Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 10. Augsburg, 10. Januar 1840.

Bild:
<< vorherige Seite


sagt ein Reisender, der vor wenigen Jahren diese Gegenden besuchte, nahmen wir die Richtung gegen das Innere des Landes, und wir erstaunten über die Menge Häuser, die man allenthalben gewahrte, über die reiche Cultur, so wie über die üppige Vegetation des Landes. Die Thäler prangten mit Wiesen, mit Feldern von Mais, der jetzt zum zweitenmal geerntet wurde, und mit türkischem Korn. Die Aecker waren sämmtlich durch lebendige Zäune umgeben, an welchen Weinreben sich emporrankten. Man konnte innerhalb der Thäler auch keinen einzigen unfruchtbaren Ort bemerken; ja das Gras auf den Wiesen stand manchmal so hoch wie das Vieh, das hier weidete. Unzählige Heerden von Schafen und Ziegen, von Kühen und Pferden zeigten sich unsern Blicken, wie wenn das Land nirgendwo von Feinden umgeben wäre, und mitten im Frieden lebte. Dabei muß man bedenken, daß wir uns hier an der nordwestlichen Gränze des Landes, und gerade in der Gegend befanden, welche dem unmittelbaren Einfluß der furchtbaren Operationslinie der Russen ausgesetzt war.

Die zwischen den Hochebenen sich hinziehenden, von steilen Wänden eingeschlossenen Thalspalten des Kaukasus befördern nicht, wie dieß bei ausgedehnteren Thälern der Fall ist, den Verkehr der Bewohner unter einander, sondern erschweren vielmehr jede Verbindung der Völker und Stämme, und zwingen sie zu einsamer Abgeschiedenheit, der sie auch vorzüglich es verdanken, daß unter allen Umwälzungen, welche diesseits und jenseits des Kaukasus sich ereigneten, sie ihre Freiheit und Eigenthümlichkeit ungeschmälert bewahren konnten. Dieser Getrenntheit ist aber andrerseits, gleichwie ehemals in Caledonien und heutigen Tags noch in Afghanistan und Kandahar, die unglückselige Gau- und Klansregierung zuzuschreiben, wie die daraus hervorgehenden unaufhörlichen Raufhändel und erblichen Blutfehden. Kein anderer Landstrich der Erde ist auch deßhalb so reich an mannichfachen, von einander durchaus abweichenden Sitten und Gewohnheiten; kein anderer hat so viele selbstständige, von dem benachbarten Idiom ganz verschiedene Sprachen aufzuweisen, als die Gegenden zwischen dem schwarzen und kaspischen Meere. Jeder Volksstamm, sagt Marlinski, hat selbst seine eigene Art Krieg zu führen und zu rauben, seine eigenen Sitten und Gewohnheiten, seine besonderen Manieren und Launen. Barbarische Rohheit und wilde Abgeschlossenheit bewahren die eigenthümlichen Sitten, so wie die Selbstständigkeit des Charakters, und selbst ursprünglich befreundete Idiome werden sich fremd im Laufe der Zeiten durch lange Abgeschiedenheit, während im Gegentheil die Civilisation und die daraus hervorgehende Annäherung und Verbindung der Menschen unter einander Alles ebnet und abschleift, und sogar angeborne Gegensätze befreundet. Auf den berühmten Marktplatz zu Dioskurias, der alten Pflanzstadt Milets, heutigen Tags noch Iskuria, Iskurtsche oder Iskuriak, ehemals auch Sebastopol geheißen, an dem Flüßchen Marmor in Mingrelien, brachten, nach der Aussage des griechischen Kauffahrers Timosthenes, dreihundert durch Namen, Sprachen, oder wohl richtiger, durch verschiedene Dialekte sich unterscheidende Stämme ihre einheimischen Erzeugnisse, um sie gegen diejenigen Producte und Waaren zu vertauschen, deren sie ermangelten, namentlich Kochsalz, das den Bergbewohnern jetzt noch für sich wie für ihr Vieh ein unentbehrliches Bedürfniß ist. Strabo hält diese Angabe mit Recht für übertrieben, doch glaubt er, daß wohl an siebenzig verschiedene Völkerschaften sich hier versammeln möchten, und Plinius fügt hinzu, daß die zahlreichen Handelsgeschäfte dieses Platzes vermittelst hundert und dreißig Dolmetscher betrieben würden. Dieß könnte wohl in der That der Fall gewesen seyn, wenn sich auch, was höchst wahrscheinlich ist, die iberischen oder georgischen, die albanischen oder lesgischen Klane im Süden des Kaukasus, so wie die sarmatischen oder slavischen und die finnischen oder tschudischen Stämme, welche damals den Nordosten des heutigen Rußlands und die Steppen zwischen der Wolga und dem Donflusse bewohnten, in diesem Weltemporium eingefunden hatten. Es mögen heutigen Tags noch nicht weniger Völker und Klane, es mag keine viel geringere Anzahl von Sprachen und Dialekten innerhalb, nördlich und südlich dieses Gebirgslandes vorhanden seyn; denn häufig ist es der Fall, daß die Bewohner eines Thales die des andern nicht oder nicht vollkommen verstehen. Wir sagen Sprachen oder Dialekte, denn die kaukasischen Idiome sind so wenig erforscht, daß man nicht immer mit Sicherheit angeben kann, welches bloß Dialekt ist, welches eine selbstständige Sprache. Es konnte auch natürlich, unter den jetzigen kriegerischen Verhältnissen, dem russischen Akademiker Sjögren, welcher in der neuesten Zeit in sprachlicher Beziehung den Kaukasus bereiste, nicht gelingen, in die Wohnsitze der verschiedenen Völkerschaften vorzudringen und in diese mannichfache, verwirrte Masse von Völkern und Stämmen, von Sprachen und Sprechweisen Licht und Ordnung zu bringen. Dessen ungeachtet wagt man es, der leichten Uebersicht wegen, nach den zuverlässigsten Angaben die sämmtlichen kaukasischen Völkerschaften und Sprachen in gewisse Familien und Classen abzutheilen.

