seine Tochter jemals durch die Freigebigkeit des Grafen empfangen hatten. Er schüttelte den Kopf.

Ihm ward nicht wohl. Er ahnete Böses. Allein und still schlich er die Treppe hinauf zu Henriettens Kämmerlein, daß im schrecklichsten Fall kein anderer Zeuge vorhanden wäre und er nicht das Gerede der Stadt würde. Leise öffnete er die Thür. Er ging zum Bett der Tochter und hatte doch nicht das Herz, aufzublicken. Und als er endlich die Augen flüchtig dahin richtete — dunkel ward es ihm vor seinen Sinnen — da lag sie todt, das schöne Gesicht im Nacken. Betäubt, wie vom Blitzstrahl, stand er da. Mitten in der Betäubung nahm er den blassen Kopf der Verstorbenen und legte denselben in seine natürliche Lage. Ohne zu wissen, was er that, eilte er davon zum Arzte und meldete ihm den jähen Tod seines Kindes. Der Arzt betrachtete die schöne Leiche und schüttelte den Kopf. Meister Vogel, der um Alles in der Welt die Wahrheit nicht verrathen wissen wollte, meinte, Erhitzung auf dem nächtlichen Balle, dann der kalte Windsturm bei der Heimkehr möge die Ursache des

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T14:15:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T14:15:44Z)

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Zitationshilfe: Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zschokke_gast_1910/97>, abgerufen am 27.04.2024.