Adler, Emma: Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795. Wien, 1906.Sie betrachtete die Männer mit einer Art Entsetzen, das noch wuchs, wenn der Betreffende liebenswürdig war; sie wachte mit ausserordentlicher Peinlichkeit über ihre Gedanken und es bedurfte eines Nichts, um in ihr das Gefühl zu erwecken, es sei ein Verbrechen. Frau Phlipon hatte durch geschickte Vorwände es ermöglicht, dass sie und Manon nicht an dem gemeinsamen Mittagstisch teilnahmen. Das war eine grosse Erleichterung für das Kind. Auf diese Weise konnte sie dem Burschen völlig aus dem Wege gehen. Denn die Eltern hielten es für klüger, ihn seine Lehrzeit beenden zu lassen, als durch seine plötzliche Entlassung einen Skandal heraufzubeschwören. Das zurückgezogene Leben, das Manon führte, erschien ihr noch immer zu weltlich, um sich würdig für die Kommunion vorzubereiten. Diese grosse Angelegenheit, die von solchem Einfluss auf das ewige Seelenheil sein soll, beschäftigte alle ihre Gedanken. Sie fand Geschmack am Gottesdienst, die Feierlichkeit übte einen starken Eindruck auf ihre Sinne aus. Sie las eifrig die Erklärung der kirchlichen Gebräuche und ihre symbolische Bedeutung. Sie las das Leben der Heiligen und beneidete sie um ihre Märtyrerkrone, die sie sich zu den Zeiten des Heidentums durch ihren Glaubenseifer errungen hatten. Eines Abends warf sie sich vor ihren Eltern auf die Knie und beschwor sie zu gestatten, dass sie für eine Zeit ins Kloster gehen dürfe. Die gute Mutter war gerührt, sie hätte gezittert, wenn sie nicht gewusst hätte, dass ihrer Tochter nichts geschehen sein konnte, da sie sie in der letzten Zeit keine Minute verlassen hatte. Man befragte sie um die Gründe, die ihr diesen Plan wünschenswert erscheinen liessen, und erinnerte sie daran, dass man ihr bisher nichts Vernünftiges abgeschlagen habe. Sie sagte bloss, es geschehe aus dem Wunsch heraus, ihre erste Kommunion mit aller schicklichen Sammlung abzulegen. Der Vater lobte ihren frommen Eifer und beriet sich mit der Mutter über das zu wählende Kloster. Kurze Zeit darnach, am 7. Mai 1765, trat Manon Sie betrachtete die Männer mit einer Art Entsetzen, das noch wuchs, wenn der Betreffende liebenswürdig war; sie wachte mit ausserordentlicher Peinlichkeit über ihre Gedanken und es bedurfte eines Nichts, um in ihr das Gefühl zu erwecken, es sei ein Verbrechen. Frau Phlipon hatte durch geschickte Vorwände es ermöglicht, dass sie und Manon nicht an dem gemeinsamen Mittagstisch teilnahmen. Das war eine grosse Erleichterung für das Kind. Auf diese Weise konnte sie dem Burschen völlig aus dem Wege gehen. Denn die Eltern hielten es für klüger, ihn seine Lehrzeit beenden zu lassen, als durch seine plötzliche Entlassung einen Skandal heraufzubeschwören. Das zurückgezogene Leben, das Manon führte, erschien ihr noch immer zu weltlich, um sich würdig für die Kommunion vorzubereiten. Diese grosse Angelegenheit, die von solchem Einfluss auf das ewige Seelenheil sein soll, beschäftigte alle ihre Gedanken. Sie fand Geschmack am Gottesdienst, die Feierlichkeit übte einen starken Eindruck auf ihre Sinne aus. Sie las eifrig die Erklärung der kirchlichen Gebräuche und ihre symbolische Bedeutung. Sie las das Leben der Heiligen und beneidete sie um ihre Märtyrerkrone, die sie sich zu den Zeiten des Heidentums durch ihren Glaubenseifer errungen hatten. Eines Abends warf sie sich vor ihren Eltern auf die Knie und beschwor sie zu gestatten, dass sie für eine Zeit ins Kloster gehen dürfe. Die gute Mutter war gerührt, sie hätte gezittert, wenn sie nicht gewusst hätte, dass ihrer Tochter nichts geschehen sein konnte, da sie sie in der letzten Zeit keine Minute verlassen hatte. Man befragte sie um die Gründe, die ihr diesen Plan wünschenswert erscheinen liessen, und erinnerte sie daran, dass man ihr bisher