(Beschluß folgt.)


Nothombs Bericht über die belgischen Eisenbahnen.

(Zweiter Artikel.)

Ehe wir das Wesentlichste über die financielle Seite der belgischen Eisenbahnen anführen, müssen wir eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Die ursprüngliche Idee war, eine Handelsstraße von Ostende und Antwerpen nach dem Rhein zu erbauen; der Personentransport schien dabei Nebensache. Man nahm z. B. an, daß auf der ganzen Linie zwischen Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Verviers und der Gränze jährlich etwa 445,000 Personen circuliren, die ungefähr 500,000 Franken einbringen würden; den Ertrag des Gütertransports veranschlagte man dagegen zu etwa zwei Millionen Franken. Aber schon auf der ersten Section zwischen Brüssel und Mecheln transportirte man vom 5 Mai 1835 bis zum 3 Mai 1836: 563,210 Personen, und von da an bis zu Ende des Jahres 1836 auf den beiden Sectionen zwischen Brüssel, Mecheln und Antwerpen 729,545 Personen, was für ein ganzes Jahr auf nur zwei Sectionen schon eine Million Reisende ausmachte; endlich, wie ich in meinem frühern Briefe bemerkte, belief sich im Jahr 1838 die Zahl der Reisenden, auf den damals fertigen Sectionen, auf 2,238,303 Personen.

Auf den ersten Blick scheint dieß in financieller Hinsicht als eine ungemein günstige Wendung angesehen werden zu müssen; es hat aber auch seine Kehrseite. Indem nicht mehr der Waaren-, sondern der Personentransport die herrschende Idee wurde, und somit alle Provinzen daran ihren Theil haben wollten, wurde das Unternehmen weit über die zuerst angenommenen Verhältnisse hinaus erweitert; mit dem vergrößerten Zweck mußten die Mittel ebenmäßig vergrößert werden; die Zahl der Locomotiven und des Transportmaterials überhaupt stieg daher bedeutend; es mußten mehr Stationen eingerichtet und diese mit Vielem versehen werden, woran man ursprünglich nicht gedacht; der Personentransport erforderte größere Schnelligkeit; wollte man z. B. ursprünglich nicht mehr als vier Lieues in einer Stunde zurücklegen, so legt man jetzt


