gemeinen, rohen, selbstischen Creaturen, die aus Hab¬ sucht Einer auf den Andern stürzen, sich zerreißen, verzehren möchten. Sie kratzen sich die Augen aus, damit der Bruder nicht schärfer sieht, sie verschlingen die Vorrathskammern, die ihren eignen Winter sichern sollten, damit die Mitmenschen nicht im Vollen leben. Täuscht Sie der Popanz Humanität, den die After¬ weisen an ihren papiernen Gesetzeshimmel malen, und Jeder stellt dem Andern ein Bein, und Gift auf der Zunge, Erbschleichern, Betrug, Raub, Bruder¬ mord lauert unter der Lämmermaske dieser Alltags¬ gesichter."
"Der Popanz täuscht mich nicht, Prinzessin, sagte Wandel. "Mich täuscht überhaupt nichts. Ja, könnten wir sie alle wieder als eine Horde Leibeigene ein¬ pferchen in die dumpfen Ställe alter Gewohnheiten, -- Schade nur, daß es auch eine Illusion ist, und wenn -- die Priester würden sich untereinander auch auffressen."
"Hoffen Sie noch auf die Vernunft", fuhr die Fürstin fort, die ihn wieder nur halb gehört. "Die Göttin, die sie in Frankreich auf die Altäre hoben, hat doch zu aller Welt geschrieen: ,seht, wie albern und ohnmächtig ich bin!' Oder hoffen Sie's mit dem Geist, der wie ein Blitz aus dem Himmel in das Gewürm wetterleuchtet. Wie oft fuhr er nieder in diesem Deutschland, in Philosophen und Gesetzgeber, in verstockte Mönche, Stubengelehrte und Fürsten auf dem Thron. Was hat er gezündet, gewärmt und gefruchtet!
IV. 7
gemeinen, rohen, ſelbſtiſchen Creaturen, die aus Hab¬ ſucht Einer auf den Andern ſtürzen, ſich zerreißen, verzehren möchten. Sie kratzen ſich die Augen aus, damit der Bruder nicht ſchärfer ſieht, ſie verſchlingen die Vorrathskammern, die ihren eignen Winter ſichern ſollten, damit die Mitmenſchen nicht im Vollen leben. Täuſcht Sie der Popanz Humanität, den die After¬ weiſen an ihren papiernen Geſetzeshimmel malen, und Jeder ſtellt dem Andern ein Bein, und Gift auf der Zunge, Erbſchleichern, Betrug, Raub, Bruder¬ mord lauert unter der Lämmermaske dieſer Alltags¬ geſichter.“
„Der Popanz täuſcht mich nicht, Prinzeſſin, ſagte Wandel. „Mich täuſcht überhaupt nichts. Ja, könnten wir ſie alle wieder als eine Horde Leibeigene ein¬ pferchen in die dumpfen Ställe alter Gewohnheiten, — Schade nur, daß es auch eine Illuſion iſt, und wenn — die Prieſter würden ſich untereinander auch auffreſſen.“
„Hoffen Sie noch auf die Vernunft“, fuhr die Fürſtin fort, die ihn wieder nur halb gehört. „Die Göttin, die ſie in Frankreich auf die Altäre hoben, hat doch zu aller Welt geſchrieen: ‚ſeht, wie albern und ohnmächtig ich bin!‘ Oder hoffen Sie's mit dem Geiſt, der wie ein Blitz aus dem Himmel in das Gewürm wetterleuchtet. Wie oft fuhr er nieder in dieſem Deutſchland, in Philoſophen und Geſetzgeber, in verſtockte Mönche, Stubengelehrte und Fürſten auf dem Thron. Was hat er gezündet, gewärmt und gefruchtet!