nichts Vernünftiges abgeschlagen habe. Sie sagte bloss, es geschehe aus dem Wunsch heraus, ihre erste Kommunion mit aller schicklichen Sammlung abzulegen. Der Vater lobte ihren frommen Eifer und beriet sich mit der Mutter über das zu wählende Kloster. Kurze Zeit darnach, am 7. Mai 1765, trat Manon <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0085" n="66"/> Sie betrachtete die Männer mit einer Art Entsetzen, das noch wuchs, wenn der Betreffende liebenswürdig war; sie wachte mit ausserordentlicher Peinlichkeit über ihre Gedanken und es bedurfte eines Nichts, um in ihr das Gefühl zu erwecken, es sei ein Verbrechen.</p> <p>Frau Phlipon hatte durch geschickte Vorwände es ermöglicht, dass sie und Manon nicht an dem gemeinsamen Mittagstisch teilnahmen. Das war eine grosse Erleichterung für das Kind. Auf diese Weise konnte sie dem Burschen völlig aus dem Wege gehen. 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Eines Abends warf sie sich vor ihren Eltern auf die Knie und beschwor sie zu gestatten, dass sie für eine Zeit ins Kloster gehen dürfe.</p> <p>Die gute Mutter war gerührt, sie hätte gezittert, wenn sie nicht gewusst hätte, dass ihrer Tochter nichts geschehen sein konnte, da sie sie in der letzten Zeit keine Minute verlassen hatte. Man befragte sie um die Gründe, die ihr diesen Plan wünschenswert erscheinen liessen, und erinnerte sie daran, dass man ihr bisher nichts Vernünftiges abgeschlagen habe. Sie sagte bloss, es geschehe aus dem Wunsch heraus, ihre erste Kommunion mit aller schicklichen Sammlung abzulegen. Der Vater lobte ihren frommen Eifer und beriet sich mit der Mutter über das zu wählende Kloster. Kurze Zeit darnach, am 7. Mai 1765, trat Manon </p> </div> </body> </text> </TEI> [66/0085]
Sie betrachtete die Männer mit einer Art Entsetzen, das noch wuchs, wenn der Betreffende liebenswürdig war; sie wachte mit ausserordentlicher Peinlichkeit über ihre Gedanken und es bedurfte eines Nichts, um in ihr das Gefühl zu erwecken, es sei ein Verbrechen.
Frau Phlipon hatte durch geschickte Vorwände es ermöglicht, dass sie und Manon nicht an dem gemeinsamen Mittagstisch teilnahmen. Das war eine grosse Erleichterung für das Kind. Auf diese Weise konnte sie dem Burschen völlig aus dem Wege gehen. Denn die Eltern hielten es für klüger, ihn seine Lehrzeit beenden zu lassen, als durch seine plötzliche Entlassung einen Skandal heraufzubeschwören.
Das zurückgezogene Leben, das Manon führte, erschien ihr noch immer zu weltlich, um sich würdig für die Kommunion vorzubereiten. Diese grosse Angelegenheit, die von solchem Einfluss auf das ewige Seelenheil sein soll, beschäftigte alle ihre Gedanken. Sie fand Geschmack am Gottesdienst, die Feierlichkeit übte einen starken Eindruck auf ihre Sinne aus. Sie las eifrig die Erklärung der kirchlichen Gebräuche und ihre symbolische Bedeutung. Sie las das Leben der Heiligen und beneidete sie um ihre Märtyrerkrone, die sie sich zu den Zeiten des Heidentums durch ihren Glaubenseifer errungen hatten. Eines Abends warf sie sich vor ihren Eltern auf die Knie und beschwor sie zu gestatten, dass sie für eine Zeit ins Kloster gehen dürfe.
Die gute Mutter war gerührt, sie hätte gezittert, wenn sie nicht gewusst hätte, dass ihrer Tochter nichts geschehen sein konnte, da sie sie in der letzten Zeit keine Minute verlassen hatte. Man befragte sie um die Gründe, die ihr diesen Plan wünschenswert erscheinen liessen, und erinnerte sie daran, dass man ihr bisher nichts Vernünftiges abgeschlagen habe. Sie sagte bloss, es geschehe aus dem Wunsch heraus, ihre erste Kommunion mit aller schicklichen Sammlung abzulegen. Der Vater lobte ihren frommen Eifer und beriet sich mit der Mutter über das zu wählende Kloster. Kurze Zeit darnach, am 7. Mai 1765, trat Manon
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