sagt ein Reisender, der vor wenigen Jahren diese Gegenden besuchte, nahmen wir die Richtung gegen das Innere des Landes, und wir erstaunten über die Menge Häuser, die man allenthalben gewahrte, über die reiche Cultur, so wie über die üppige Vegetation des Landes. Die Thäler prangten mit Wiesen, mit Feldern von Mais, der jetzt zum zweitenmal geerntet wurde, und mit türkischem Korn. Die Aecker waren sämmtlich durch lebendige Zäune umgeben, an welchen Weinreben sich emporrankten. Man konnte innerhalb der Thäler auch keinen einzigen unfruchtbaren Ort bemerken; ja das Gras auf den Wiesen stand manchmal so hoch wie das Vieh, das hier weidete. Unzählige Heerden von Schafen und Ziegen, von Kühen und Pferden zeigten sich unsern Blicken, wie wenn das Land nirgendwo von Feinden umgeben wäre, und mitten im Frieden lebte. Dabei muß man bedenken, daß wir uns hier an der nordwestlichen Gränze des Landes, und gerade in der Gegend befanden, welche dem unmittelbaren Einfluß der furchtbaren Operationslinie der Russen ausgesetzt war.

Die zwischen den Hochebenen sich hinziehenden, von steilen Wänden eingeschlossenen Thalspalten des Kaukasus befördern nicht, wie dieß bei ausgedehnteren Thälern der Fall ist, den Verkehr der Bewohner unter einander, sondern erschweren vielmehr jede Verbindung der Völker und Stämme, und zwingen sie zu einsamer Abgeschiedenheit, der sie auch vorzüglich es verdanken, daß unter allen Umwälzungen, welche diesseits und jenseits des Kaukasus sich ereigneten, sie ihre Freiheit und Eigenthümlichkeit ungeschmälert bewahren konnten. Dieser Getrenntheit ist aber andrerseits, gleichwie ehemals in Caledonien und heutigen Tags noch in Afghanistan und Kandahar, die unglückselige Gau- und Klansregierung zuzuschreiben, wie die daraus hervorgehenden unaufhörlichen Raufhändel und erblichen Blutfehden. Kein anderer Landstrich der Erde ist auch deßhalb so reich an mannichfachen, von einander durchaus abweichenden Sitten und Gewohnheiten; kein anderer hat so viele selbstständige, von dem benachbarten Idiom ganz verschiedene Sprachen aufzuweisen, als die Gegenden zwischen dem schwarzen und kaspischen Meere. Jeder Volksstamm, sagt Marlinski, hat selbst seine eigene Art Krieg zu führen und zu rauben, seine eigenen Sitten und Gewohnheiten, seine besonderen Manieren und Launen. Barbarische Rohheit und wilde Abgeschlossenheit bewahren die eigenthümlichen Sitten, so wie die Selbstständigkeit des Charakters, und selbst ursprünglich befreundete Idiome werden sich fremd im Laufe der Zeiten durch lange Abgeschiedenheit, während im Gegentheil die Civilisation und die daraus hervorgehende Annäherung und Verbindung der Menschen unter einander Alles ebnet und abschleift, und sogar angeborne Gegensätze befreundet. Auf den berühmten Marktplatz zu Dioskurias, der alten Pflanzstadt Milets, heutigen Tags noch Iskuria, Iskurtsche oder Iskuriak, ehemals auch Sebastopol geheißen, an dem Flüßchen Marmor in Mingrelien, brachten, nach der Aussage des griechischen Kauffahrers Timosthenes, dreihundert durch Namen, Sprachen, oder wohl richtiger, durch verschiedene Dialekte sich unterscheidende Stämme ihre einheimischen Erzeugnisse, um sie gegen diejenigen Producte und Waaren zu vertauschen, deren sie ermangelten, namentlich Kochsalz, das den Bergbewohnern jetzt noch für sich wie für ihr Vieh ein unentbehrliches Bedürfniß ist. Strabo hält diese Angabe mit Recht für übertrieben, doch glaubt er, daß wohl an siebenzig verschiedene Völkerschaften sich hier versammeln möchten, und Plinius fügt hinzu, daß die zahlreichen Handelsgeschäfte dieses Platzes vermittelst hundert und dreißig Dolmetscher betrieben würden. Dieß könnte wohl in der That der Fall gewesen seyn, wenn sich auch, was höchst wahrscheinlich ist, die iberischen oder georgischen, die albanischen oder lesgischen Klane im Süden des Kaukasus, so wie die sarmatischen oder slavischen und die finnischen oder tschudischen Stämme, welche damals den Nordosten des heutigen Rußlands und die Steppen zwischen der Wolga und dem Donflusse bewohnten, in diesem Weltemporium eingefunden hatten. Es mögen heutigen Tags noch nicht weniger Völker und Klane, es mag keine viel geringere Anzahl von Sprachen und Dialekten innerhalb, nördlich und südlich dieses Gebirgslandes vorhanden seyn; denn häufig ist es der Fall, daß die Bewohner eines Thales die des andern nicht oder nicht vollkommen verstehen. Wir sagen Sprachen oder Dialekte, denn die kaukasischen Idiome sind so wenig erforscht, daß man nicht immer mit Sicherheit angeben kann, welches bloß Dialekt ist, welches eine selbstständige Sprache. Es konnte auch natürlich, unter den jetzigen kriegerischen Verhältnissen, dem russischen Akademiker Sjögren, welcher in der neuesten Zeit in sprachlicher Beziehung den Kaukasus bereiste, nicht gelingen, in die Wohnsitze der verschiedenen Völkerschaften vorzudringen und in diese mannichfache, verwirrte Masse von Völkern und Stämmen, von Sprachen und Sprechweisen Licht und Ordnung zu bringen. Dessen ungeachtet wagt man es, der leichten Uebersicht wegen, nach den zuverlässigsten Angaben die sämmtlichen kaukasischen Völkerschaften und Sprachen in gewisse Familien und Classen abzutheilen.

