allerlei Gründe veranlaßt und bewogen, Mitglieder der mensch- lichen Gesellschaft reisen, keine eigne Frau und kein eignes Haus haben, Studenten, Offiziere, Handlungsdiener etc. sind. Diese pflegen in Gasthäusern zu essen. Sehr bezeichnend nennt man das Wirthstische, Tables d'hote, um damit anzudeuten, daß der Gastwirth es ist, wegen dessen man eigentlich essen soll. Dieser Gastwirth nun hat Wein und Bier auf dem Lager. Sehr zu verehren ist das Bestreben des Gastwirths, seine Gäste von der Zweckmäßigkeit des Weintrinkens überhaupt, besonders aber über Tisch möglichst durch Autopsie zu überzeugen. Zu diesem Zwecke wird auch insgemein zu jedem Couvert ein Fläsch- lein Wein gestellt. Dieser sogenannte Wein ist nun aber ge- wöhnlich, wie alles Gewöhnliche, so schlecht, daß ein vernünftiger Staatsbürger und Mensch denselben nur mit Widerstreben zu genießen im Stande ist. Oder der Wein ist so gut (was aber viel seltner vorkommt), daß er zu dem Inhalt der Börse mancher Gäste im umgekehrten Verhältniß steht.
Von der, durch das graueste Alterthum geheiligten Sitte, zum Essen zu trinken veranlaßt, supponirt man nun, aus be- nannten Gründen, das nach dem Wasser gemeinste bezahlbare Trinkbare, das Bier.
Nur giebt es in Deutschland nicht nur schüchterne Jüng- linge, die ich sehr liebe, sondern auch schüchterne Männer, die ich sehr bedaure. Wird nun einem solchen im menschlichen Ent- wickelungsgange Begriffenen oder Steckengebliebenen irgend etwas hingestellt, so genirt er sich, es abzulehnen, und assimilirt sich's eben. So habe ich Leute über Tisch Bier trinken gesehen, die ich näher deßhalb befragen konnte, und die mir gestanden: es schmecke ihnen nicht im mindesten, sie tränken es sogar ungerne über Tisch, aber eben des Wirths wegen. --
Ich bitte, nicht mißverstanden zu werden, indem ich gegen das Biertrinken über Tisch eifere. Ich trinke selbst außer Tisch nichts weniger als ungerne Bier. Man kann sich auch
allerlei Gruͤnde veranlaßt und bewogen, Mitglieder der menſch- lichen Geſellſchaft reiſen, keine eigne Frau und kein eignes Haus haben, Studenten, Offiziere, Handlungsdiener ꝛc. ſind. Dieſe pflegen in Gaſthaͤuſern zu eſſen. Sehr bezeichnend nennt man das Wirthstiſche, Tables d’hôte, um damit anzudeuten, daß der Gaſtwirth es iſt, wegen deſſen man eigentlich eſſen ſoll. Dieſer Gaſtwirth nun hat Wein und Bier auf dem Lager. Sehr zu verehren iſt das Beſtreben des Gaſtwirths, ſeine Gaͤſte von der Zweckmaͤßigkeit des Weintrinkens uͤberhaupt, beſonders aber uͤber Tiſch moͤglichſt durch Autopſie zu uͤberzeugen. Zu dieſem Zwecke wird auch insgemein zu jedem Couvert ein Flaͤſch- lein Wein geſtellt. Dieſer ſogenannte Wein iſt nun aber ge- woͤhnlich, wie alles Gewoͤhnliche, ſo ſchlecht, daß ein vernuͤnftiger Staatsbuͤrger und Menſch denſelben nur mit Widerſtreben zu genießen im Stande iſt. Oder der Wein iſt ſo gut (was aber viel ſeltner vorkommt), daß er zu dem Inhalt der Boͤrſe mancher Gaͤſte im umgekehrten Verhaͤltniß ſteht.
Von der, durch das graueſte Alterthum geheiligten Sitte, zum Eſſen zu trinken veranlaßt, ſupponirt man nun, aus be- nannten Gruͤnden, das nach dem Waſſer gemeinſte bezahlbare Trinkbare, das Bier.
