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Allgemeine Zeitung. Nr. 24. Augsburg, 24. Januar 1840.

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Hr. Thiers hat vor Allem das Verdienst, in jenen meist diffusen, leeren oder parteisüchtigen Erörterungen der französischen Verhältnisse zum Auslande die orientalische Frage auf ihren factischen Bestand zurückgeführt und sich in dem Kreise der Thatsachen mit Klugheit, Schonung und Gewandtheit bewegt zu haben.

Er hat den thörichten Behauptungen des Hrn. v. Lamartine, daß die arabische wie die türkische Nationalität todt sey, und man darum die Türkei theilen müsse, die Thatsache entgegengestellt, daß Niemand theilen wolle, weil alle Welt, Rußland nicht ausgenommen, aufrichtig den Frieden wolle, und hatte ganz Recht, dieses zu thun. In der That ist die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den europäischen Frieden zu erhalten, der geheime Talisman, der trotz aller Zerwürfnisse der Cabinette die Furie des Kriegs gelähmt hält: man fühlt in St. Petersburg so gut wie in Wien und Paris, daß, einmal losgelassen, sie alle anarchischen Leidenschaften zum Vortheil der revolutionären Bewegung neu aufwecken und unübersehliches Verderben über Throne und Völker bringen würde. Darum geht jede Macht in ihren Forderungen oder Bewegungen gegen die andern nie bis an die Linie, hinter der der Krieg liegt. Selbst Frankreich weicht, trotz der Entschiedenheit und des Uebermuths, mit dem es die orientalischen Probleme allein und in seinem Interesse lösen wollte, vor jener Linie zurück, und erklärt, daß es dem Pascha, seinem Schützling, im Fall Rußland und England gegen ihn einschreiten, nicht beistehen wird. Aber was Hr. Thiers nicht berührt hat, ist eben die Unvermeidlichlichkeit eines europäischen Kriegs für den Fall, daß eine Theilung der Türkei für die Franzosen den Erwerb des linken Rheinufers in Aussicht stellen sollte. Hr. v. Lamartine und seinesgleichen verfahren hierbei, als ob die Karte von Europa außer Frankreich und Rußland nichts enthielte, und beide Staaten nicht durch unabhängige, starke und kriegerische Völker, durch 50 Millionen Deutsche und die den Deutschen zugewendeten Stämme getrennt wären: Frankreich würde, welches auch seine Verbindungen mit Rußland wären, um den Rhein einen Kampf zu bestehen haben, wo die unmittelbar betheiligten deutschen Mächte mit Preußen, Belgien und Holland in erster, Oesterreich mit Italien und Piemont in zweiter, England in dritter Linie fechten würden. Denn man hat noch nirgends vergessen, daß Frankreich, im Besitze des Rheins, Deutschland beherrscht, und daß es dadurch der Schiedsrichter von Europa wird. Hr. Thiers hat sich wohl gehütet, diese Saite anzuschlagen, die in französischen Ohren ein Mißton ist. Er wünscht den Rhein nicht weniger als der poetische Staatsmann von Macon: er weist "die Größe" (la grandeur) von Frankreich nicht von sich, wenn sie ohne Verletzung dringender Interessen zu haben ist, und da er dabei von der "Grandeur" Frankreichs als von einer schon bestehenden Sache spricht, so ist klar, daß er unter dieser besondern grandeur das aggrandissement, und unter diesem die frontiere naturelle verstanden hat. Auch eröffnet er die Aussicht darauf selbst von dem Standpunkt der Ruhe und des Zuwartens, den er Frankreich für den Fall anweist, daß England und Rußland sich verständigten. Denn diese Verständigung werde nicht lange dauern, es werde aus der Freundschaft, zufolge einer innern Nothwendigkeit der Lage und Interessen, bald der Bruch hervortreten, dann werde man Frankreichs Freundschaft suchen, und selbst England werde, um sie zu erlangen, ihm dafür jeden Preis als Kaufschilling zu Füßen legen, was denn natürlich nur die gehoffte "grandeur" seyn kann und darf. Beide Staatsredner, so disparat sie auch auf den ersten Anblick scheinen, sind also doch in der Hauptsache einig. Hrn. v. Lamartine bekümmert es nicht, was aus dem Pascha von Aegypten und dem Sultan wird, er fragt eben so wenig nach der politischen tabula rasa, wofür er unser Deutschland ansieht, er will den Rhein haben. Hr. Thiers fragt eben so wenig nach allem dem: er will den Rhein haben; doch hofft er ihn von England statt von Rußland, und hofft ihn durch Warten als Kaufpreis statt durch Zugreifen als Beute zu bekommen. Das ist der ganze Unterschied, und man kann daraus abnehmen, ob der gefeierte Held des 13 Januars (dieß ist der Tag seines letzten parlamenrarischen Triumphs) nur einen Zoll breit über den engen und verbauten Horizont der gemeinen französischen Politik hinaussieht, die uns in den politischen Meditationen, Repetitionen und Amplificationen der HH. Noailles, Mauguin, Lamartine und Genossen auch dieses Jahr wieder zur Genüge vorgetragen worden ist. Ja vielleicht ist Hr. Lamartine mit seiner naiven und offenen Schamlosigkeit noch erträglicher, als Hr. Thiers mit seiner berechnenden Schlauheit.

