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Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.

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so ist doch kein Zweifel, daß sie dem Bedürfnis entstammt ist, das Sexuelle dem religiös Sanktionierten zu unterstellen, - selbst, wo sich die orgiastischesten Kulte daran anschlössen, es als geheiligt über die Notdurft des Einzelnen hinauszuheben. Allerdings erscheint diese uranfängliche Madonnenauffassung unserer heutigen Dirnenauffassung angenähert: der Hingabe ohne Wahl, selbst ohne Wollust noch, d. h. der Hingabe zu außererotischen Grundzwecken. Dirnen- und Madonnentypus ähneln sich darin ungefähr wie Fratze und Urbild, berühren sich im Extremen; was sie jedoch beide ermöglicht, ist schon das nämliche, was das Weib zum tragenden, zum Muttertier bestimmt: ihr Leib als Träger der Kindesfrucht, als Tempel des Gottes, als Tummelplatz und Vermietlokal der Geschlechtlichkeit, wird zum verkörperten Ausdruck, zum Sinnbild, jener Passivität, die sie gleicherweise befähigt, das Sexuelle zu degradieren wie zu verklären.

Wie aber im Mütterlichen das stärkste Passivwerden des Weibes in dessen äußerste Schaffenskraft sich verkehrt, so ließe sich nicht mit Unrecht auch der Madonnenbegriff in das aktiv Bedeutungsvollste vergeistigen. Denn nicht nur eine Negation bedeutet er, nicht nur die von Lüsternheit freie Frau, sondern die mit allen, auch außererotischen, Kräften dem Empfängniszweck Zugeweihte. Je tiefer ein Weib in der Liebe wurzelt, zu je Persönlicherm sie darin geworden ist, desto mehr verkehrt sich die passive Ausschaltung des bloß Genußmäßigen am Sexuellen in ein Tun, eine lebendige Erfüllung und Wirkung. Sinnlichkeit und Keuschheit, Erblühen und Sichheiligen fallen in eins zusammen: in jeder höchsten Stunde der Frau ist der Mann nur der Zimmermann Marias neben einem Gott. Man könnte sagen: insofern Mannesliebe so entgegengesetzt, aktiver und partieller und ihrer eignen

so ist doch kein Zweifel, daß sie dem Bedürfnis entstammt ist, das Sexuelle dem religiös Sanktionierten zu unterstellen, – selbst, wo sich die orgiastischesten Kulte daran anschlössen, es als geheiligt über die Notdurft des Einzelnen hinauszuheben. Allerdings erscheint diese uranfängliche Madonnenauffassung unserer heutigen Dirnenauffassung angenähert: der Hingabe ohne Wahl, selbst ohne Wollust noch, d. h. der Hingabe zu außererotischen Grundzwecken. Dirnen- und Madonnentypus ähneln sich darin ungefähr wie Fratze und Urbild, berühren sich im Extremen; was sie jedoch beide ermöglicht, ist schon das nämliche, was das Weib zum tragenden, zum Muttertier bestimmt: ihr Leib als Träger der Kindesfrucht, als Tempel des Gottes, als Tummelplatz und Vermietlokal der Geschlechtlichkeit, wird zum verkörperten Ausdruck, zum Sinnbild, jener Passivität, die sie gleicherweise befähigt, das Sexuelle zu degradieren wie zu verklären.

Wie aber im Mütterlichen das stärkste Passivwerden des Weibes in dessen äußerste Schaffenskraft sich verkehrt, so ließe sich nicht mit Unrecht auch der Madonnenbegriff in das aktiv Bedeutungsvollste vergeistigen. Denn nicht nur eine Negation bedeutet er, nicht nur die von Lüsternheit freie Frau, sondern die mit allen, auch außererotischen, Kräften dem Empfängniszweck Zugeweihte. Je tiefer ein Weib in der Liebe wurzelt, zu je Persönlicherm sie darin geworden ist, desto mehr verkehrt sich die passive Ausschaltung des bloß Genußmäßigen am Sexuellen in ein Tun, eine lebendige Erfüllung und Wirkung. Sinnlichkeit und Keuschheit, Erblühen und Sichheiligen fallen in eins zusammen: in jeder höchsten Stunde der Frau ist der Mann nur der Zimmermann Marias neben einem Gott. Man könnte sagen: insofern Mannesliebe so entgegengesetzt, aktiver und partieller und ihrer eignen

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[45/0045] so ist doch kein Zweifel, daß sie dem Bedürfnis entstammt ist, das Sexuelle dem religiös Sanktionierten zu unterstellen, – selbst, wo sich die orgiastischesten Kulte daran anschlössen, es als geheiligt über die Notdurft des Einzelnen hinauszuheben. Allerdings erscheint diese uranfängliche Madonnenauffassung unserer heutigen Dirnenauffassung angenähert: der Hingabe ohne Wahl, selbst ohne Wollust noch, d. h. der Hingabe zu außererotischen Grundzwecken. Dirnen- und Madonnentypus ähneln sich darin ungefähr wie Fratze und Urbild, berühren sich im Extremen; was sie jedoch beide ermöglicht, ist schon das nämliche, was das Weib zum tragenden, zum Muttertier bestimmt: ihr Leib als Träger der Kindesfrucht, als Tempel des Gottes, als Tummelplatz und Vermietlokal der Geschlechtlichkeit, wird zum verkörperten Ausdruck, zum Sinnbild, jener Passivität, die sie gleicherweise befähigt, das Sexuelle zu degradieren wie zu verklären. Wie aber im Mütterlichen das stärkste Passivwerden des Weibes in dessen äußerste Schaffenskraft sich verkehrt, so ließe sich nicht mit Unrecht auch der Madonnenbegriff in das aktiv Bedeutungsvollste vergeistigen. Denn nicht nur eine Negation bedeutet er, nicht nur die von Lüsternheit freie Frau, sondern die mit allen, auch außererotischen, Kräften dem Empfängniszweck Zugeweihte. Je tiefer ein Weib in der Liebe wurzelt, zu je Persönlicherm sie darin geworden ist, desto mehr verkehrt sich die passive Ausschaltung des bloß Genußmäßigen am Sexuellen in ein Tun, eine lebendige Erfüllung und Wirkung. Sinnlichkeit und Keuschheit, Erblühen und Sichheiligen fallen in eins zusammen: in jeder höchsten Stunde der Frau ist der Mann nur der Zimmermann Marias neben einem Gott. Man könnte sagen: insofern Mannesliebe so entgegengesetzt, aktiver und partieller und ihrer eignen

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Zitationshilfe: Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/45>, abgerufen am 28.03.2024.