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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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Augen, so war alles nichts, so war alles ruhig, und ich
empfand keine Störung, nur konnte ich die sogenannte
wirkliche Welt, in der die andern Menschen sich auch
zu befinden behaupten, nicht mehr von dieser Traum-
oder Phantasiewelt unterscheiden; ich wußte nicht, welche
Wachen oder Schlafen war, ja zuletzt glaubte ich im-
mer mehr, daß ich das gewöhnliche Leben nur träume,
und ich muß es noch heut unentschieden lassen, und
werde nach Jahren noch daran zweifeln; dieses Schwe-
ben und Fliegen war mir gar zu gewiß; ich war in-
nerlich stolz darauf und freute mich dieses Bewußtseins;
ein einziger elastischer Druck mit der Spitze der Fuß-
zehen -- und ich war in Lüften; ich schwebte leise und
anmuthig zwei, drei Fuß über der Erde, aber ich be-
rührte sie gleich wieder, und flog wieder auf, -- und
schwebte auf die Seite, von da wieder zurück; so tanzte
ich im Garten im Mondschein hin und her, zu meinem
unaussprechlichen Vergnügen; ich schwebte über die Trep-
pen herab oder herauf, zuweilen hob' ich mich zur Höhe
der niederen Baumäste, und schwirrte zwischen den Zwei-
gen dahin; Morgens erwachte ich in meinem Bett mit
dem Bewußtsein, daß ich fliegen könne, am Tag aber
vergaß ich's. -- Ich schrieb an die Günderode ich weiß
nicht was, sie kam heraus nach Offenbach, sah mich

Augen, ſo war alles nichts, ſo war alles ruhig, und ich
empfand keine Störung, nur konnte ich die ſogenannte
wirkliche Welt, in der die andern Menſchen ſich auch
zu befinden behaupten, nicht mehr von dieſer Traum-
oder Phantaſiewelt unterſcheiden; ich wußte nicht, welche
Wachen oder Schlafen war, ja zuletzt glaubte ich im-
mer mehr, daß ich das gewöhnliche Leben nur träume,
und ich muß es noch heut unentſchieden laſſen, und
werde nach Jahren noch daran zweifeln; dieſes Schwe-
ben und Fliegen war mir gar zu gewiß; ich war in-
nerlich ſtolz darauf und freute mich dieſes Bewußtſeins;
ein einziger elaſtiſcher Druck mit der Spitze der Fuß-
zehen — und ich war in Lüften; ich ſchwebte leiſe und
anmuthig zwei, drei Fuß über der Erde, aber ich be-
rührte ſie gleich wieder, und flog wieder auf, — und
ſchwebte auf die Seite, von da wieder zurück; ſo tanzte
ich im Garten im Mondſchein hin und her, zu meinem
unausſprechlichen Vergnügen; ich ſchwebte über die Trep-
pen herab oder herauf, zuweilen hob' ich mich zur Höhe
der niederen Baumäſte, und ſchwirrte zwiſchen den Zwei-
gen dahin; Morgens erwachte ich in meinem Bett mit
dem Bewußtſein, daß ich fliegen könne, am Tag aber
vergaß ich's. — Ich ſchrieb an die Günderode ich weiß
nicht was, ſie kam heraus nach Offenbach, ſah mich

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[85/0117] Augen, ſo war alles nichts, ſo war alles ruhig, und ich empfand keine Störung, nur konnte ich die ſogenannte wirkliche Welt, in der die andern Menſchen ſich auch zu befinden behaupten, nicht mehr von dieſer Traum- oder Phantaſiewelt unterſcheiden; ich wußte nicht, welche Wachen oder Schlafen war, ja zuletzt glaubte ich im- mer mehr, daß ich das gewöhnliche Leben nur träume, und ich muß es noch heut unentſchieden laſſen, und werde nach Jahren noch daran zweifeln; dieſes Schwe- ben und Fliegen war mir gar zu gewiß; ich war in- nerlich ſtolz darauf und freute mich dieſes Bewußtſeins; ein einziger elaſtiſcher Druck mit der Spitze der Fuß- zehen — und ich war in Lüften; ich ſchwebte leiſe und anmuthig zwei, drei Fuß über der Erde, aber ich be- rührte ſie gleich wieder, und flog wieder auf, — und ſchwebte auf die Seite, von da wieder zurück; ſo tanzte ich im Garten im Mondſchein hin und her, zu meinem unausſprechlichen Vergnügen; ich ſchwebte über die Trep- pen herab oder herauf, zuweilen hob' ich mich zur Höhe der niederen Baumäſte, und ſchwirrte zwiſchen den Zwei- gen dahin; Morgens erwachte ich in meinem Bett mit dem Bewußtſein, daß ich fliegen könne, am Tag aber vergaß ich's. — Ich ſchrieb an die Günderode ich weiß nicht was, ſie kam heraus nach Offenbach, ſah mich

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/117>, abgerufen am 21.11.2024.