IV. 7
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0107"n="97"/>
gemeinen, rohen, ſelbſtiſchen Creaturen, die aus Hab¬<lb/>ſucht Einer auf den Andern ſtürzen, ſich zerreißen,<lb/>
verzehren möchten. Sie kratzen ſich die Augen aus,<lb/>
damit der Bruder nicht ſchärfer ſieht, ſie verſchlingen<lb/>
die Vorrathskammern, die ihren eignen Winter ſichern<lb/>ſollten, damit die Mitmenſchen nicht im Vollen leben.<lb/>
Täuſcht Sie der Popanz Humanität, den die After¬<lb/>
weiſen an ihren papiernen Geſetzeshimmel malen,<lb/>
und Jeder ſtellt dem Andern ein Bein, und Gift auf<lb/>
der Zunge, Erbſchleichern, Betrug, Raub, Bruder¬<lb/>
mord lauert unter der Lämmermaske dieſer Alltags¬<lb/>
geſichter.“</p><lb/><p>„Der Popanz täuſcht mich nicht, Prinzeſſin, ſagte<lb/>
Wandel. „Mich täuſcht überhaupt nichts. Ja, könnten<lb/>
wir ſie alle wieder als eine Horde Leibeigene ein¬<lb/>
pferchen in die dumpfen Ställe alter Gewohnheiten,<lb/>— Schade nur, daß es auch eine Illuſion iſt, und<lb/>
wenn — die Prieſter würden ſich untereinander auch<lb/>
auffreſſen.“</p><lb/><p>„Hoffen Sie noch auf die Vernunft“, fuhr die<lb/>
Fürſtin fort, die ihn wieder nur halb gehört. „Die<lb/>
Göttin, die ſie in Frankreich auf die Altäre hoben,<lb/>
hat doch zu aller Welt geſchrieen: ‚ſeht, wie albern<lb/>
und ohnmächtig ich bin!‘ Oder hoffen Sie's mit dem<lb/>
Geiſt, der wie ein Blitz aus dem Himmel in das<lb/>
Gewürm wetterleuchtet. Wie oft fuhr er nieder in<lb/>
dieſem Deutſchland, in Philoſophen und Geſetzgeber, in<lb/>
verſtockte Mönche, Stubengelehrte und Fürſten auf dem<lb/>
Thron. Was hat er gezündet, gewärmt und gefruchtet!<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">IV</hi>. 7<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[97/0107]
gemeinen, rohen, ſelbſtiſchen Creaturen, die aus Hab¬
ſucht Einer auf den Andern ſtürzen, ſich zerreißen,
verzehren möchten. Sie kratzen ſich die Augen aus,
damit der Bruder nicht ſchärfer ſieht, ſie verſchlingen
die Vorrathskammern, die ihren eignen Winter ſichern
ſollten, damit die Mitmenſchen nicht im Vollen leben.
Täuſcht Sie der Popanz Humanität, den die After¬
weiſen an ihren papiernen Geſetzeshimmel malen,
und Jeder ſtellt dem Andern ein Bein, und Gift auf
der Zunge, Erbſchleichern, Betrug, Raub, Bruder¬
mord lauert unter der Lämmermaske dieſer Alltags¬
geſichter.“
„Der Popanz täuſcht mich nicht, Prinzeſſin, ſagte
Wandel. „Mich täuſcht überhaupt nichts. Ja, könnten
wir ſie alle wieder als eine Horde Leibeigene ein¬
pferchen in die dumpfen Ställe alter Gewohnheiten,
— Schade nur, daß es auch eine Illuſion iſt, und
wenn — die Prieſter würden ſich untereinander auch
auffreſſen.“
„Hoffen Sie noch auf die Vernunft“, fuhr die
Fürſtin fort, die ihn wieder nur halb gehört. „Die
Göttin, die ſie in Frankreich auf die Altäre hoben,
hat doch zu aller Welt geſchrieen: ‚ſeht, wie albern
und ohnmächtig ich bin!‘ Oder hoffen Sie's mit dem
Geiſt, der wie ein Blitz aus dem Himmel in das
Gewürm wetterleuchtet. Wie oft fuhr er nieder in
dieſem Deutſchland, in Philoſophen und Geſetzgeber, in
verſtockte Mönche, Stubengelehrte und Fürſten auf dem
Thron. Was hat er gezündet, gewärmt und gefruchtet!
IV. 7
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/107>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.