(Fortsetzung folgt.)


Zustand von Griechenland gegenüber der Türkei.

(Beschluß.) Wir sind nicht gesonnen, unserer Meldung von der sich entwickelnden Bildung in Griechenland durch Uebertreibung oder durch Verkennung dessen, was zu wünschen bleibt und was fehlt, die Glaubwürdigkeit zu entziehen. So gewiß es ist, daß die Regentschaft sowohl als die spätere Regierung in dem Wunsch, das Volk zu erziehen und Bildung und Wissenschaft zu verbreiten, hinter keiner andern zurückgeblieben, so sehr scheint uns die Ausführung der edlen Absichten des Königs in mancher Beziehung gehemmt. Der Grund davon liegt hauptsächlich in dem Mangel eines tüchtigen und thätigen Ministeriums des öffentlichen Unterrichts. Leider ist von der Zeit des ersten Erscheinens der Regentschaft an das Ministerium des Unterrichts, welches zumal in Griechenland so wichtig, ja wichtiger ist als irgend ein anderes, stets nur das Anhängsel eines andern Ministeriums gewesen. Wie aber ist es möglich, daß selbst der fähigste Minister in einem Lande, wo Alles zu organisiren ist, zugleich die erforderliche Sorge auf die Justiz und den Unterricht, oder gar auf das Innere und den Unterricht verwenden kann, zumal wenn noch die auch in Griechenland intriguirte Angelegenheit des Cultus hinzukommt? Jetzt und schon seit geraumer Zeit ist der Minister des Innern auch Minister des Unterrichts und der leider damit verbundenen geistlichen Angelegenheiten. Nicht nur Hr. Klarakis, sondern jeder Minister ist außer Stand, einer so umfassenden Aufgabe zu genügen. Der factische Zustand beweist das vollkommen. Was zuerst das Volksschulwesen betrifft, so fehlt es nicht nur überall an der nöthigen Zahl von Schulen, sondern es herrscht auch in den vorhandenen meistens eine Methode, die unserer Zeit ganz unwürdig ist. Daß dennoch so viele Griechen lesen, schreiben und rechnen können, ist vielmehr das Verdienst der Knaben, als der Schulen. Wenn wir nicht irren, so sind unter den lesenden und schreibenden Griechen viel mehr, welche, schon erwachsen, auf der Straße, im Lager, im Kaffeehaus einer von dem andern gelernt haben, als in der Schule. Den jetzt vorhandenen Schulen kommt aber der außerordentliche Eifer sowohl der Lehrer, trotz ihrer unzweckmäßigen Methode, als der Schüler hauptsächlich zu Hülfe. Die Lernbegierde der Griechen veranlaßt fortwährende Klage über den Mangel an Schulen, in denen sie mehr als die Elemente zu lernen begehren. Die sogenannten hellenischen Schulen, welche zwischen den Volksschulen und den Gymnasien stehen, und welche die griechische Bildung auch denen, die nicht


Hr. Thiers hat vor Allem das Verdienst, in jenen meist diffusen, leeren oder parteisüchtigen Erörterungen der französischen Verhältnisse zum Auslande die orientalische Frage auf ihren factischen Bestand zurückgeführt und sich in dem Kreise der Thatsachen mit Klugheit, Schonung und Gewandtheit bewegt zu haben.

