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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

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hört, in Zerstreuung spricht, muffig schweigt, und wenn gar
das Unglück kleine Kinder heranführt, mit augenblicklicher Pä-
dagogik die unzeitigste Mißstimmung hervorbringt. So man-
ches Uebel, sagte er, muß man tragen; von diesem habe ich
mich zu befreien gewußt. -- Allerdings gehören zu eigentli-
chen Gastmählern keine kleinen Kinder. Am Familientisch aber
ist's doch nicht übel, zu sehen, wie's den kleinen Dickköpfen
schon so gut schmeckt, und wie sie sich so eifrig der ersten Vor-
übungen befleißigen, um dereinst zu der höheren Stufe wahrer
Eßkünstler sich zu befähigen. Pädagogische Rügen finden aller-
dings besser vor oder nach Tisch Statt, wie auch schon Sirach
spricht: Strafe und Lehre soll man zur rechten Zeit üben. --
Ehe man nun aber den Oheim als Egoisten tadelt, bedenke
man wohl, daß der alte Herr gerne, reichlich und gut Andern
zu essen gab und sich daran ergötzte, zu sehen, wie's Andern
wohlschmeckt. Dieß, gut zu essen Geben, ist in sittlicher Be-
ziehung die Hauptsache, d. h. wenn ein edler Mensch ein Fäß-
chen Austern geschickt bekommt, so ißt er sie nicht allein, son-
dern invitirt gute Freunde.

Die Pflichten gegen sich selbst bilden in jeder Moral ein
mehr als überflüssiges Kapitel. Diese erfüllt der Mensch nur
zu sehr, ohne daß man sie ihm einzuschärfen braucht. Die
Pflichten aber gegen die Nebenmenschen werden versäumt, man
mag predigen, so viel man will.

Es giebt aber einen sittlichen Takt, der auf Wohlwollen,
Schönheitssinn und Verstand ruht, und von dem ein Beispiel
zu geben, hier am Orte ist. Der treffliche Graf Rumford
setzte der allbekannten und nach ihm benannten Suppe geröstete
Brodschnitte zu, um das Kauen zu verlängern und das mit
dem Essen verbundene Vergnügen (the pleasure of eating),
das sich niemand, auch der Arme nicht, gern nehmen läßt, zu
vermehren. Dieses Vergnügen, dem Rumford in seinen 1796
zu London erschienenen Experimental Essays ein besonderes,

hoͤrt, in Zerſtreuung ſpricht, muffig ſchweigt, und wenn gar
das Ungluͤck kleine Kinder heranfuͤhrt, mit augenblicklicher Paͤ-
dagogik die unzeitigſte Mißſtimmung hervorbringt. So man-
ches Uebel, ſagte er, muß man tragen; von dieſem habe ich
mich zu befreien gewußt. — Allerdings gehoͤren zu eigentli-
chen Gaſtmaͤhlern keine kleinen Kinder. Am Familientiſch aber
iſt’s doch nicht uͤbel, zu ſehen, wie’s den kleinen Dickkoͤpfen
ſchon ſo gut ſchmeckt, und wie ſie ſich ſo eifrig der erſten Vor-
uͤbungen befleißigen, um dereinſt zu der hoͤheren Stufe wahrer
Eßkuͤnſtler ſich zu befaͤhigen. Paͤdagogiſche Ruͤgen finden aller-
dings beſſer vor oder nach Tiſch Statt, wie auch ſchon Sirach
ſpricht: Strafe und Lehre ſoll man zur rechten Zeit uͤben. —
Ehe man nun aber den Oheim als Egoiſten tadelt, bedenke
man wohl, daß der alte Herr gerne, reichlich und gut Andern
zu eſſen gab und ſich daran ergoͤtzte, zu ſehen, wie’s Andern
wohlſchmeckt. Dieß, gut zu eſſen Geben, iſt in ſittlicher Be-
ziehung die Hauptſache, d. h. wenn ein edler Menſch ein Faͤß-
chen Auſtern geſchickt bekommt, ſo ißt er ſie nicht allein, ſon-
dern invitirt gute Freunde.