(Beschluß folgt.)


Nothombs Bericht über die belgischen Eisenbahnen.

(Zweiter Artikel.)

Ehe wir das Wesentlichste über die financielle Seite der belgischen Eisenbahnen anführen, müssen wir eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Die ursprüngliche Idee war, eine Handelsstraße von Ostende und Antwerpen nach dem Rhein zu erbauen; der Personentransport schien dabei Nebensache. Man nahm z. B. an, daß auf der ganzen Linie zwischen Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Verviers und der Gränze jährlich etwa 445,000 Personen circuliren, die ungefähr 500,000 Franken einbringen würden; den Ertrag des Gütertransports veranschlagte man dagegen zu etwa zwei Millionen Franken. Aber schon auf der ersten Section zwischen Brüssel und Mecheln transportirte man vom 5 Mai 1835 bis zum 3 Mai 1836: 563,210 Personen, und von da an bis zu Ende des Jahres 1836 auf den beiden Sectionen zwischen Brüssel, Mecheln und Antwerpen 729,545 Personen, was für ein ganzes Jahr auf nur zwei Sectionen schon eine Million Reisende ausmachte; endlich, wie ich in meinem frühern Briefe bemerkte, belief sich im Jahr 1838 die Zahl der Reisenden, auf den damals fertigen Sectionen, auf 2,238,303 Personen.

