Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.vorgekommen sein, daß bei gewissen festlichen Essen ein Freund Noch hab' ich derjenigen jungen und alten gemüthlichen Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten vorgekommen ſein, daß bei gewiſſen feſtlichen Eſſen ein Freund Noch hab’ ich derjenigen jungen und alten gemuͤthlichen Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0277" n="263"/> vorgekommen ſein, daß bei gewiſſen feſtlichen Eſſen ein Freund<lb/> den andern denunzirte, dieſer haͤtte nicht laut genug geſchrieen:<lb/> ein durch die Beſchuldigung hinlaͤnglich erwieſenes Verbrechen,<lb/> welches nicht ohne das groͤßte Mißfallen vermerkt werden<lb/> konnte. Bei ſo viel gemachtem, forcirtem und ſurveillirtem Ge-<lb/> ſchrei fuͤhlt ſich mancher klare Beobachter, der zugleich ein Menſch<lb/> iſt, in ein ſehr appetitſtoͤrendes Mißbehagen verſetzt, und leert<lb/> lieber ſein Glas wahr und aufrichtig im Stillen, oder unter<lb/> einem blos beifaͤlligen, weniger lauten Brummer, um nicht von<lb/> einem andern Menſchen jener unlauteren lauten Claſſe beige-<lb/> zaͤhlt zu werden.</p><lb/> <p>Noch hab’ ich derjenigen jungen und alten gemuͤthlichen<lb/> Seelen zu erwaͤhnen, welche mit irgend einem unſchuldigen<lb/> Mitmenſchen nicht zum dritten Mal eſſen koͤnnen, ohne wie<lb/><hi rendition="#g">Don Carlos</hi> zum <hi rendition="#g">Marquis Poſa</hi>, oder der Parapluiemacher<lb/><hi rendition="#g">Staberl</hi> zu aller Welt, zu ſagen: Sie, ſag’n wir Du zu ein-<lb/> ander! — Waͤre es wegen unſeres ſonderbaren Deutſchen<lb/> „Sie“ — denn Deutſchland iſt das Vaterland dieſer Du’s —<lb/> da wir kein <hi rendition="#aq">„vous“</hi> und <hi rendition="#aq">„you“</hi> brauchen, ob wir’s gleich<lb/> eben ſo gut und geſcheidt koͤnnten, ja unſere Vorfahren es wirklich<lb/> thaten, ſo moͤchte es eher hingehen. Es iſt aber nichts weni-<lb/> ger als deßhalb.</p><lb/> <p>Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten<lb/> Bruderkuß, welcher oft unter Kaͤuen applizirt wird, zu ent-<lb/> gehen. Alle Schlauheiten des Ueberhoͤrens, des Falſchverſtehens,<lb/> des Ablenkens, ja ſelbſt ein deutliches: „<hi rendition="#g">Ihr</hi> Wohl! <hi rendition="#g">Sie</hi> ſollen<lb/> leben!“ — ein mit einem andern Nachbar angefangenes Geſpraͤch,<lb/> ein fingirtes Naſenbluten ꝛc. ꝛc. ſind haͤufig vergebens, einen<lb/> ſolchen Dutz-Egel ſich vom Leibe zu halten. Das Unabwend-<lb/> bare geſchieht, und der neue bruͤderliche Freund haͤlt ſich von<lb/> dieſem ungluͤckſeligen Augenblick an fuͤr berechtigt, ruͤckſichtslos<lb/> grob zu ſein. Wohl dem, welchen die Natur ſo conſtruirte,<lb/> daß er mit eherner Bruſt zu ſagen vermag: „ich danke ſchoͤnſtens;<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [263/0277]
vorgekommen ſein, daß bei gewiſſen feſtlichen Eſſen ein Freund
den andern denunzirte, dieſer haͤtte nicht laut genug geſchrieen:
ein durch die Beſchuldigung hinlaͤnglich erwieſenes Verbrechen,
welches nicht ohne das groͤßte Mißfallen vermerkt werden
konnte. Bei ſo viel gemachtem, forcirtem und ſurveillirtem Ge-
ſchrei fuͤhlt ſich mancher klare Beobachter, der zugleich ein Menſch
iſt, in ein ſehr appetitſtoͤrendes Mißbehagen verſetzt, und leert
lieber ſein Glas wahr und aufrichtig im Stillen, oder unter
einem blos beifaͤlligen, weniger lauten Brummer, um nicht von
einem andern Menſchen jener unlauteren lauten Claſſe beige-
zaͤhlt zu werden.
Noch hab’ ich derjenigen jungen und alten gemuͤthlichen
Seelen zu erwaͤhnen, welche mit irgend einem unſchuldigen
Mitmenſchen nicht zum dritten Mal eſſen koͤnnen, ohne wie
Don Carlos zum Marquis Poſa, oder der Parapluiemacher
Staberl zu aller Welt, zu ſagen: Sie, ſag’n wir Du zu ein-
ander! — Waͤre es wegen unſeres ſonderbaren Deutſchen
„Sie“ — denn Deutſchland iſt das Vaterland dieſer Du’s —
da wir kein „vous“ und „you“ brauchen, ob wir’s gleich
eben ſo gut und geſcheidt koͤnnten, ja unſere Vorfahren es wirklich
thaten, ſo moͤchte es eher hingehen. Es iſt aber nichts weni-
ger als deßhalb.
Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten
Bruderkuß, welcher oft unter Kaͤuen applizirt wird, zu ent-
gehen. Alle Schlauheiten des Ueberhoͤrens, des Falſchverſtehens,
des Ablenkens, ja ſelbſt ein deutliches: „Ihr Wohl! Sie ſollen
leben!“ — ein mit einem andern Nachbar angefangenes Geſpraͤch,
ein fingirtes Naſenbluten ꝛc. ꝛc. ſind haͤufig vergebens, einen
ſolchen Dutz-Egel ſich vom Leibe zu halten. Das Unabwend-
bare geſchieht, und der neue bruͤderliche Freund haͤlt ſich von
dieſem ungluͤckſeligen Augenblick an fuͤr berechtigt, ruͤckſichtslos
grob zu ſein. Wohl dem, welchen die Natur ſo conſtruirte,
daß er mit eherner Bruſt zu ſagen vermag: „ich danke ſchoͤnſtens;
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