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Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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zum Aufbruch. Die Wagen fuhren vor. Altenkreuz führte Henrietten zum Wagen und begleitete sie bis nach Hause. Alles schlief. Leise öffnete sie. Vergebens sträubte sie sich vor dem Hause. Der Graf hieß den Kutscher zurückfahren. Er folgte Henrietten.

Folgenden Morgens schon früh durchlief ein entsetzliches Gerücht die Stadt, man habe die Tochter eines Beamten todt im Bette gefunden, den Hals umgedreht. Man drängte sich zu dem Hause hin; Aerzte und Polizeibeamte eilten dahin. Die schreckliche Wehklage aus dem Trauerhause scholl weit durch den Haufen der hinzugeströmten Neugierigen. Jetzt fiel Mehreren die Begebenheit ein, welche sich schon vor hundert Jahren, ebenfalls in der Adventzeit, zu Herbesheim ereignet hatte. Die Sage vom todten Gaste lebte wieder auf. Todesschrecken kam über alle Familien.

Auch der Meister Vogel hörte davon. Da dachte er mit heimlichem Grausen an Henrietten; doch befremdete ihn ihr langes Schlafen nicht, da sie erst spät vom Balle zurückgekommen war. Aber wenn er des todten Gastes gedachte, wie ihn die Sage schilderte, und dann an den Grafen Altenkreuz dachte -- an ihn, den großen, langen Mann, an sein bleiches Gesicht, an die schwarze Kleidung, in der er immer zu gehen pflegte -- dann ward es ihm doch, als wolle sich sein Haar aufwärts sträuben. Indessen er glaubte an die Sage nicht, weil die ganze Stadt an das Geschwätz nie geglaubt hatte. Er machte sich selbst über seine

zum Aufbruch. Die Wagen fuhren vor. Altenkreuz führte Henrietten zum Wagen und begleitete sie bis nach Hause. Alles schlief. Leise öffnete sie. Vergebens sträubte sie sich vor dem Hause. Der Graf hieß den Kutscher zurückfahren. Er folgte Henrietten.

Folgenden Morgens schon früh durchlief ein entsetzliches Gerücht die Stadt, man habe die Tochter eines Beamten todt im Bette gefunden, den Hals umgedreht. Man drängte sich zu dem Hause hin; Aerzte und Polizeibeamte eilten dahin. Die schreckliche Wehklage aus dem Trauerhause scholl weit durch den Haufen der hinzugeströmten Neugierigen. Jetzt fiel Mehreren die Begebenheit ein, welche sich schon vor hundert Jahren, ebenfalls in der Adventzeit, zu Herbesheim ereignet hatte. Die Sage vom todten Gaste lebte wieder auf. Todesschrecken kam über alle Familien.

Auch der Meister Vogel hörte davon. Da dachte er mit heimlichem Grausen an Henrietten; doch befremdete ihn ihr langes Schlafen nicht, da sie erst spät vom Balle zurückgekommen war. Aber wenn er des todten Gastes gedachte, wie ihn die Sage schilderte, und dann an den Grafen Altenkreuz dachte — an ihn, den großen, langen Mann, an sein bleiches Gesicht, an die schwarze Kleidung, in der er immer zu gehen pflegte — dann ward es ihm doch, als wolle sich sein Haar aufwärts sträuben. Indessen er glaubte an die Sage nicht, weil die ganze Stadt an das Geschwätz nie geglaubt hatte. Er machte sich selbst über seine

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[0096] zum Aufbruch. Die Wagen fuhren vor. Altenkreuz führte Henrietten zum Wagen und begleitete sie bis nach Hause. Alles schlief. Leise öffnete sie. Vergebens sträubte sie sich vor dem Hause. Der Graf hieß den Kutscher zurückfahren. Er folgte Henrietten. Folgenden Morgens schon früh durchlief ein entsetzliches Gerücht die Stadt, man habe die Tochter eines Beamten todt im Bette gefunden, den Hals umgedreht. Man drängte sich zu dem Hause hin; Aerzte und Polizeibeamte eilten dahin. Die schreckliche Wehklage aus dem Trauerhause scholl weit durch den Haufen der hinzugeströmten Neugierigen. Jetzt fiel Mehreren die Begebenheit ein, welche sich schon vor hundert Jahren, ebenfalls in der Adventzeit, zu Herbesheim ereignet hatte. Die Sage vom todten Gaste lebte wieder auf. Todesschrecken kam über alle Familien. Auch der Meister Vogel hörte davon. Da dachte er mit heimlichem Grausen an Henrietten; doch befremdete ihn ihr langes Schlafen nicht, da sie erst spät vom Balle zurückgekommen war. Aber wenn er des todten Gastes gedachte, wie ihn die Sage schilderte, und dann an den Grafen Altenkreuz dachte — an ihn, den großen, langen Mann, an sein bleiches Gesicht, an die schwarze Kleidung, in der er immer zu gehen pflegte — dann ward es ihm doch, als wolle sich sein Haar aufwärts sträuben. Indessen er glaubte an die Sage nicht, weil die ganze Stadt an das Geschwätz nie geglaubt hatte. Er machte sich selbst über seine

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T14:15:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T14:15:44Z)

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Zitationshilfe: Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zschokke_gast_1910/96>, abgerufen am 27.04.2024.