Auf den ersten Blick scheint dieß in financieller Hinsicht als eine ungemein günstige Wendung angesehen werden zu müssen; es hat aber auch seine Kehrseite. Indem nicht mehr der Waaren-, sondern der Personentransport die herrschende Idee wurde, und somit alle Provinzen daran ihren Theil haben wollten, wurde das Unternehmen weit über die zuerst angenommenen Verhältnisse hinaus erweitert; mit dem vergrößerten Zweck mußten die Mittel ebenmäßig vergrößert werden; die Zahl der Locomotiven und des Transportmaterials überhaupt stieg daher bedeutend; es mußten mehr Stationen eingerichtet und diese mit Vielem versehen werden, woran man ursprünglich nicht gedacht; der Personentransport erforderte größere Schnelligkeit; wollte man z. B. ursprünglich nicht mehr als vier Lieues in einer Stunde zurücklegen, so legt man jetzt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jSupplement" n="1">
        <floatingText>
          <body>
            <div type="jArticle" n="2">
              <p><pb facs="#f0011" n="0075"/><lb/>
sagt ein Reisender, der vor wenigen Jahren diese Gegenden besuchte, nahmen wir die Richtung gegen das Innere des Landes, und wir erstaunten über die Menge Häuser, die man allenthalben gewahrte, über die reiche Cultur, so wie über die üppige Vegetation des Landes. Die Thäler prangten mit Wiesen, mit Feldern von Mais, der jetzt zum zweitenmal geerntet wurde, und mit türkischem Korn. Die Aecker waren sämmtlich durch lebendige Zäune umgeben, an welchen Weinreben sich emporrankten. Man konnte innerhalb der Thäler auch keinen einzigen unfruchtbaren Ort bemerken; ja das Gras auf den Wiesen stand manchmal so hoch wie das Vieh, das hier weidete. Unzählige Heerden von Schafen und Ziegen, von Kühen und Pferden zeigten sich unsern Blicken, wie wenn das Land nirgendwo von Feinden umgeben wäre, und mitten im Frieden lebte. Dabei muß man bedenken, daß wir uns hier an der nordwestlichen Gränze des Landes, und gerade in der Gegend befanden, welche dem unmittelbaren Einfluß der furchtbaren Operationslinie der Russen ausgesetzt war.</p><lb/>
              <p>Die zwischen den Hochebenen sich hinziehenden, von steilen Wänden eingeschlossenen Thalspalten des Kaukasus befördern nicht, wie dieß bei ausgedehnteren Thälern der Fall ist, den Verkehr der Bewohner unter einander, sondern erschweren vielmehr jede Verbindung der Völker und Stämme, und zwingen sie zu einsamer Abgeschiedenheit, der sie auch vorzüglich es verdanken, daß unter allen Umwälzungen, welche diesseits und jenseits des Kaukasus sich ereigneten, sie ihre Freiheit und Eigenthümlichkeit ungeschmälert bewahren konnten. Dieser Getrenntheit ist aber andrerseits, gleichwie ehemals in Caledonien und heutigen Tags noch in Afghanistan und Kandahar, die unglückselige Gau- und Klansregierung zuzuschreiben, wie die daraus hervorgehenden unaufhörlichen Raufhändel und erblichen Blutfehden. Kein anderer Landstrich der Erde ist auch deßhalb so reich an mannichfachen, von einander durchaus abweichenden Sitten und Gewohnheiten; kein anderer hat so viele selbstständige, von dem benachbarten Idiom ganz verschiedene Sprachen aufzuweisen, als die Gegenden zwischen dem schwarzen und kaspischen Meere. Jeder Volksstamm, sagt Marlinski, hat selbst seine eigene Art Krieg zu führen und zu rauben, seine eigenen Sitten und Gewohnheiten, seine besonderen Manieren und Launen. Barbarische Rohheit und wilde Abgeschlossenheit bewahren die eigenthümlichen Sitten, so wie die Selbstständigkeit des Charakters, und selbst ursprünglich befreundete Idiome werden sich fremd im Laufe der Zeiten durch lange Abgeschiedenheit, während im Gegentheil die Civilisation und die daraus hervorgehende Annäherung und Verbindung der Menschen unter einander Alles ebnet und abschleift, und sogar angeborne Gegensätze befreundet. Auf den berühmten Marktplatz zu Dioskurias, der alten Pflanzstadt Milets, heutigen Tags noch Iskuria, Iskurtsche oder Iskuriak, ehemals auch Sebastopol geheißen, an dem Flüßchen Marmor in Mingrelien, brachten, nach der Aussage des griechischen Kauffahrers Timosthenes, dreihundert durch Namen, Sprachen, oder