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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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den eine junge Nonne dort pflegte. Sie hatte ihn
Winters und Sommers in ihrer Zelle; sie richtete sich
in allem nach ihm; sie gab ihm Nachts wie Tags die
Luft, und nur so viel Wärme erhielt sie im Winter,
als ihm noth that. Wie fühlte sie sich belohnt, da er
mit Knospen bedeckt war! Sie zeigte mir sie, schon wie
sie kaum angesetzt hatten; ich half ihn pflegen; alle
Morgen füllte ich den Krug mit Wasser am Madlenen-
brünnchen; die Knospen wuchsen und rötheten sich, end-
lich brachen sie auf; am vierten Tag stand er in vol-
ler Blüthe; eine weiße Zelle jede Blüthe, mit tausend
Strahlenpfeilen in ihrer Mitte, deren jeder auf seiner
Spitze eine Perle darreicht. Er stand im offenen Fen-
ster, die Bienen begrüßten ihn. -- Jetzt erst weiß ich,
daß dieser Baum der Liebe geweiht ist; damals wußt'
ich's nicht; und jetzt verstehe ich ihn. -- Sag': kann
die Liebe süßer gepflegt werden, als dieser Baum? --
und kann eine zärtliche Pflege süßer belohnt werden,
als durch eine so volle Blüthe? -- Ach, die liebe Nonne
mit halb verblühten Rosen auf den Wangen, in Weiß
verhüllt, und der schwarze Florschleier, der ihren raschen
zierlichen Gang umschwebte; wie aus dem weiten Ärmel
des schwarzen wollenen Gewands die schöne Hand her-
vorreichte, um die Blumen zu begießen! Einmal steckte

den eine junge Nonne dort pflegte. Sie hatte ihn
Winters und Sommers in ihrer Zelle; ſie richtete ſich
in allem nach ihm; ſie gab ihm Nachts wie Tags die
Luft, und nur ſo viel Wärme erhielt ſie im Winter,
als ihm noth that. Wie fühlte ſie ſich belohnt, da er
mit Knoſpen bedeckt war! Sie zeigte mir ſie, ſchon wie
ſie kaum angeſetzt hatten; ich half ihn pflegen; alle
Morgen füllte ich den Krug mit Waſſer am Madlenen-
brünnchen; die Knoſpen wuchſen und rötheten ſich, end-
lich brachen ſie auf; am vierten Tag ſtand er in vol-
ler Blüthe; eine weiße Zelle jede Blüthe, mit tauſend
Strahlenpfeilen in ihrer Mitte, deren jeder auf ſeiner
Spitze eine Perle darreicht. Er ſtand im offenen Fen-
ſter, die Bienen begrüßten ihn. — Jetzt erſt weiß ich,
daß dieſer Baum der Liebe geweiht iſt; damals wußt'
ich's nicht; und jetzt verſtehe ich ihn. — Sag': kann
die Liebe ſüßer gepflegt werden, als dieſer Baum? —
und kann eine zärtliche Pflege ſüßer belohnt werden,
als durch eine ſo volle Blüthe? — Ach, die liebe Nonne
mit halb verblühten Roſen auf den Wangen, in Weiß
verhüllt, und der ſchwarze Florſchleier, der ihren raſchen
zierlichen Gang umſchwebte; wie aus dem weiten Ärmel
des ſchwarzen wollenen Gewands die ſchöne Hand her-
vorreichte, um die Blumen zu begießen! Einmal ſteckte

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[326/0358] den eine junge Nonne dort pflegte. Sie hatte ihn Winters und Sommers in ihrer Zelle; ſie richtete ſich in allem nach ihm; ſie gab ihm Nachts wie Tags die Luft, und nur ſo viel Wärme erhielt ſie im Winter, als ihm noth that. Wie fühlte ſie ſich belohnt, da er mit Knoſpen bedeckt war! Sie zeigte mir ſie, ſchon wie ſie kaum angeſetzt hatten; ich half ihn pflegen; alle Morgen füllte ich den Krug mit Waſſer am Madlenen- brünnchen; die Knoſpen wuchſen und rötheten ſich, end- lich brachen ſie auf; am vierten Tag ſtand er in vol- ler Blüthe; eine weiße Zelle jede Blüthe, mit tauſend Strahlenpfeilen in ihrer Mitte, deren jeder auf ſeiner Spitze eine Perle darreicht. Er ſtand im offenen Fen- ſter, die Bienen begrüßten ihn. — Jetzt erſt weiß ich, daß dieſer Baum der Liebe geweiht iſt; damals wußt' ich's nicht; und jetzt verſtehe ich ihn. — Sag': kann die Liebe ſüßer gepflegt werden, als dieſer Baum? — und kann eine zärtliche Pflege ſüßer belohnt werden, als durch eine ſo volle Blüthe? — Ach, die liebe Nonne mit halb verblühten Roſen auf den Wangen, in Weiß verhüllt, und der ſchwarze Florſchleier, der ihren raſchen zierlichen Gang umſchwebte; wie aus dem weiten Ärmel des ſchwarzen wollenen Gewands die ſchöne Hand her- vorreichte, um die Blumen zu begießen! Einmal ſteckte

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/358>, abgerufen am 21.11.2024.