Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

recht besieht, kommen wir auch noch zum Schluß, daß
die Natur nicht mehr ist als eine alte Vettel, Mor¬
gens und Abends geschminkt. Und weil sie sich bei
Tag nicht besehen lassen will, sticht und brennt die
Sonne."

"Nur daß die Schminke immer frisch bleibt, heut
wie am Tag der Schöpfung."

"Wer sagt Dir das! Es hat keiner gelebt, als
Gott Vater auf den Einfall kam, diesen Spielball
Erde zu erschaffen, und in das Uhrwerk Universum
zu schleudern, damit er zu Ehre des Höchsten seinen
Parademarsch um die Sonne kreist."

Der Ankömmling zog mechanisch die Gräser
und Kräuter, die seine Hand ablangte, mit der
Wurzel aus.

"Suchst Du nach der Alraunwurzel?"

"Könnt ich sie finden! Den aller tiefsten Schmerz
aus der Tiefe herausziehen, vielleicht würden uns
die andern Schmerzen dann wie Bagatellen er¬
scheinen."

"Der tiefste Schmerz müßte doch tödten. Darum
verbarg ihn die Natur. Was wühlen wir denn nun
tiefer und tiefer -- "

"Und spielen nicht lieber am Bach mit Vergi߬
meinnicht und Veilchen! Nicht wahr das ist viel
gescheiter. Wollen wir nicht etwa nach Halberstadt
zum Vater Gleim, im Freundschaftstempel uns ge¬
genseitig anräuchern und ansingen, Du mein Ana¬
kreon, ich Dein Tibull."

recht beſieht, kommen wir auch noch zum Schluß, daß
die Natur nicht mehr iſt als eine alte Vettel, Mor¬
gens und Abends geſchminkt. Und weil ſie ſich bei
Tag nicht beſehen laſſen will, ſticht und brennt die
Sonne.“

„Nur daß die Schminke immer friſch bleibt, heut
wie am Tag der Schöpfung.“

„Wer ſagt Dir das! Es hat keiner gelebt, als
Gott Vater auf den Einfall kam, dieſen Spielball
Erde zu erſchaffen, und in das Uhrwerk Univerſum
zu ſchleudern, damit er zu Ehre des Höchſten ſeinen
Parademarſch um die Sonne kreiſt.“

Der Ankömmling zog mechaniſch die Gräſer
und Kräuter, die ſeine Hand ablangte, mit der
Wurzel aus.

„Suchſt Du nach der Alraunwurzel?“

„Könnt ich ſie finden! Den aller tiefſten Schmerz
aus der Tiefe herausziehen, vielleicht würden uns
die andern Schmerzen dann wie Bagatellen er¬
ſcheinen.“

„Der tiefſte Schmerz müßte doch tödten. Darum
verbarg ihn die Natur. Was wühlen wir denn nun
tiefer und tiefer — “

„Und ſpielen nicht lieber am Bach mit Vergi߬
meinnicht und Veilchen! Nicht wahr das iſt viel
geſcheiter. Wollen wir nicht etwa nach Halberſtadt
zum Vater Gleim, im Freundſchaftstempel uns ge¬
genſeitig anräuchern und anſingen, Du mein Ana¬
kreon, ich Dein Tibull.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="165"/>
recht be&#x017F;ieht, kommen wir auch noch zum Schluß, daß<lb/>
die Natur nicht mehr i&#x017F;t als eine alte Vettel, Mor¬<lb/>
gens und Abends ge&#x017F;chminkt. Und weil &#x017F;ie &#x017F;ich bei<lb/>
Tag nicht be&#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en will, &#x017F;ticht und brennt die<lb/>
Sonne.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nur daß die Schminke immer fri&#x017F;ch bleibt, heut<lb/>
wie am Tag der Schöpfung.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wer &#x017F;agt Dir das! Es hat keiner gelebt, als<lb/>
Gott Vater auf den Einfall kam, die&#x017F;en Spielball<lb/>
Erde zu er&#x017F;chaffen, und in das Uhrwerk Univer&#x017F;um<lb/>
zu &#x017F;chleudern, damit er zu Ehre des Höch&#x017F;ten &#x017F;einen<lb/>
Parademar&#x017F;ch um die Sonne krei&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Der Ankömmling zog mechani&#x017F;ch die Grä&#x017F;er<lb/>
und Kräuter, die &#x017F;eine Hand ablangte, mit der<lb/>
Wurzel aus.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Such&#x017F;t Du nach der Alraunwurzel?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Könnt ich &#x017F;ie finden! Den aller tief&#x017F;ten Schmerz<lb/>
aus der Tiefe herausziehen, vielleicht würden uns<lb/>
die andern Schmerzen dann wie Bagatellen er¬<lb/>
&#x017F;cheinen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Der tief&#x017F;te Schmerz müßte doch tödten. Darum<lb/>
verbarg ihn die Natur. Was wühlen wir denn nun<lb/>
tiefer und tiefer &#x2014; &#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und &#x017F;pielen nicht lieber am Bach mit Vergi߬<lb/>
meinnicht und Veilchen! Nicht wahr das i&#x017F;t viel<lb/>
ge&#x017F;cheiter. Wollen wir nicht etwa nach Halber&#x017F;tadt<lb/>
zum Vater Gleim, im Freund&#x017F;chaftstempel uns ge¬<lb/>
gen&#x017F;eitig anräuchern und an&#x017F;ingen, Du mein Ana¬<lb/>
kreon, ich Dein Tibull.&#x201C;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0179] recht beſieht, kommen wir auch noch zum Schluß, daß die Natur nicht mehr iſt als eine alte Vettel, Mor¬ gens und Abends geſchminkt. Und weil ſie ſich bei Tag nicht beſehen laſſen will, ſticht und brennt die Sonne.“ „Nur daß die Schminke immer friſch bleibt, heut wie am Tag der Schöpfung.“ „Wer ſagt Dir das! Es hat keiner gelebt, als Gott Vater auf den Einfall kam, dieſen Spielball Erde zu erſchaffen, und in das Uhrwerk Univerſum zu ſchleudern, damit er zu Ehre des Höchſten ſeinen Parademarſch um die Sonne kreiſt.“ Der Ankömmling zog mechaniſch die Gräſer und Kräuter, die ſeine Hand ablangte, mit der Wurzel aus. „Suchſt Du nach der Alraunwurzel?“ „Könnt ich ſie finden! Den aller tiefſten Schmerz aus der Tiefe herausziehen, vielleicht würden uns die andern Schmerzen dann wie Bagatellen er¬ ſcheinen.“ „Der tiefſte Schmerz müßte doch tödten. Darum verbarg ihn die Natur. Was wühlen wir denn nun tiefer und tiefer — “ „Und ſpielen nicht lieber am Bach mit Vergi߬ meinnicht und Veilchen! Nicht wahr das iſt viel geſcheiter. Wollen wir nicht etwa nach Halberſtadt zum Vater Gleim, im Freundſchaftstempel uns ge¬ genſeitig anräuchern und anſingen, Du mein Ana¬ kreon, ich Dein Tibull.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/179
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/179>, abgerufen am 24.11.2024.