wohl richtiger, durch verschiedene Dialekte sich unterscheidende Stämme ihre einheimischen Erzeugnisse, um sie gegen diejenigen Producte und Waaren zu vertauschen, deren sie ermangelten, namentlich Kochsalz, das den Bergbewohnern jetzt noch für sich wie für ihr Vieh ein unentbehrliches Bedürfniß ist. Strabo hält diese Angabe mit Recht für übertrieben, doch glaubt er, daß wohl an siebenzig verschiedene Völkerschaften sich hier versammeln möchten, und Plinius fügt hinzu, daß die zahlreichen Handelsgeschäfte dieses Platzes vermittelst hundert und dreißig Dolmetscher betrieben würden. Dieß könnte wohl in der That der Fall gewesen seyn, wenn sich auch, was höchst wahrscheinlich ist, die iberischen oder georgischen, die albanischen oder lesgischen Klane im Süden des Kaukasus, so wie die sarmatischen oder slavischen und die finnischen oder tschudischen Stämme, welche damals den Nordosten des heutigen Rußlands und die Steppen zwischen der Wolga und dem Donflusse bewohnten, in diesem Weltemporium eingefunden hatten. Es mögen heutigen Tags noch nicht weniger Völker und Klane, es mag keine viel geringere Anzahl von Sprachen und Dialekten innerhalb, nördlich und südlich dieses Gebirgslandes vorhanden seyn; denn häufig ist es der Fall, daß die Bewohner eines Thales die des andern nicht oder nicht vollkommen verstehen. Wir sagen Sprachen oder Dialekte, denn die kaukasischen Idiome sind so wenig erforscht, daß man nicht immer mit Sicherheit angeben kann, welches bloß Dialekt ist, welches eine selbstständige Sprache. Es konnte auch natürlich, unter den jetzigen kriegerischen Verhältnissen, dem russischen Akademiker <hi rendition="#g">Sjögren</hi>, welcher in der neuesten Zeit in sprachlicher Beziehung den Kaukasus bereiste, nicht gelingen, in die Wohnsitze der verschiedenen Völkerschaften vorzudringen und in diese mannichfache, verwirrte Masse von Völkern und Stämmen, von Sprachen und Sprechweisen Licht und Ordnung zu bringen. Dessen ungeachtet wagt man es, der leichten Uebersicht wegen, nach den zuverlässigsten Angaben die sämmtlichen kaukasischen Völkerschaften und Sprachen in gewisse Familien und Classen abzutheilen.</p><lb/>
              <p>(Beschluß folgt.)</p><lb/>
            </div>
            <div type="jArticle" n="2">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Nothombs Bericht über die belgischen Eisenbahnen</hi>.</hi> </head><lb/>
              <p>(<hi rendition="#g">Zweiter Artikel</hi>.)</p><lb/>
              <div type="jArticle" n="3">
                <byline>&#x271D;</byline>
                <dateline><hi rendition="#b">Brüssel,</hi> 27 Dec.</dateline>
                <p> Ehe wir das Wesentlichste über die financielle Seite der belgischen Eisenbahnen anführen, müssen wir eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Die ursprüngliche Idee war, eine Handelsstraße von Ostende und Antwerpen nach dem Rhein zu erbauen; der Personentransport schien dabei Nebensache. Man nahm z. B. an, daß auf der ganzen Linie zwischen Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Verviers und der Gränze jährlich etwa 445,000 Personen circuliren, die ungefähr 500,000 Franken einbringen würden; den Ertrag des Gütertransports veranschlagte man dagegen zu etwa zwei Millionen Franken. Aber schon auf der ersten Section zwischen Brüssel und Mecheln transportirte man vom 5 Mai 1835 bis zum 3 Mai 1836: 563,210 Personen, und von da an bis zu Ende des Jahres 1836 auf den beiden Sectionen zwischen Brüssel, Mecheln und Antwerpen 729,545 Personen, was für ein ganzes Jahr auf nur zwei Sectionen schon eine Million Reisende ausmachte; endlich, wie ich in meinem frühern Briefe bemerkte, belief sich im Jahr 1838 die Zahl der Reisenden, auf den damals fertigen Sectionen, auf 2,238,303 Personen.</p><lb/>
