mahnungen war von den Lippen der Mutter geflossen, und immer besann sie sich, daß sie doch noch etwas Anderes, etwas Neues zu sagen hatte.
Jetzt nahte die Scheidestunde. Adelheid konnte nicht zum Abendessen bleiben, der Wagen der Hof¬ dame, der sie nach dem Palais bringen sollte, war angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigsten mit ihr gesprochen. Jetzt legte er seine Arme um ihre Schultern: "Du, mein geliebtes Kind, mein Bijou! Nun ich Dich verlieren soll, begreife ich erst, was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬ sen und Du mehr mir. Ich hätte Dich besser ver¬ standen, und Manches wäre besser -- vielleicht! Aber es hat nicht sein sollen. Andre sagen, der Mensch gehöre zuerst sich selbst und seiner Familie, und dann erst seiner Pflicht gegen den Staat. Ich verstand es anders. Gott wird wissen, wer Recht hat. Wenn Alles in der Welt wechselt, so wechseln wohl auch die Ansichten über die Pflichten. Aber ich glaube doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht sei, der thut Recht, und der himmlische Vater wird ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht thut. --"
Adelheid an seinem Halse wollte nichts davon wissen, daß ihr Vater gegen sie Unrecht gethan; sie habe sich anzuklagen, daß sie nicht alle Pflichten eines Kindes gegen ihn erfüllt.
17*
mahnungen war von den Lippen der Mutter gefloſſen, und immer beſann ſie ſich, daß ſie doch noch etwas Anderes, etwas Neues zu ſagen hatte.
Jetzt nahte die Scheideſtunde. Adelheid konnte nicht zum Abendeſſen bleiben, der Wagen der Hof¬ dame, der ſie nach dem Palais bringen ſollte, war angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigſten mit ihr geſprochen. Jetzt legte er ſeine Arme um ihre Schultern: „Du, mein geliebtes Kind, mein Bijou! Nun ich Dich verlieren ſoll, begreife ich erſt, was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬ ſen und Du mehr mir. Ich hätte Dich beſſer ver¬ ſtanden, und Manches wäre beſſer — vielleicht! Aber es hat nicht ſein ſollen. Andre ſagen, der Menſch gehöre zuerſt ſich ſelbſt und ſeiner Familie, und dann erſt ſeiner Pflicht gegen den Staat. Ich verſtand es anders. Gott wird wiſſen, wer Recht hat. Wenn Alles in der Welt wechſelt, ſo wechſeln wohl auch die Anſichten über die Pflichten. Aber ich glaube doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht ſei, der thut Recht, und der himmliſche Vater wird ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht thut. —“
Adelheid an ſeinem Halſe wollte nichts davon wiſſen, daß ihr Vater gegen ſie Unrecht gethan; ſie habe ſich anzuklagen, daß ſie nicht alle Pflichten eines Kindes gegen ihn erfüllt.
17*
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0269"n="259"/>
mahnungen war von den Lippen der Mutter gefloſſen,<lb/>
und immer beſann ſie ſich, daß ſie doch noch etwas<lb/>
Anderes, etwas Neues zu ſagen hatte.</p><lb/><p>Jetzt nahte die Scheideſtunde. Adelheid konnte<lb/>
nicht zum Abendeſſen bleiben, der Wagen der Hof¬<lb/>
dame, der ſie nach dem Palais bringen ſollte, war<lb/>
angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigſten<lb/>
mit ihr geſprochen. Jetzt legte er ſeine Arme um<lb/>
ihre Schultern: „Du, mein geliebtes Kind, mein<lb/>
Bijou! Nun ich Dich verlieren ſoll, begreife ich erſt,<lb/>
was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in<lb/>
Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich<lb/>
mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬<lb/>ſen und Du mehr mir. Ich hätte Dich beſſer ver¬<lb/>ſtanden, und Manches wäre beſſer — vielleicht! Aber<lb/>
es hat nicht ſein ſollen. Andre ſagen, der Menſch<lb/>
gehöre zuerſt ſich ſelbſt und ſeiner Familie, und dann<lb/>
erſt ſeiner Pflicht gegen den Staat. Ich verſtand es<lb/>
anders. Gott wird wiſſen, wer Recht hat. Wenn<lb/>
Alles in der Welt wechſelt, ſo wechſeln wohl auch<lb/>
die Anſichten über die Pflichten. Aber ich glaube<lb/>
doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht<lb/>ſei, der thut Recht, und der himmliſche Vater wird<lb/>
ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht<lb/>
thut. —“</p><lb/><p>Adelheid an ſeinem Halſe wollte nichts davon<lb/>
wiſſen, daß ihr Vater gegen ſie Unrecht gethan; ſie<lb/>
habe ſich anzuklagen, daß ſie nicht alle Pflichten eines<lb/>
Kindes gegen ihn erfüllt.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">17*<lb/></fw></div></body></text></TEI>
[259/0269]
mahnungen war von den Lippen der Mutter gefloſſen,
und immer beſann ſie ſich, daß ſie doch noch etwas
Anderes, etwas Neues zu ſagen hatte.
Jetzt nahte die Scheideſtunde. Adelheid konnte
nicht zum Abendeſſen bleiben, der Wagen der Hof¬
dame, der ſie nach dem Palais bringen ſollte, war
angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigſten
mit ihr geſprochen. Jetzt legte er ſeine Arme um
ihre Schultern: „Du, mein geliebtes Kind, mein
Bijou! Nun ich Dich verlieren ſoll, begreife ich erſt,
was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in
Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich
mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬
ſen und Du mehr mir. Ich hätte Dich beſſer ver¬
ſtanden, und Manches wäre beſſer — vielleicht! Aber
es hat nicht ſein ſollen. Andre ſagen, der Menſch
gehöre zuerſt ſich ſelbſt und ſeiner Familie, und dann
erſt ſeiner Pflicht gegen den Staat. Ich verſtand es
anders. Gott wird wiſſen, wer Recht hat. Wenn
Alles in der Welt wechſelt, ſo wechſeln wohl auch
die Anſichten über die Pflichten. Aber ich glaube
doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht
ſei, der thut Recht, und der himmliſche Vater wird
ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht
thut. —“
Adelheid an ſeinem Halſe wollte nichts davon
wiſſen, daß ihr Vater gegen ſie Unrecht gethan; ſie
habe ſich anzuklagen, daß ſie nicht alle Pflichten eines
Kindes gegen ihn erfüllt.
17*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/269>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.