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Alexis, Willibald: Iblou. In: Ders.: Gesammelte Novellen. Erster Band. Berlin, 1830, S. 1–100.

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vielleicht noch mit der Furcht vor dem, was nicht ist;
der Kluge amüsirt sich noch in der Scheidestunde, wenn
er an die verschiedenen Rollen denkt, die er im Leben
gut durchgeführt hat; er kann auch noch über die nich-
tige Furcht des Andern lachen; er weiß, daß nichts
mehr kommt."

Der Jäger schauderte wie unwillkührlich: "Am
Rande der kalten Gruft? Lachen, nein. Da ist besser
schnell ein kühner Fingerdruck, oder, wem's lieber ist,
ein kühles Bad, um durch den verdammten Paß durch-
zukommen. Es bleibt nur eins wahr, daß der Augen-
blick unser ist. Aufschieben ist die größte Thorheit.
Fassen, wo wir finden, denn Keiner weiß, ob er zum
zweitenmale finden wird."

Der Maire schien den Worten nachzudenken. Er
richtete sich etwas auf: "Der Grundsatz würde uns so
zum Thiere führen. Dem Genuß, so gedacht, folgt die
Sättigung, und in der Sättigung ist nie Genuß. Es
giebt aber noch einen höhern im Leben, den nicht Alle
erringen, der ist: sich immer zu amüsiren. Und das
größte Amüsement gewährt, wenn wir unabläßlich ein
Ziel verfolgen, sey es nun Gelderwerb, Ruhm oder
Macht. Wenn nur nicht der ganze Verstand an ei-
nem
haften bleibt, liegt doch am Ende in diesen drei
Dingen das, was wir Glück zu nennen pflegen." --

"Wie!" rief ich aus, "es gäbe kein höheres Glück?"

vielleicht noch mit der Furcht vor dem, was nicht iſt;
der Kluge amüſirt ſich noch in der Scheideſtunde, wenn
er an die verſchiedenen Rollen denkt, die er im Leben
gut durchgeführt hat; er kann auch noch über die nich-
tige Furcht des Andern lachen; er weiß, daß nichts
mehr kommt.“

Der Jäger ſchauderte wie unwillkührlich: „Am
Rande der kalten Gruft? Lachen, nein. Da iſt beſſer
ſchnell ein kühner Fingerdruck, oder, wem’s lieber iſt,
ein kühles Bad, um durch den verdammten Paß durch-
zukommen. Es bleibt nur eins wahr, daß der Augen-
blick unſer iſt. Aufſchieben iſt die größte Thorheit.
Faſſen, wo wir finden, denn Keiner weiß, ob er zum
zweitenmale finden wird.“

Der Maire ſchien den Worten nachzudenken. Er
richtete ſich etwas auf: „Der Grundſatz würde uns ſo
zum Thiere führen. Dem Genuß, ſo gedacht, folgt die
Sättigung, und in der Sättigung iſt nie Genuß. Es
giebt aber noch einen höhern im Leben, den nicht Alle
erringen, der iſt: ſich immer zu amüſiren. Und das
größte Amüſement gewährt, wenn wir unabläßlich ein
Ziel verfolgen, ſey es nun Gelderwerb, Ruhm oder
Macht. Wenn nur nicht der ganze Verſtand an ei-
nem
haften bleibt, liegt doch am Ende in dieſen drei
Dingen das, was wir Glück zu nennen pflegen.“ —

„Wie!“ rief ich aus, „es gäbe kein höheres Glück?“

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Iblou. In: Ders.: Gesammelte Novellen. Erster Band. Berlin, 1830, S. 1–100, hier S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_iblou_1830/68>, abgerufen am 26.04.2024.