Er hat den thörichten Behauptungen des Hrn. v. Lamartine, daß die arabische wie die türkische Nationalität todt sey, und man darum die Türkei theilen müsse, die Thatsache entgegengestellt, daß Niemand theilen wolle, weil alle Welt, Rußland nicht ausgenommen, aufrichtig den Frieden wolle, und hatte ganz Recht, dieses zu thun. In der That ist die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den europäischen Frieden zu erhalten, der geheime Talisman, der trotz aller Zerwürfnisse der Cabinette die Furie des Kriegs gelähmt hält: man fühlt in St. Petersburg so gut wie in Wien und Paris, daß, einmal losgelassen, sie alle anarchischen Leidenschaften zum Vortheil der revolutionären Bewegung neu aufwecken und unübersehliches Verderben über Throne und Völker bringen würde. Darum geht jede Macht in ihren Forderungen oder Bewegungen gegen die andern nie bis an die Linie, hinter der der Krieg liegt. Selbst Frankreich weicht, trotz der Entschiedenheit und des Uebermuths, mit dem es die orientalischen Probleme allein und in seinem Interesse lösen wollte, vor jener Linie zurück, und erklärt, daß es dem Pascha, seinem Schützling, im Fall Rußland und England gegen ihn einschreiten, nicht beistehen wird. Aber was Hr. Thiers nicht berührt hat, ist eben die Unvermeidlichlichkeit eines europäischen Kriegs für den Fall, daß eine Theilung der Türkei für die Franzosen den Erwerb des linken Rheinufers in Aussicht stellen sollte. Hr. v. Lamartine und seinesgleichen verfahren hierbei, als ob die Karte von Europa außer Frankreich und Rußland nichts enthielte, und beide Staaten nicht durch unabhängige, starke und kriegerische Völker, durch 50 Millionen Deutsche und die den Deutschen zugewendeten Stämme getrennt wären: Frankreich würde, welches auch seine Verbindungen mit Rußland wären, um den Rhein einen Kampf zu bestehen haben, wo die unmittelbar betheiligten deutschen Mächte mit Preußen, Belgien und Holland in erster, Oesterreich mit Italien und Piemont in zweiter, England in dritter Linie fechten würden. Denn man hat noch nirgends vergessen, daß Frankreich, im Besitze des Rheins, Deutschland beherrscht, und daß es dadurch der Schiedsrichter von Europa wird. Hr. Thiers hat sich wohl gehütet, diese Saite anzuschlagen, die in französischen Ohren ein Mißton ist. Er wünscht den Rhein nicht weniger als der poetische Staatsmann von Macon: er weist „die Größe“ (la grandeur) von Frankreich nicht von sich, wenn sie ohne Verletzung dringender Interessen zu haben ist, und da er dabei von der „Grandeur“ Frankreichs als von einer schon bestehenden Sache spricht, so ist klar, daß er unter dieser besondern grandeur das aggrandissement, und unter diesem die frontiére naturelle verstanden hat. Auch eröffnet er die Aussicht darauf selbst von dem Standpunkt der Ruhe und des Zuwartens, den er Frankreich für den Fall anweist, daß England und Rußland sich verständigten. Denn diese Verständigung werde nicht lange dauern, es werde aus der Freundschaft, zufolge einer innern Nothwendigkeit der Lage und Interessen, bald der Bruch hervortreten, dann werde man Frankreichs Freundschaft suchen, und selbst England werde, um sie zu erlangen, ihm dafür jeden Preis als Kaufschilling zu Füßen legen, was denn natürlich nur die gehoffte „grandeur“ seyn kann und darf. Beide Staatsredner, so disparat sie auch auf den ersten Anblick scheinen, sind also doch in der Hauptsache einig. Hrn. v. Lamartine bekümmert es nicht, was aus dem Pascha von Aegypten und dem Sultan wird, er fragt eben so wenig nach der politischen tabula rasa, wofür er unser Deutschland ansieht, er will den Rhein haben. Hr. Thiers fragt eben so wenig nach allem dem: er will den Rhein haben; doch hofft er ihn von England statt von Rußland, und hofft ihn durch Warten als Kaufpreis statt durch Zugreifen als Beute zu bekommen. Das ist der ganze Unterschied, und man kann daraus abnehmen, ob der gefeierte Held des 13 Januars (dieß ist der Tag seines letzten parlamenrarischen Triumphs) nur einen Zoll breit über den engen und verbauten Horizont der gemeinen französischen Politik hinaussieht, die uns in den politischen Meditationen, Repetitionen und Amplificationen der HH. Noailles, Mauguin, Lamartine und Genossen auch dieses Jahr wieder zur Genüge vorgetragen worden ist. Ja vielleicht ist Hr. Lamartine mit seiner naiven und offenen Schamlosigkeit noch erträglicher, als Hr. Thiers mit seiner berechnenden Schlauheit.

