Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.Fünfte Vorlesung. Moralische Beziehungen. Ich hatte einst einen Lehrer und der Lehrer hatte einen Dieses stete Handeln irgend eines Nutzens und äußerlichen Fünfte Vorleſung. Moraliſche Beziehungen. Ich hatte einſt einen Lehrer und der Lehrer hatte einen Dieſes ſtete Handeln irgend eines Nutzens und aͤußerlichen <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0110" n="[96]"/> <div n="1"> <head><hi rendition="#g"><hi rendition="#b">Fünfte Vorleſung.</hi><lb/> Moraliſche Beziehungen</hi>.</head><lb/> <p><hi rendition="#in">I</hi>ch hatte einſt einen Lehrer und der Lehrer hatte einen<lb/> Zopf. Dieſer, der Lehrer, ſagte oͤfter mit wichtiger Miene und<lb/> hohen Augenbraunen: „Der Menſch ißt um zu leben, lebt aber<lb/> nicht um zu eſſen.“ Das ganze Anſehen des Mannes dabei<lb/> verrieth unverkennbar, daß er dachte, damit wirklich etwas ge-<lb/> ſagt zu haben, ja man haͤtte ihn wohl fuͤr den erſten Erfinder<lb/> dieſes Sinnſpruchs halten koͤnnen, mit ſo viel Antheil pflegte er<lb/> ihn vorzubringen. Es war dieß in der Trivialſchule, und da<lb/> gehoͤrte es hin. Ich habe nun im Verlaufe des Lebens dieſe<lb/> Worte oͤfter gehoͤrt und geleſen und, wie nun Vorſtellungs-Aſſo-<lb/> ciationen eben ſind, jedesmal dachte ich dabei an meinen Schul-<lb/> meiſter und ſeinen Zopf.</p><lb/> <p>Dieſes ſtete Handeln irgend eines Nutzens und aͤußerlichen<lb/> Zweckes wegen, dieſes aͤngſtliche Ruͤck- und Vorwaͤrtslauern<lb/> bei jedem Tritt und Schritt, dieſe gemeine Abſichtlichkeit macht<lb/> unſere Zeit uͤber die Maaßen ſchaal und trivial. Man riecht<lb/> an eine Roſe um zu nießen, wenn man keine Priſe Schnupf-<lb/> tabak bei der Hand hat. Der Motion wegen wird, aͤrztlicher<lb/> Vorſchrift gemaͤß, ein Spaziergang durch Flur und Wald un-<lb/> ternommen, und der Blick wendet ſich kaum von dem uͤppigen<lb/> Wuchs der Wieſen, weil Gruͤn den Augen ſo geſund iſt. Man<lb/> ſieht und hoͤrt ein Kunſtwerk, eine Gemaͤldeausſtellung, eine<lb/> neue Oper, um doch Antwort geben zu koͤnnen, wenn Seine<lb/> Excellenz etwa daruͤber fragen ſollte. Man geht zu einem<lb/> Gaſtmahl, nicht um zu eſſen, — nein um zu leben.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [[96]/0110]
Fünfte Vorleſung.
Moraliſche Beziehungen.
Ich hatte einſt einen Lehrer und der Lehrer hatte einen
Zopf. Dieſer, der Lehrer, ſagte oͤfter mit wichtiger Miene und
hohen Augenbraunen: „Der Menſch ißt um zu leben, lebt aber
nicht um zu eſſen.“ Das ganze Anſehen des Mannes dabei
verrieth unverkennbar, daß er dachte, damit wirklich etwas ge-
ſagt zu haben, ja man haͤtte ihn wohl fuͤr den erſten Erfinder
dieſes Sinnſpruchs halten koͤnnen, mit ſo viel Antheil pflegte er
ihn vorzubringen. Es war dieß in der Trivialſchule, und da
gehoͤrte es hin. Ich habe nun im Verlaufe des Lebens dieſe
Worte oͤfter gehoͤrt und geleſen und, wie nun Vorſtellungs-Aſſo-
ciationen eben ſind, jedesmal dachte ich dabei an meinen Schul-
meiſter und ſeinen Zopf.
Dieſes ſtete Handeln irgend eines Nutzens und aͤußerlichen
Zweckes wegen, dieſes aͤngſtliche Ruͤck- und Vorwaͤrtslauern
bei jedem Tritt und Schritt, dieſe gemeine Abſichtlichkeit macht
unſere Zeit uͤber die Maaßen ſchaal und trivial. Man riecht
an eine Roſe um zu nießen, wenn man keine Priſe Schnupf-
tabak bei der Hand hat. Der Motion wegen wird, aͤrztlicher
Vorſchrift gemaͤß, ein Spaziergang durch Flur und Wald un-
ternommen, und der Blick wendet ſich kaum von dem uͤppigen
Wuchs der Wieſen, weil Gruͤn den Augen ſo geſund iſt. Man
ſieht und hoͤrt ein Kunſtwerk, eine Gemaͤldeausſtellung, eine
neue Oper, um doch Antwort geben zu koͤnnen, wenn Seine
Excellenz etwa daruͤber fragen ſollte. Man geht zu einem
Gaſtmahl, nicht um zu eſſen, — nein um zu leben.
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