Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.Ich gedenke der fröhlichen im schönen Wien verlebten Tage. Es giebt Leute, denen es anfängt unwohl zu werden, so Obgleich nun Schiller in seinem traurigen Lied an die Ich gedenke der froͤhlichen im ſchoͤnen Wien verlebten Tage. Es giebt Leute, denen es anfaͤngt unwohl zu werden, ſo Obgleich nun Schiller in ſeinem traurigen Lied an die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0208" n="194"/> <p>Ich gedenke der froͤhlichen im ſchoͤnen Wien verlebten Tage.<lb/> Im Sommerhalbjahr war ſo reichliche Gelegenheit gegeben, im<lb/> Freien zu eſſen, daß man ſich kaum entſchließen konnte, von der<lb/> druͤckenden Enge einer Stube ſich einſchließen zu laſſen. In<lb/> ſolchen Eßgaͤrten ſah man die anſtaͤndigſten Eſſer, die feinſten<lb/> Cavaliere in eben ſo feinen ſchneeweißen bloßen Hemdaͤrmeln<lb/> ſitzen und friſch und frei ſchmauſen, welchem Beiſpiele man be-<lb/> greiflicherweiſe auch unbedenklich folgte und ſich hoͤchſt behaglich<lb/> dabei befand. Ein enge zugeknoͤpfter ſchlanker Juͤngling aus<lb/> einer großen norddeutſchen Stadt, welcher ſich unſerm Kreiſe<lb/> zugeſellen wollte, und den wir in einen ſolchen Garten mit uns<lb/> nahmen, ging ſchreckensbleich ruͤckwaͤrts wieder zum Thor hin-<lb/> aus, ſobald er dieſen Skandal, wie er es nannte, anſichtig<lb/> wurde, wobei wir uns denn natuͤrlich keineswegs Muͤhe gaben,<lb/> den Zarten zu halten. Seine Mutter hatte ihm geſagt, ſo was<lb/> ſchicke ſich nicht.</p><lb/> <p>Es giebt Leute, denen es anfaͤngt unwohl zu werden, ſo<lb/> wie ſie ſich’s wohl ſein laſſen duͤrften, ja welche ihre eigene Exi-<lb/> ſtenz genirt. Auch habe ich Phyſiognomieen geſehen, welche<lb/> deutlich ausſagten: Nehmen Sie es mir doch ja nicht ungnaͤdig,<lb/> daß ich auf der Welt bin. Andere freilich, wozu unſer Zuge-<lb/> knoͤpfter gehoͤrte, ſcheinen gegentheils zu glauben, nur ſie haͤtten<lb/> das Recht dazuſein, und wer nicht ſo da ſei, wie ſie und ihr<lb/> Herr Vater und ihre Frau Mutter und die lieben Nachbarn und<lb/> desgleichen, der ſollte lieber gar nicht exiſtiren. Ach wenn ſich<lb/> doch ſolche Ungluͤckliche das ohnehin ſchon enge genug zuge-<lb/> knoͤpfte Leben nicht ſelber noch enger bis zur Engbruͤſtigkeit zu-<lb/> ſchnuͤren zu muͤſſen glaubten!</p><lb/> <p>Obgleich nun <hi rendition="#g">Schiller</hi> in ſeinem traurigen Lied an die<lb/> Freude mit Wehmuth Ungluͤcklicher gedenkt, die ſich weinend<lb/> fortſtehlen ſollen aus der Compagnie, ſo tragen doch ſolche Sei-<lb/> tenblicke nicht ſehr viel zur Plaiſirlichkeit des Ganzen bei, weß-<lb/> halb denn jenes genannten Zugeknoͤpften und ſeiner Ungluͤcks-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [194/0208]
Ich gedenke der froͤhlichen im ſchoͤnen Wien verlebten Tage.
Im Sommerhalbjahr war ſo reichliche Gelegenheit gegeben, im
Freien zu eſſen, daß man ſich kaum entſchließen konnte, von der
druͤckenden Enge einer Stube ſich einſchließen zu laſſen. In
ſolchen Eßgaͤrten ſah man die anſtaͤndigſten Eſſer, die feinſten
Cavaliere in eben ſo feinen ſchneeweißen bloßen Hemdaͤrmeln
ſitzen und friſch und frei ſchmauſen, welchem Beiſpiele man be-
greiflicherweiſe auch unbedenklich folgte und ſich hoͤchſt behaglich
dabei befand. Ein enge zugeknoͤpfter ſchlanker Juͤngling aus
einer großen norddeutſchen Stadt, welcher ſich unſerm Kreiſe
zugeſellen wollte, und den wir in einen ſolchen Garten mit uns
nahmen, ging ſchreckensbleich ruͤckwaͤrts wieder zum Thor hin-
aus, ſobald er dieſen Skandal, wie er es nannte, anſichtig
wurde, wobei wir uns denn natuͤrlich keineswegs Muͤhe gaben,
den Zarten zu halten. Seine Mutter hatte ihm geſagt, ſo was
ſchicke ſich nicht.
Es giebt Leute, denen es anfaͤngt unwohl zu werden, ſo
wie ſie ſich’s wohl ſein laſſen duͤrften, ja welche ihre eigene Exi-
ſtenz genirt. Auch habe ich Phyſiognomieen geſehen, welche
deutlich ausſagten: Nehmen Sie es mir doch ja nicht ungnaͤdig,
daß ich auf der Welt bin. Andere freilich, wozu unſer Zuge-
knoͤpfter gehoͤrte, ſcheinen gegentheils zu glauben, nur ſie haͤtten
das Recht dazuſein, und wer nicht ſo da ſei, wie ſie und ihr
Herr Vater und ihre Frau Mutter und die lieben Nachbarn und
desgleichen, der ſollte lieber gar nicht exiſtiren. Ach wenn ſich
doch ſolche Ungluͤckliche das ohnehin ſchon enge genug zuge-
knoͤpfte Leben nicht ſelber noch enger bis zur Engbruͤſtigkeit zu-
ſchnuͤren zu muͤſſen glaubten!
Obgleich nun Schiller in ſeinem traurigen Lied an die
Freude mit Wehmuth Ungluͤcklicher gedenkt, die ſich weinend
fortſtehlen ſollen aus der Compagnie, ſo tragen doch ſolche Sei-
tenblicke nicht ſehr viel zur Plaiſirlichkeit des Ganzen bei, weß-
halb denn jenes genannten Zugeknoͤpften und ſeiner Ungluͤcks-
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