Die Pflichten gegen ſich ſelbſt bilden in jeder Moral ein
mehr als uͤberfluͤſſiges Kapitel. Dieſe erfuͤllt der Menſch nur
zu ſehr, ohne daß man ſie ihm einzuſchaͤrfen braucht. Die
Pflichten aber gegen die Nebenmenſchen werden verſaͤumt, man
mag predigen, ſo viel man will.

Es giebt aber einen ſittlichen Takt, der auf Wohlwollen,
Schoͤnheitsſinn und Verſtand ruht, und von dem ein Beiſpiel
zu geben, hier am Orte iſt. Der treffliche Graf Rumford
ſetzte der allbekannten und nach ihm benannten Suppe geroͤſtete
Brodſchnitte zu, um das Kauen zu verlaͤngern und das mit
dem Eſſen verbundene Vergnuͤgen (the pleasure of eating),
das ſich niemand, auch der Arme nicht, gern nehmen laͤßt, zu
vermehren. Dieſes Vergnuͤgen, dem Rumford in ſeinen 1796
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[114/0128] hoͤrt, in Zerſtreuung ſpricht, muffig ſchweigt, und wenn gar das Ungluͤck kleine Kinder heranfuͤhrt, mit augenblicklicher Paͤ- dagogik die unzeitigſte Mißſtimmung hervorbringt. So man- ches Uebel, ſagte er, muß man tragen; von dieſem habe ich mich zu befreien gewußt. — Allerdings gehoͤren zu eigentli- chen Gaſtmaͤhlern keine kleinen Kinder. Am Familientiſch aber iſt’s doch nicht uͤbel, zu ſehen, wie’s den kleinen Dickkoͤpfen ſchon ſo gut ſchmeckt, und wie ſie ſich ſo eifrig der erſten Vor- uͤbungen befleißigen, um dereinſt zu der hoͤheren Stufe wahrer Eßkuͤnſtler ſich zu befaͤhigen. Paͤdagogiſche Ruͤgen finden aller- dings beſſer vor oder nach Tiſch Statt, wie auch ſchon Sirach ſpricht: Strafe und Lehre ſoll man zur rechten Zeit uͤben. — Ehe man nun aber den Oheim als Egoiſten tadelt, bedenke man wohl, daß der alte Herr gerne, reichlich und gut Andern zu eſſen gab und ſich daran ergoͤtzte, zu ſehen, wie’s Andern wohlſchmeckt. Dieß, gut zu eſſen Geben, iſt in ſittlicher Be- ziehung die Hauptſache, d. h. wenn ein edler Menſch ein Faͤß- chen Auſtern geſchickt bekommt, ſo ißt er ſie nicht allein, ſon- dern invitirt gute Freunde. Die Pflichten gegen ſich ſelbſt bilden in jeder Moral ein mehr als uͤberfluͤſſiges Kapitel. Dieſe erfuͤllt der Menſch nur zu ſehr, ohne daß man ſie ihm einzuſchaͤrfen braucht. Die Pflichten aber gegen die Nebenmenſchen werden verſaͤumt, man mag predigen, ſo viel man will. Es giebt aber einen ſittlichen Takt, der auf Wohlwollen, Schoͤnheitsſinn und Verſtand ruht, und von dem ein Beiſpiel zu geben, hier am Orte iſt. Der treffliche Graf Rumford ſetzte der allbekannten und nach ihm benannten Suppe geroͤſtete Brodſchnitte zu, um das Kauen zu verlaͤngern und das mit dem Eſſen verbundene Vergnuͤgen (the pleasure of eating), das ſich niemand, auch der Arme nicht, gern nehmen laͤßt, zu vermehren. Dieſes Vergnuͤgen, dem Rumford in ſeinen 1796 zu London erſchienenen Experimental Essays ein beſonderes,

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Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/128>, abgerufen am 24.11.2024.