Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.entnehmen können, was sich nicht rauben, was sich nur mit offener Seele geschenkt erhalten läßt. Die zwei Gegensätze stehen eben, an der Oberfläche unvereinbar auseinander, wachsend, in der Wurzel in tiefster wechselwirkender Zusammengehörigkeit, und das sich verschwendende: "ich will alles sein!" wie das geizig-gierende: "ich will alles haben!" ergeben, auf ein höchstes umfassendes Verlangen gebracht, den gleichen Sinn. Aus dieser ihnen noch gemeinsamen Mutterwurzel scheint sich die dritte Gruppe von Gefühlsbeziehungen, die des Erotischen, abzuspalten als eine Mittelform, vielleicht die Urform, zwischen dem Einzeltier und dem Bruderwesen: beider Bestandteile seltsam, und um ihre Widersprüche unbekümmert, in sich bindend, wodurch sie sich gegenseitig steigern zu gärenderer Triebkraft. So sind es in der ganzen Natur gerade die differenten Protoplasmakörperchen, die sich zeugerisch suchen, allmählich die Geschlechtsunterschiede aus sich entwickeln, die Spezialisierung zum immer Mannigfaltigem ermöglichen. Und so behält unter Menschen wie Tieren der alte Gemeinplatz recht, nach welchem die Liebe der Geschlechter ein Kampf der Geschlechter sei, und nichts so leicht ineinander überschlage wie Liebe und Haß. Denn erweitert die Selbstsucht in der Sexualität sich, so verschärft sie sich doch zugleich darin zu ihren heftigsten Eigenwünschen, und geht sie in selbstsüchtigem Angriff vor, so doch wiederum nur, um das alles Eroberte auf den Thron, ja hoch über sich selbst zu setzen: überall durch ihre physische Bedingtheit an einer einseitig klaren Herausarbeitung ihrer seelischen Absichten behindert, - und doch tiefer als alles andere mit ihnen deutend auf das All-Eine das wir in uns selber sind. Deshalb darf man aus dieser ihrer Gebundenheit nicht entnehmen können, was sich nicht rauben, was sich nur mit offener Seele geschenkt erhalten läßt. Die zwei Gegensätze stehen eben, an der Oberfläche unvereinbar auseinander, wachsend, in der Wurzel in tiefster wechselwirkender Zusammengehörigkeit, und das sich verschwendende: „ich will alles sein!“ wie das geizig-gierende: „ich will alles haben!“ ergeben, auf ein höchstes umfassendes Verlangen gebracht, den gleichen Sinn. Aus dieser ihnen noch gemeinsamen Mutterwurzel scheint sich die dritte Gruppe von Gefühlsbeziehungen, die des Erotischen, abzuspalten als eine Mittelform, vielleicht die Urform, zwischen dem Einzeltier und dem Bruderwesen: beider Bestandteile seltsam, und um ihre Widersprüche unbekümmert, in sich bindend, wodurch sie sich gegenseitig steigern zu gärenderer Triebkraft. So sind es in der ganzen Natur gerade die differenten Protoplasmakörperchen, die sich zeugerisch suchen, allmählich die Geschlechtsunterschiede aus sich entwickeln, die Spezialisierung zum immer Mannigfaltigem ermöglichen. Und so behält unter Menschen wie Tieren der alte Gemeinplatz recht, nach welchem die Liebe der Geschlechter ein Kampf der Geschlechter sei, und nichts so leicht ineinander überschlage wie Liebe und Haß. Denn erweitert die Selbstsucht in der Sexualität sich, so verschärft sie sich doch zugleich darin zu ihren heftigsten Eigenwünschen, und geht sie in selbstsüchtigem Angriff vor, so doch wiederum nur, um das alles Eroberte auf den Thron, ja hoch über sich selbst zu setzen: überall durch ihre physische Bedingtheit an einer einseitig klaren Herausarbeitung ihrer seelischen Absichten behindert, – und doch tiefer als alles andere mit ihnen deutend auf das All-Eine das wir in uns selber sind. 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So sind es in der ganzen Natur gerade die <hi rendition="#g">differenten</hi> Protoplasmakörperchen, die sich zeugerisch suchen, allmählich die Geschlechtsunterschiede aus sich entwickeln, die Spezialisierung zum immer Mannigfaltigem ermöglichen. Und so behält unter Menschen wie Tieren der alte Gemeinplatz recht, nach welchem die Liebe der Geschlechter ein Kampf der Geschlechter sei, und nichts so leicht ineinander überschlage wie Liebe und Haß. Denn erweitert die Selbstsucht in der Sexualität sich, so verschärft sie sich doch zugleich darin zu ihren heftigsten Eigenwünschen, und geht sie in selbstsüchtigem Angriff vor, so doch wiederum nur, um das alles Eroberte auf den Thron, ja hoch über sich selbst zu setzen: überall durch ihre physische Bedingtheit an einer einseitig klaren Herausarbeitung ihrer seelischen Absichten behindert, – und doch tiefer als alles andere mit ihnen deutend auf das All-Eine das wir in uns selber sind.</p> <p>Deshalb darf man aus dieser ihrer Gebundenheit nicht </p> </div> </body> </text> </TEI> [38/0038]
entnehmen können, was sich nicht rauben, was sich nur mit offener Seele geschenkt erhalten läßt. Die zwei Gegensätze stehen eben, an der Oberfläche unvereinbar auseinander, wachsend, in der Wurzel in tiefster wechselwirkender Zusammengehörigkeit, und das sich verschwendende: „ich will alles sein!“ wie das geizig-gierende: „ich will alles haben!“ ergeben, auf ein höchstes umfassendes Verlangen gebracht, den gleichen Sinn.
Aus dieser ihnen noch gemeinsamen Mutterwurzel scheint sich die dritte Gruppe von Gefühlsbeziehungen, die des Erotischen, abzuspalten als eine Mittelform, vielleicht die Urform, zwischen dem Einzeltier und dem Bruderwesen: beider Bestandteile seltsam, und um ihre Widersprüche unbekümmert, in sich bindend, wodurch sie sich gegenseitig steigern zu gärenderer Triebkraft. So sind es in der ganzen Natur gerade die differenten Protoplasmakörperchen, die sich zeugerisch suchen, allmählich die Geschlechtsunterschiede aus sich entwickeln, die Spezialisierung zum immer Mannigfaltigem ermöglichen. Und so behält unter Menschen wie Tieren der alte Gemeinplatz recht, nach welchem die Liebe der Geschlechter ein Kampf der Geschlechter sei, und nichts so leicht ineinander überschlage wie Liebe und Haß. Denn erweitert die Selbstsucht in der Sexualität sich, so verschärft sie sich doch zugleich darin zu ihren heftigsten Eigenwünschen, und geht sie in selbstsüchtigem Angriff vor, so doch wiederum nur, um das alles Eroberte auf den Thron, ja hoch über sich selbst zu setzen: überall durch ihre physische Bedingtheit an einer einseitig klaren Herausarbeitung ihrer seelischen Absichten behindert, – und doch tiefer als alles andere mit ihnen deutend auf das All-Eine das wir in uns selber sind.
Deshalb darf man aus dieser ihrer Gebundenheit nicht
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