                <p>Auf den ersten Blick scheint dieß in financieller Hinsicht als eine ungemein günstige Wendung angesehen werden zu müssen; es hat aber auch seine Kehrseite. Indem nicht mehr der Waaren-, sondern der Personentransport die herrschende Idee wurde, und somit alle Provinzen daran ihren Theil haben wollten, wurde das Unternehmen weit über die zuerst angenommenen Verhältnisse hinaus erweitert; mit dem vergrößerten Zweck mußten die Mittel ebenmäßig vergrößert werden; die Zahl der Locomotiven und des Transportmaterials überhaupt stieg daher bedeutend; es mußten mehr Stationen eingerichtet und diese mit Vielem versehen werden, woran man ursprünglich nicht gedacht; der Personentransport erforderte größere Schnelligkeit; wollte man z. B. ursprünglich nicht mehr als vier Lieues in einer Stunde zurücklegen, so legt man jetzt<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </body>
        </floatingText>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0075/0011] sagt ein Reisender, der vor wenigen Jahren diese Gegenden besuchte, nahmen wir die Richtung gegen das Innere des Landes, und wir erstaunten über die Menge Häuser, die man allenthalben gewahrte, über die reiche Cultur, so wie über die üppige Vegetation des Landes. Die Thäler prangten mit Wiesen, mit Feldern von Mais, der jetzt zum zweitenmal geerntet wurde, und mit türkischem Korn. Die Aecker waren sämmtlich durch lebendige Zäune umgeben, an welchen Weinreben sich emporrankten. Man konnte innerhalb der Thäler auch keinen einzigen unfruchtbaren Ort bemerken; ja das Gras auf den Wiesen stand manchmal so hoch wie das Vieh, das hier weidete. Unzählige Heerden von Schafen und Ziegen, von Kühen und Pferden zeigten sich unsern Blicken, wie wenn das Land nirgendwo von Feinden umgeben wäre, und mitten im Frieden lebte. Dabei muß man bedenken, daß wir uns hier an der nordwestlichen Gränze des Landes, und gerade in der Gegend befanden, welche dem unmittelbaren Einfluß der furchtbaren Operationslinie der Russen ausgesetzt war. Die zwischen den Hochebenen sich hinziehenden, von steilen Wänden eingeschlossenen Thalspalten des Kaukasus befördern nicht, wie dieß bei ausgedehnteren Thälern der Fall ist, den Verkehr der Bewohner unter einander, sondern erschweren vielmehr jede Verbindung der Völker und Stämme, und zwingen sie zu einsamer Abgeschiedenheit, der sie auch vorzüglich es verdanken, daß unter allen Umwälzungen, welche diesseits und jenseits des Kaukasus sich ereigneten, sie ihre Freiheit und Eigenthümlichkeit ungeschmälert bewahren konnten. Dieser Getrenntheit ist aber andrerseits, gleichwie ehemals in Caledonien und heutigen Tags noch in Afghanistan und Kandahar, die unglückselige Gau- und Klansregierung zuzuschreiben, wie die daraus hervorgehenden unaufhörlichen Raufhändel und erblichen Blutfehden. Kein anderer Landstrich der Erde ist auch deßhalb so reich an mannichfachen, von einander durchaus abweichenden Sitten und Gewohnheiten; kein anderer hat so viele selbstständige, von dem benachbarten Idiom ganz verschiedene Sprachen aufzuweisen, als die Gegenden zwischen dem schwarzen und kaspischen Meere. Jeder Volksstamm, sagt Marlinski, hat selbst seine eigene Art Krieg zu führen und zu rauben, seine eigenen Sitten und Gewohnheiten, seine besonderen Manieren und Launen. Barbarische Rohheit und wilde Abgeschlossenheit bewahren die eigenthümlichen Sitten, so wie die Selbstständigkeit des Charakters, und selbst ursprünglich befreundete Idiome werden sich fremd im Laufe der Zeiten durch lange Abgeschiedenheit, während im Gegentheil die Civilisation und die daraus hervorgehende Annäherung und Verbindung der Menschen unter einander Alles ebnet und abschleift, und sogar angeborne Gegensätze befreundet. Auf den berühmten Marktplatz zu Dioskurias, der alten Pflanzstadt Milets, heutigen Tags noch Iskuria, Iskurtsche oder Iskuriak, ehemals auch Sebastopol geheißen, an dem Flüßchen Marmor in Mingrelien, brachten, nach der Aussage des griechischen Kauffahrers Timosthenes, dreihundert durch Namen, Sprachen, oder wohl richtiger, durch verschiedene Dialekte sich unterscheidende Stämme ihre einheimischen Erzeugnisse, um sie gegen diejenigen Producte und Waaren zu vertauschen, deren sie ermangelten, namentlich Kochsalz, das den Bergbewohnern jetzt noch für sich wie für ihr Vieh ein unentbehrliches Bedürfniß ist. Strabo hält diese Angabe mit Recht für übertrieben, doch glaubt er, daß wohl an siebenzig