(Fortsetzung folgt.)


Zustand von Griechenland gegenüber der Türkei.

(Beschluß.) Wir sind nicht gesonnen, unserer Meldung von der sich entwickelnden Bildung in Griechenland durch Uebertreibung oder durch Verkennung dessen, was zu wünschen bleibt und was fehlt, die Glaubwürdigkeit zu entziehen. So gewiß es ist, daß die Regentschaft sowohl als die spätere Regierung in dem Wunsch, das Volk zu erziehen und Bildung und Wissenschaft zu verbreiten, hinter keiner andern zurückgeblieben, so sehr scheint uns die Ausführung der edlen Absichten des Königs in mancher Beziehung gehemmt. Der Grund davon liegt hauptsächlich in dem Mangel eines tüchtigen und thätigen Ministeriums des öffentlichen Unterrichts. Leider ist von der Zeit des ersten Erscheinens der Regentschaft an das Ministerium des Unterrichts, welches zumal in Griechenland so wichtig, ja wichtiger ist als irgend ein anderes, stets nur das Anhängsel eines andern Ministeriums gewesen. Wie aber ist es möglich, daß selbst der fähigste Minister in einem Lande, wo Alles zu organisiren ist, zugleich die erforderliche Sorge auf die Justiz und den Unterricht, oder gar auf das Innere und den Unterricht verwenden kann, zumal wenn noch die auch in Griechenland intriguirte Angelegenheit des Cultus hinzukommt? Jetzt und schon seit geraumer Zeit ist der Minister des Innern auch Minister des Unterrichts und der leider damit verbundenen geistlichen Angelegenheiten. Nicht nur Hr. Klarakis, sondern jeder Minister ist außer Stand, einer so umfassenden Aufgabe zu genügen. Der factische Zustand beweist das vollkommen. Was zuerst das Volksschulwesen betrifft, so fehlt es nicht nur überall an der nöthigen Zahl von Schulen, sondern es herrscht auch in den vorhandenen meistens eine Methode, die unserer Zeit ganz unwürdig ist. Daß dennoch so viele Griechen lesen, schreiben und rechnen können, ist vielmehr das Verdienst der Knaben, als der Schulen. Wenn wir nicht irren, so sind unter den lesenden und schreibenden Griechen viel mehr, welche, schon erwachsen, auf der Straße, im Lager, im Kaffeehaus einer von dem andern gelernt haben, als in der Schule. Den jetzt vorhandenen Schulen kommt aber der außerordentliche Eifer sowohl der Lehrer, trotz ihrer unzweckmäßigen Methode, als der Schüler hauptsächlich zu Hülfe. Die Lernbegierde der Griechen veranlaßt fortwährende Klage über den Mangel an Schulen, in denen sie mehr als die Elemente zu lernen begehren. Die sogenannten hellenischen Schulen, welche zwischen den Volksschulen und den Gymnasien stehen, und welche die griechische Bildung auch denen, die nicht

