Aber in den Gelehrten, wie sie vom Volke vergessen, so liegt gegenseitig in ihnen der Verfall des Volks, das tiefere Sinken der Gemüther, die Unfähigkeit mit eigenwilliger froher Erge- benheit dienen und mit unbesorgtem allgemeinen Willen zu be- fehlen, ja bis zur Unfähigkeit des Vergnügens, was die tiefste Entartung andeutet, die fast aufgegebene Freiheit des Lebens. -- Die Gelehrten indessen verfassen sich über einer eigenen vor- nehmen Sprache, die auf lange Zeit alles Hohe und Herrliche vom Volke trennte, die sie endlich doch entweder wieder vernich- ten oder allgemein machen müssen, wenn sie einsehen, daß ihr Treiben aller echten Bildung entgegen, die Sprache als etwas Bestehendes für sich auszubilden, da sie doch nothwendig ewig flüssig seyn muß, den Gedanken sich zu fügen, der sich in ihr offenbahrt und ausgießt, denn so und nur so allein wird ihr täglich angeboren, ganz ohne künstliche Beihülfe. Nur wegen dieser Sprachtrennung in dieser Nichtachtung des besseren poeti- schen Theiles vom Volke mangelt dem neueren Deutschlande großentheils Volkspoesie, nur wo es ungelehrter wird, wenig- stens überwiegender in besondrer Bildung der allgemeinen durch Bücher, da entsteht manches Volkslied, das ungedruckt und un- geschrieben zu uns durch die Lüfte dringt, wie eine weisse Krähe: wer auch gefesselt vom Geschäfte, dem läst sie doch den Ring niederfallen des ersten Bundes. Mit wehmüthiger Freude über- kommt uns das alte reine Gefühl des Lebens, von dem wir nicht wissen, wo es gelebt, wie es gelebt, was wir der Kind-
vom Gemeinen frey. Ich würde der beiden Jahrgänge des von Nicolai besorgten feinen Almanachs mit Lob erwähnen, wenn nicht durch die angebefteten schlechten Spässe, wunderliche Schreibart und Ironie ge- gen Herder die Wirkung dieser schätzbaren Sammlung aufgehoben wor- den.
Aber in den Gelehrten, wie ſie vom Volke vergeſſen, ſo liegt gegenſeitig in ihnen der Verfall des Volks, das tiefere Sinken der Gemuͤther, die Unfaͤhigkeit mit eigenwilliger froher Erge- benheit dienen und mit unbeſorgtem allgemeinen Willen zu be- fehlen, ja bis zur Unfaͤhigkeit des Vergnuͤgens, was die tiefſte Entartung andeutet, die faſt aufgegebene Freiheit des Lebens. — Die Gelehrten indeſſen verfaſſen ſich uͤber einer eigenen vor- nehmen Sprache, die auf lange Zeit alles Hohe und Herrliche vom Volke trennte, die ſie endlich doch entweder wieder vernich- ten oder allgemein machen muͤſſen, wenn ſie einſehen, daß ihr Treiben aller echten Bildung entgegen, die Sprache als etwas Beſtehendes fuͤr ſich auszubilden, da ſie doch nothwendig ewig fluͤſſig ſeyn muß, den Gedanken ſich zu fuͤgen, der ſich in ihr offenbahrt und ausgießt, denn ſo und nur ſo allein wird ihr taͤglich angeboren, ganz ohne kuͤnſtliche Beihuͤlfe. Nur wegen dieſer Sprachtrennung in dieſer Nichtachtung des beſſeren poeti- ſchen Theiles vom Volke mangelt dem neueren Deutſchlande großentheils Volkspoeſie, nur wo es ungelehrter wird, wenig- ſtens uͤberwiegender in beſondrer Bildung der allgemeinen durch Buͤcher, da entſteht manches Volkslied, das ungedruckt und un- geſchrieben zu uns durch die Luͤfte dringt, wie eine weiſſe Kraͤhe: wer auch gefeſſelt vom Geſchaͤfte, dem laͤſt ſie doch den Ring niederfallen des erſten Bundes. Mit wehmuͤthiger Freude uͤber- kommt uns das alte reine Gefuͤhl des Lebens, von dem wir nicht wiſſen, wo es gelebt, wie es gelebt, was wir der Kind-
vom Gemeinen frey. Ich wuͤrde der beiden Jahrgaͤnge des von Nicolai beſorgten feinen Almanachs mit Lob erwaͤhnen, wenn nicht durch die angebefteten ſchlechten Spaͤſſe, wunderliche Schreibart und Ironie ge- gen Herder die Wirkung dieſer ſchaͤtzbaren Sammlung aufgehoben wor- den.
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[451[461]/0470]
Aber in den Gelehrten, wie ſie vom Volke vergeſſen, ſo liegt
gegenſeitig in ihnen der Verfall des Volks, das tiefere Sinken
der Gemuͤther, die Unfaͤhigkeit mit eigenwilliger froher Erge-
benheit dienen und mit unbeſorgtem allgemeinen Willen zu be-
fehlen, ja bis zur Unfaͤhigkeit des Vergnuͤgens, was die tiefſte
Entartung andeutet, die faſt aufgegebene Freiheit des Lebens.
— Die Gelehrten indeſſen verfaſſen ſich uͤber einer eigenen vor-
nehmen Sprache, die auf lange Zeit alles Hohe und Herrliche
vom Volke trennte, die ſie endlich doch entweder wieder vernich-
ten oder allgemein machen muͤſſen, wenn ſie einſehen, daß ihr
Treiben aller echten Bildung entgegen, die Sprache als etwas
Beſtehendes fuͤr ſich auszubilden, da ſie doch nothwendig ewig
fluͤſſig ſeyn muß, den Gedanken ſich zu fuͤgen, der ſich in ihr
offenbahrt und ausgießt, denn ſo und nur ſo allein wird ihr
taͤglich angeboren, ganz ohne kuͤnſtliche Beihuͤlfe. Nur wegen
dieſer Sprachtrennung in dieſer Nichtachtung des beſſeren poeti-
ſchen Theiles vom Volke mangelt dem neueren Deutſchlande
großentheils Volkspoeſie, nur wo es ungelehrter wird, wenig-
ſtens uͤberwiegender in beſondrer Bildung der allgemeinen durch
Buͤcher, da entſteht manches Volkslied, das ungedruckt und un-
geſchrieben zu uns durch die Luͤfte dringt, wie eine weiſſe Kraͤhe:
wer auch gefeſſelt vom Geſchaͤfte, dem laͤſt ſie doch den Ring
niederfallen des erſten Bundes. Mit wehmuͤthiger Freude uͤber-
kommt uns das alte reine Gefuͤhl des Lebens, von dem wir
nicht wiſſen, wo es gelebt, wie es gelebt, was wir der Kind-
**)
**) vom Gemeinen frey. Ich wuͤrde der beiden Jahrgaͤnge des von Nicolai
beſorgten feinen Almanachs mit Lob erwaͤhnen, wenn nicht durch die
angebefteten ſchlechten Spaͤſſe, wunderliche Schreibart und Ironie ge-
gen Herder die Wirkung dieſer ſchaͤtzbaren Sammlung aufgehoben wor-
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Arnim, Achim von; Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 1. Heidelberg, 1806, S. 451[461]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_wunderhorn01_1806/470>, abgerufen am 24.11.2024.
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