verschiedene Völkerschaften sich hier versammeln möchten, und Plinius fügt hinzu, daß die zahlreichen Handelsgeschäfte dieses Platzes vermittelst hundert und dreißig Dolmetscher betrieben würden. Dieß könnte wohl in der That der Fall gewesen seyn, wenn sich auch, was höchst wahrscheinlich ist, die iberischen oder georgischen, die albanischen oder lesgischen Klane im Süden des Kaukasus, so wie die sarmatischen oder slavischen und die finnischen oder tschudischen Stämme, welche damals den Nordosten des heutigen Rußlands und die Steppen zwischen der Wolga und dem Donflusse bewohnten, in diesem Weltemporium eingefunden hatten. Es mögen heutigen Tags noch nicht weniger Völker und Klane, es mag keine viel geringere Anzahl von Sprachen und Dialekten innerhalb, nördlich und südlich dieses Gebirgslandes vorhanden seyn; denn häufig ist es der Fall, daß die Bewohner eines Thales die des andern nicht oder nicht vollkommen verstehen. Wir sagen Sprachen oder Dialekte, denn die kaukasischen Idiome sind so wenig erforscht, daß man nicht immer mit Sicherheit angeben kann, welches bloß Dialekt ist, welches eine selbstständige Sprache. Es konnte auch natürlich, unter den jetzigen kriegerischen Verhältnissen, dem russischen Akademiker Sjögren, welcher in der neuesten Zeit in sprachlicher Beziehung den Kaukasus bereiste, nicht gelingen, in die Wohnsitze der verschiedenen Völkerschaften vorzudringen und in diese mannichfache, verwirrte Masse von Völkern und Stämmen, von Sprachen und Sprechweisen Licht und Ordnung zu bringen. Dessen ungeachtet wagt man es, der leichten Uebersicht wegen, nach den zuverlässigsten Angaben die sämmtlichen kaukasischen Völkerschaften und Sprachen in gewisse Familien und Classen abzutheilen. (Beschluß folgt.) Nothombs Bericht über die belgischen Eisenbahnen. (Zweiter Artikel.) ✝ Brüssel, 27 Dec. Ehe wir das Wesentlichste über die financielle Seite der belgischen Eisenbahnen anführen, müssen wir eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Die ursprüngliche Idee war, eine Handelsstraße von Ostende und Antwerpen nach dem Rhein zu erbauen; der Personentransport schien dabei Nebensache. Man nahm z. B. an, daß auf der ganzen Linie zwischen Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Verviers und der Gränze jährlich etwa 445,000 Personen circuliren, die ungefähr 500,000 Franken einbringen würden; den Ertrag des Gütertransports veranschlagte man dagegen zu etwa zwei Millionen Franken. Aber schon auf der ersten Section zwischen Brüssel und Mecheln transportirte man vom 5 Mai 1835 bis zum 3 Mai 1836: 563,210 Personen, und von da an bis zu Ende des Jahres 1836 auf den beiden Sectionen zwischen Brüssel, Mecheln und Antwerpen 729,545 Personen, was für ein ganzes Jahr auf nur zwei Sectionen schon eine Million Reisende ausmachte; endlich, wie ich in meinem frühern Briefe bemerkte, belief sich im Jahr 1838 die Zahl der Reisenden, auf den damals fertigen Sectionen, auf 2,238,303 Personen. Auf den ersten Blick scheint dieß in financieller Hinsicht als eine ungemein günstige Wendung angesehen werden zu müssen; es hat aber auch seine Kehrseite. Indem nicht mehr der Waaren-, sondern der Personentransport die herrschende Idee wurde, und somit alle Provinzen daran ihren Theil haben wollten, wurde das Unternehmen weit über die zuerst angenommenen Verhältnisse hinaus erweitert; mit dem vergrößerten Zweck mußten die Mittel ebenmäßig vergrößert werden; die Zahl der Locomotiven und des Transportmaterials überhaupt stieg daher bedeutend; es mußten mehr Stationen eingerichtet und diese mit Vielem versehen werden, woran man ursprünglich nicht gedacht; der Personentransport erforderte größere Schnelligkeit; wollte man z. B. ursprünglich nicht mehr als vier Lieues in einer Stunde zurücklegen, so legt man jetzt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_010_18400110
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_010_18400110/11
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 10. Augsburg, 10. Januar 1840, S. 0075. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_010_18400110/11>, abgerufen am 03.12.2024.