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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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den, was aus Dir werden würde, und wie ich in der
Wiege lag, da hat mir's keiner gesungen, daß ich Dich
einst küssen würde.

Hier fand ich alles auf dem alten Fleck; mein Fei-
genbaum hat Feigen gewonnen und seine Blätter aus-
gebreitet; mein Gärtchen auf dem großen Hausaltan,
der von einem Flügel zum andern reicht, steht in voller
Blüthe, der Hopfen reicht bis an's Dach, in die Laube
hab' ich meinen Schreibtisch gesetzt; da sitze ich und
schreib' an Dich und träume von Dir, wenn mir der
Kopf trunken ist, von den Sonnenstrahlen; ach, ich lieg'
so gern' in der Sonne und lasse mich recht durchbrennen.

Gestern ging ich am Stift vorbei, da klingelte ich
nach früherer Gewohnheit, und da lief ich nach dem
kleinen Gang, der nach der Günderode ihrer Wohnung
führt. Die Thüre ist noch verschlossen, es hat noch nie-
mand wieder den Fuß über die Schwelle gesetzt; ich
küßte diese Schwelle, über die sie so oft geschritten ist,
um zu mir zu gehen, und ich zu ihr. -- Ach, wenn sie
noch lebte, welch' neues Leben würde ihr aufgehen,
wenn ich ihr alles erzählte, wie Wir in jenen Nacht-
stunden so still neben einander gesessen haben, die Hände
in einander gefügt, und wie die einzelnen Laute, die
über deine Lippen kamen, mir in's Herz drangen. Ich

den, was aus Dir werden würde, und wie ich in der
Wiege lag, da hat mir's keiner geſungen, daß ich Dich
einſt küſſen würde.

Hier fand ich alles auf dem alten Fleck; mein Fei-
genbaum hat Feigen gewonnen und ſeine Blätter aus-
gebreitet; mein Gärtchen auf dem großen Hausaltan,
der von einem Flügel zum andern reicht, ſteht in voller
Blüthe, der Hopfen reicht bis an's Dach, in die Laube
hab' ich meinen Schreibtiſch geſetzt; da ſitze ich und
ſchreib' an Dich und träume von Dir, wenn mir der
Kopf trunken iſt, von den Sonnenſtrahlen; ach, ich lieg'
ſo gern' in der Sonne und laſſe mich recht durchbrennen.

Geſtern ging ich am Stift vorbei, da klingelte ich
nach früherer Gewohnheit, und da lief ich nach dem
kleinen Gang, der nach der Günderode ihrer Wohnung
führt. Die Thüre iſt noch verſchloſſen, es hat noch nie-
mand wieder den Fuß über die Schwelle geſetzt; ich
küßte dieſe Schwelle, über die ſie ſo oft geſchritten iſt,
um zu mir zu gehen, und ich zu ihr. — Ach, wenn ſie
noch lebte, welch' neues Leben würde ihr aufgehen,
wenn ich ihr alles erzählte, wie Wir in jenen Nacht-
ſtunden ſo ſtill neben einander geſeſſen haben, die Hände
in einander gefügt, und wie die einzelnen Laute, die
über deine Lippen kamen, mir in's Herz drangen. Ich

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[163/0195] den, was aus Dir werden würde, und wie ich in der Wiege lag, da hat mir's keiner geſungen, daß ich Dich einſt küſſen würde. Hier fand ich alles auf dem alten Fleck; mein Fei- genbaum hat Feigen gewonnen und ſeine Blätter aus- gebreitet; mein Gärtchen auf dem großen Hausaltan, der von einem Flügel zum andern reicht, ſteht in voller Blüthe, der Hopfen reicht bis an's Dach, in die Laube hab' ich meinen Schreibtiſch geſetzt; da ſitze ich und ſchreib' an Dich und träume von Dir, wenn mir der Kopf trunken iſt, von den Sonnenſtrahlen; ach, ich lieg' ſo gern' in der Sonne und laſſe mich recht durchbrennen. Geſtern ging ich am Stift vorbei, da klingelte ich nach früherer Gewohnheit, und da lief ich nach dem kleinen Gang, der nach der Günderode ihrer Wohnung führt. Die Thüre iſt noch verſchloſſen, es hat noch nie- mand wieder den Fuß über die Schwelle geſetzt; ich küßte dieſe Schwelle, über die ſie ſo oft geſchritten iſt, um zu mir zu gehen, und ich zu ihr. — Ach, wenn ſie noch lebte, welch' neues Leben würde ihr aufgehen, wenn ich ihr alles erzählte, wie Wir in jenen Nacht- ſtunden ſo ſtill neben einander geſeſſen haben, die Hände in einander gefügt, und wie die einzelnen Laute, die über deine Lippen kamen, mir in's Herz drangen. Ich

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/195>, abgerufen am 17.05.2024.