Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.Es giebt sonderbare Menschen. Im 3ten Theil der 1806 Andere eifern gegen das Essen, weil sie sich den Magen Eine große Menge derer, welche wohl schmecken und den- Es giebt ſonderbare Menſchen. Im 3ten Theil der 1806 Andere eifern gegen das Eſſen, weil ſie ſich den Magen Eine große Menge derer, welche wohl ſchmecken und den- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0023" n="9"/> <p>Es giebt ſonderbare Menſchen. Im 3ten Theil der 1806<lb/> zu Augsburg erſchienenen Unterhaltungen uͤber den Menſchen<lb/> ſagt der Verfaſſer: „Welcher Nachdenkende koͤnnte ohne Weh-<lb/> muth, daß der Menſch ſich ſo ſehr von einfacher Natur entfer-<lb/> nen konnte, einen Speiſezettel bei dem Reſtaurateur Very in<lb/> Paris leſen und darauf 150 Speiſen, 55 feine Weine und 25<lb/> Liqueurs finden?“ — Es iſt gar nicht zu begreifen, wie man<lb/> hier Wehmuth empfinden ſoll, es muͤßte denn daruͤber ſein,<lb/> daß man nicht gleich alle 150 Speiſen eſſen kann.</p><lb/> <p>Andere eifern gegen das Eſſen, weil ſie ſich den Magen<lb/> verdorben haben; der frommen Fuͤchſe nicht zu gedenken, wel-<lb/> che die zu hoch haͤngenden Trauben als ſauer verſchreien.</p><lb/> <p>Eine große Menge derer, welche wohl ſchmecken und den-<lb/> ken koͤnnten, lungern und hungern, durch allerlei transcenden-<lb/> ten Wahn verblendet, aͤffenden ungenießbaren Schaugerichten<lb/> nach und halten wirkliches Eſſen fuͤr gemeine Nothdurft, wel-<lb/> cher unterworfen zu ſein ſie ſchmerzlichſt beklagen. Daß man<lb/> beim Eſſen die Lachmuskeln in Bewegung ſetzen muß, iſt ihnen<lb/> ein Graͤuel; ſie moͤchten gern die langgezognen ernſthaften Mie-<lb/> nen auch beim Eſſen beibehalten, und bedenken nicht, daß nur<lb/> das Thier ſtets ernſthaft iſt, Lachen aber, wie Kochen, zu den<lb/> Vorzuͤgen des Menſchen gehoͤrt. Uebrigens vergeſſen die Leute,<lb/> daß es ja nur an ihnen liegt, wenn ſie im Eſſen nichts Tieferes<lb/> ſehen. Man hoͤre <hi rendition="#g">Novalis</hi> und nehme ein Exempel dran:<lb/> „Das Eſſen iſt ein accentuirtes Leben. Eſſen, Trinken und<lb/> Athmen entſpricht der dreifachen Abtheilung der Koͤrper in fe-<lb/> ſte, fluͤſſige und luftige. Der ganze Koͤrper athmet, nur die<lb/> Lippen eſſen und trinken; gerade das Organ, das in mannich-<lb/> fachen Toͤnen das wieder ausſendet, was der Geiſt bereitet und<lb/> durch die uͤbrigen Sinne empfangen hat. Die Lippen ſind fuͤr<lb/> die Geſelligkeit ſo viel: wie ſehr verdienen ſie den Kuß! Jede<lb/> ſanfte weiche Erhoͤhung iſt ein ſymboliſcher Wunſch der Be-<lb/> ruͤhrung. So ladet uns Alles in der Natur figuͤrlich und be-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [9/0023]
Es giebt ſonderbare Menſchen. Im 3ten Theil der 1806
zu Augsburg erſchienenen Unterhaltungen uͤber den Menſchen
ſagt der Verfaſſer: „Welcher Nachdenkende koͤnnte ohne Weh-
muth, daß der Menſch ſich ſo ſehr von einfacher Natur entfer-
nen konnte, einen Speiſezettel bei dem Reſtaurateur Very in
Paris leſen und darauf 150 Speiſen, 55 feine Weine und 25
Liqueurs finden?“ — Es iſt gar nicht zu begreifen, wie man
hier Wehmuth empfinden ſoll, es muͤßte denn daruͤber ſein,
daß man nicht gleich alle 150 Speiſen eſſen kann.
Andere eifern gegen das Eſſen, weil ſie ſich den Magen
verdorben haben; der frommen Fuͤchſe nicht zu gedenken, wel-
che die zu hoch haͤngenden Trauben als ſauer verſchreien.
Eine große Menge derer, welche wohl ſchmecken und den-
ken koͤnnten, lungern und hungern, durch allerlei transcenden-
ten Wahn verblendet, aͤffenden ungenießbaren Schaugerichten
nach und halten wirkliches Eſſen fuͤr gemeine Nothdurft, wel-
cher unterworfen zu ſein ſie ſchmerzlichſt beklagen. Daß man
beim Eſſen die Lachmuskeln in Bewegung ſetzen muß, iſt ihnen
ein Graͤuel; ſie moͤchten gern die langgezognen ernſthaften Mie-
nen auch beim Eſſen beibehalten, und bedenken nicht, daß nur
das Thier ſtets ernſthaft iſt, Lachen aber, wie Kochen, zu den
Vorzuͤgen des Menſchen gehoͤrt. Uebrigens vergeſſen die Leute,
daß es ja nur an ihnen liegt, wenn ſie im Eſſen nichts Tieferes
ſehen. Man hoͤre Novalis und nehme ein Exempel dran:
„Das Eſſen iſt ein accentuirtes Leben. Eſſen, Trinken und
Athmen entſpricht der dreifachen Abtheilung der Koͤrper in fe-
ſte, fluͤſſige und luftige. Der ganze Koͤrper athmet, nur die
Lippen eſſen und trinken; gerade das Organ, das in mannich-
fachen Toͤnen das wieder ausſendet, was der Geiſt bereitet und
durch die uͤbrigen Sinne empfangen hat. Die Lippen ſind fuͤr
die Geſelligkeit ſo viel: wie ſehr verdienen ſie den Kuß! Jede
ſanfte weiche Erhoͤhung iſt ein ſymboliſcher Wunſch der Be-
ruͤhrung. So ladet uns Alles in der Natur figuͤrlich und be-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |