[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.nicht mehr sehen. Ich lebte da ohne Zerstreuung die Runde,
nicht mehr ſehen. Ich lebte da ohne Zerſtreuung die Runde,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0106" n="96"/> nicht mehr ſehen. Ich lebte da ohne Zerſtreuung die<lb/> Tage hindurch; ihre Nähe war mir eine liebe Gewohn-<lb/> heit, es ſchmerzt mich, ſie zu entbehren, hätte ich doch<lb/> etwas, was ſie mir erſetzt! vielleicht ein ander Thier, —<lb/> an die Menſchen dachte ich nicht, im Nachbargarten iſt<lb/> ein Reh in einer Umzäunung, es läuft hin und her an<lb/> der Bretterwand und ſeufzt, ich mache ihm eine Öffnung,<lb/> wo es den Kopf durchſtecken kann. Der Winter hat al-<lb/> les mit Schnee bedeckt, ich ſuche ihm Moos von den<lb/> Bäumen; wir kennen uns, wie ſchön ſind ſeine Augen;<lb/> welche tiefe Seele ſieht mich aus dieſen an, wie wahr,<lb/> wie warm! es legt gern den Kopf in meine Hand und<lb/> ſieht mich an, ich bin ihm auch gut, ich komme ſo oft<lb/> es mich ruft; in den kalten hellen Mondnächten hör'<lb/> ich ſeine Stimme, ich ſpringe aus dem Bett, mit bloßen<lb/> Füßen lauf' ich durch den Schnee, um dich zu beſchwich-<lb/> tigen. Dann biſt du ruhig, wenn du mich geſehen haſt,<lb/> wunderbares Thier, das mich anſieht, anſchreit, als wenn<lb/> es um Erlöſung bäte. Welch feſtes Vertrauen hatt' es<lb/> auf mich, die ich nicht ſeines Gleichen bin! armes Thier,<lb/> du und ich ſind getrennt von unſers Gleichen, wir ſind<lb/> beide einſam, und wir theilen dies Gefühl der Einſam-<lb/> keit; p wie oft hab' ich für dich in den Wald gedacht,<lb/> wo du lang auslaufen konnteſt, und nicht ewig in die<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Runde,</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0106]
nicht mehr ſehen. Ich lebte da ohne Zerſtreuung die
Tage hindurch; ihre Nähe war mir eine liebe Gewohn-
heit, es ſchmerzt mich, ſie zu entbehren, hätte ich doch
etwas, was ſie mir erſetzt! vielleicht ein ander Thier, —
an die Menſchen dachte ich nicht, im Nachbargarten iſt
ein Reh in einer Umzäunung, es läuft hin und her an
der Bretterwand und ſeufzt, ich mache ihm eine Öffnung,
wo es den Kopf durchſtecken kann. Der Winter hat al-
les mit Schnee bedeckt, ich ſuche ihm Moos von den
Bäumen; wir kennen uns, wie ſchön ſind ſeine Augen;
welche tiefe Seele ſieht mich aus dieſen an, wie wahr,
wie warm! es legt gern den Kopf in meine Hand und
ſieht mich an, ich bin ihm auch gut, ich komme ſo oft
es mich ruft; in den kalten hellen Mondnächten hör'
ich ſeine Stimme, ich ſpringe aus dem Bett, mit bloßen
Füßen lauf' ich durch den Schnee, um dich zu beſchwich-
tigen. Dann biſt du ruhig, wenn du mich geſehen haſt,
wunderbares Thier, das mich anſieht, anſchreit, als wenn
es um Erlöſung bäte. Welch feſtes Vertrauen hatt' es
auf mich, die ich nicht ſeines Gleichen bin! armes Thier,
du und ich ſind getrennt von unſers Gleichen, wir ſind
beide einſam, und wir theilen dies Gefühl der Einſam-
keit; p wie oft hab' ich für dich in den Wald gedacht,
wo du lang auslaufen konnteſt, und nicht ewig in die
Runde,
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