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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

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Abend kam ihm Fenia nicht aus dem Sinn, -- diese ganz
neue Fenia, die er gar nicht erkannte. Kein Mensch konnte
ihr jetzt helfen, und doch schien es ihm ganz unmöglich,
sie in ihrer Seelenverfassung sich selbst zu überlassen.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Am Morgen
sprach er schon gegen zehn Uhr wieder vor. Er fragte
die Wirtin, ob Fenia zu sehen sei, und erhielt darauf in
ihrem schlechten Französisch die kriechend-freundliche Ant¬
wort: "ja, sie sei sicher zu sehen, denn sie erwarte ohne¬
hin Besuch."

In diesem Augenblick stieß Fenia die Thür ihres
Zimmers zur Treppe selbst auf. Als sie ihn erblickte,
stand sie wie versteinert. Sie war im Straßenkleide, blaß,
ernst, fast kalt im Ausdruck, -- völlig anders als gestern.

"Das ist ein großes Unglück!" sagte sie, als die
Wirtin in ihrer Wohnung verschwunden war, und ließ
ihn zaudernd auf der Schwelle stehn, "-- ein wahres
Unglück ist es, daß du gekommen bist."

"Mein Gott, Fenitschka! ich will dich doch nicht
stören! ich komme ein andermal. Ich geh also wieder."

"Nein, nein! es ist unmöglich, daß du fortgehst,"
versetzte sie, und faßte ihn beim Aermel, als er sich wen¬
den wollte, "-- versteh doch! Er kommt gleich, -- er
muß gleich eintreten --"

"Nun, und?"

"Nun, ich kann ihn nicht empfangen, wenn ich dich,
vor den Augen der Wirtin, nicht empfangen konnte."

Er wollte etwas erwidern, da ging unten eine
Thür, jemand stieg die ersten Stufen hinauf.

Fenia zog ihn an der Hand in ihr Wohnzimmer.

Abend kam ihm Fenia nicht aus dem Sinn, — dieſe ganz
neue Fenia, die er gar nicht erkannte. Kein Menſch konnte
ihr jetzt helfen, und doch ſchien es ihm ganz unmöglich,
ſie in ihrer Seelenverfaſſung ſich ſelbſt zu überlaſſen.

Der nächſte Tag war ein Sonntag. Am Morgen
ſprach er ſchon gegen zehn Uhr wieder vor. Er fragte
die Wirtin, ob Fenia zu ſehen ſei, und erhielt darauf in
ihrem ſchlechten Franzöſiſch die kriechend-freundliche Ant¬
wort: „ja, ſie ſei ſicher zu ſehen, denn ſie erwarte ohne¬
hin Beſuch.“

In dieſem Augenblick ſtieß Fenia die Thür ihres
Zimmers zur Treppe ſelbſt auf. Als ſie ihn erblickte,
ſtand ſie wie verſteinert. Sie war im Straßenkleide, blaß,
ernſt, faſt kalt im Ausdruck, — völlig anders als geſtern.

„Das iſt ein großes Unglück!“ ſagte ſie, als die
Wirtin in ihrer Wohnung verſchwunden war, und ließ
ihn zaudernd auf der Schwelle ſtehn, „— ein wahres
Unglück iſt es, daß du gekommen biſt.“

„Mein Gott, Fenitſchka! ich will dich doch nicht
ſtören! ich komme ein andermal. Ich geh alſo wieder.“

„Nein, nein! es iſt unmöglich, daß du fortgehſt,“
verſetzte ſie, und faßte ihn beim Aermel, als er ſich wen¬
den wollte, „— verſteh doch! Er kommt gleich, — er
muß gleich eintreten —“

„Nun, und?“

„Nun, ich kann ihn nicht empfangen, wenn ich dich,
vor den Augen der Wirtin, nicht empfangen konnte.“

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[93/0097] — 93 — Abend kam ihm Fenia nicht aus dem Sinn, — dieſe ganz neue Fenia, die er gar nicht erkannte. Kein Menſch konnte ihr jetzt helfen, und doch ſchien es ihm ganz unmöglich, ſie in ihrer Seelenverfaſſung ſich ſelbſt zu überlaſſen. Der nächſte Tag war ein Sonntag. Am Morgen ſprach er ſchon gegen zehn Uhr wieder vor. Er fragte die Wirtin, ob Fenia zu ſehen ſei, und erhielt darauf in ihrem ſchlechten Franzöſiſch die kriechend-freundliche Ant¬ wort: „ja, ſie ſei ſicher zu ſehen, denn ſie erwarte ohne¬ hin Beſuch.“ In dieſem Augenblick ſtieß Fenia die Thür ihres Zimmers zur Treppe ſelbſt auf. Als ſie ihn erblickte, ſtand ſie wie verſteinert. Sie war im Straßenkleide, blaß, ernſt, faſt kalt im Ausdruck, — völlig anders als geſtern. „Das iſt ein großes Unglück!“ ſagte ſie, als die Wirtin in ihrer Wohnung verſchwunden war, und ließ ihn zaudernd auf der Schwelle ſtehn, „— ein wahres Unglück iſt es, daß du gekommen biſt.“ „Mein Gott, Fenitſchka! ich will dich doch nicht ſtören! ich komme ein andermal. Ich geh alſo wieder.“ „Nein, nein! es iſt unmöglich, daß du fortgehſt,“ verſetzte ſie, und faßte ihn beim Aermel, als er ſich wen¬ den wollte, „— verſteh doch! Er kommt gleich, — er muß gleich eintreten —“ „Nun, und?“ „Nun, ich kann ihn nicht empfangen, wenn ich dich, vor den Augen der Wirtin, nicht empfangen konnte.“ Er wollte etwas erwidern, da ging unten eine Thür, jemand ſtieg die erſten Stufen hinauf. Fenia zog ihn an der Hand in ihr Wohnzimmer.

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Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/97>, abgerufen am 22.11.2024.