Nur giebt es in Deutſchland nicht nur ſchuͤchterne Juͤng- linge, die ich ſehr liebe, ſondern auch ſchuͤchterne Maͤnner, die ich ſehr bedaure. Wird nun einem ſolchen im menſchlichen Ent- wickelungsgange Begriffenen oder Steckengebliebenen irgend etwas hingeſtellt, ſo genirt er ſich, es abzulehnen, und aſſimilirt ſich’s eben. So habe ich Leute uͤber Tiſch Bier trinken geſehen, die ich naͤher deßhalb befragen konnte, und die mir geſtanden: es ſchmecke ihnen nicht im mindeſten, ſie traͤnken es ſogar ungerne uͤber Tiſch, aber eben des Wirths wegen. —
Ich bitte, nicht mißverſtanden zu werden, indem ich gegen das Biertrinken uͤber Tiſch eifere. Ich trinke ſelbſt außer Tiſch nichts weniger als ungerne Bier. Man kann ſich auch
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allerlei Gruͤnde veranlaßt und bewogen, Mitglieder der menſch-
lichen Geſellſchaft reiſen, keine eigne Frau und kein eignes Haus
haben, Studenten, Offiziere, Handlungsdiener ꝛc. ſind. Dieſe
pflegen in Gaſthaͤuſern zu eſſen. Sehr bezeichnend nennt man
das Wirthstiſche, Tables d’hôte, um damit anzudeuten, daß
der Gaſtwirth es iſt, wegen deſſen man eigentlich eſſen ſoll.
Dieſer Gaſtwirth nun hat Wein und Bier auf dem Lager.
Sehr zu verehren iſt das Beſtreben des Gaſtwirths, ſeine Gaͤſte
von der Zweckmaͤßigkeit des Weintrinkens uͤberhaupt, beſonders
aber uͤber Tiſch moͤglichſt durch Autopſie zu uͤberzeugen. Zu
dieſem Zwecke wird auch insgemein zu jedem Couvert ein Flaͤſch-
lein Wein geſtellt. Dieſer ſogenannte Wein iſt nun aber ge-
woͤhnlich, wie alles Gewoͤhnliche, ſo ſchlecht, daß ein vernuͤnftiger
Staatsbuͤrger und Menſch denſelben nur mit Widerſtreben zu
genießen im Stande iſt. Oder der Wein iſt ſo gut (was aber
viel ſeltner vorkommt), daß er zu dem Inhalt der Boͤrſe mancher
Gaͤſte im umgekehrten Verhaͤltniß ſteht.
Von der, durch das graueſte Alterthum geheiligten Sitte,
zum Eſſen zu trinken veranlaßt, ſupponirt man nun, aus be-
nannten Gruͤnden, das nach dem Waſſer gemeinſte bezahlbare
Trinkbare, das Bier.
Nur giebt es in Deutſchland nicht nur ſchuͤchterne Juͤng-
linge, die ich ſehr liebe, ſondern auch ſchuͤchterne Maͤnner, die
ich ſehr bedaure. Wird nun einem ſolchen im menſchlichen Ent-
wickelungsgange Begriffenen oder Steckengebliebenen irgend etwas
hingeſtellt, ſo genirt er ſich, es abzulehnen, und aſſimilirt ſich’s
eben. So habe ich Leute uͤber Tiſch Bier trinken geſehen, die
ich naͤher deßhalb befragen konnte, und die mir geſtanden: es
ſchmecke ihnen nicht im mindeſten, ſie traͤnken es ſogar ungerne
uͤber Tiſch, aber eben des Wirths wegen. —
Ich bitte, nicht mißverſtanden zu werden, indem ich gegen
das Biertrinken uͤber Tiſch eifere. Ich trinke ſelbſt außer
Tiſch nichts weniger als ungerne Bier. Man kann ſich auch
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/264>, abgerufen am 16.02.2025.
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