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[0186/0010] Hr. Thiers hat vor Allem das Verdienst, in jenen meist diffusen, leeren oder parteisüchtigen Erörterungen der französischen Verhältnisse zum Auslande die orientalische Frage auf ihren factischen Bestand zurückgeführt und sich in dem Kreise der Thatsachen mit Klugheit, Schonung und Gewandtheit bewegt zu haben. Er hat den thörichten Behauptungen des Hrn. v. Lamartine, daß die arabische wie die türkische Nationalität todt sey, und man darum die Türkei theilen müsse, die Thatsache entgegengestellt, daß Niemand theilen wolle, weil alle Welt, Rußland nicht ausgenommen, aufrichtig den Frieden wolle, und hatte ganz Recht, dieses zu thun. In der That ist die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den europäischen Frieden zu erhalten, der geheime Talisman, der trotz aller Zerwürfnisse der Cabinette die Furie des Kriegs gelähmt hält: man fühlt in St. Petersburg so gut wie in Wien und Paris, daß, einmal losgelassen, sie alle anarchischen Leidenschaften zum Vortheil der revolutionären Bewegung neu aufwecken und unübersehliches Verderben über Throne und Völker bringen würde. Darum geht jede Macht in ihren Forderungen oder Bewegungen gegen die andern nie bis an die Linie, hinter der der Krieg liegt. Selbst Frankreich weicht, trotz der Entschiedenheit und des Uebermuths, mit dem es die orientalischen Probleme allein und in seinem Interesse lösen wollte, vor jener Linie zurück, und erklärt, daß es dem Pascha, seinem Schützling, im Fall Rußland und England gegen ihn einschreiten, nicht beistehen wird. Aber was Hr. Thiers nicht berührt hat, ist eben die Unvermeidlichlichkeit eines europäischen Kriegs für den Fall, daß eine Theilung der Türkei für die Franzosen den Erwerb des linken Rheinufers in Aussicht stellen sollte. Hr. v. Lamartine und seinesgleichen verfahren hierbei, als ob die Karte von Europa außer Frankreich und Rußland nichts enthielte, und beide Staaten nicht durch unabhängige, starke und kriegerische Völker, durch 50 Millionen Deutsche und die den Deutschen zugewendeten Stämme getrennt wären: Frankreich würde, welches auch seine Verbindungen mit Rußland wären, um den Rhein einen Kampf zu bestehen haben, wo die unmittelbar betheiligten deutschen Mächte mit Preußen, Belgien und Holland in erster, Oesterreich mit Italien und Piemont in zweiter, England in dritter Linie fechten würden. Denn man hat noch nirgends vergessen, daß Frankreich, im Besitze des Rheins, Deutschland beherrscht, und daß es dadurch der Schiedsrichter von Europa wird. Hr. Thiers hat sich wohl gehütet, diese Saite anzuschlagen, die in französischen Ohren ein Mißton ist. Er wünscht den Rhein nicht weniger als der poetische Staatsmann von Macon: er weist „die Größe“ (la grandeur) von Frankreich nicht von sich, wenn sie ohne Verletzung dringender Interessen zu haben ist, und da er dabei von der „Grandeur“ Frankreichs als von einer schon bestehenden Sache spricht, so ist klar, daß er unter dieser besondern grandeur das aggrandissement, und unter diesem die frontiére naturelle verstanden hat. Auch eröffnet er die Aussicht darauf selbst von dem Standpunkt der Ruhe und des Zuwartens, den er Frankreich für den Fall anweist, daß England und Rußland sich verständigten. Denn diese Verständigung werde nicht lange dauern, es werde aus der Freundschaft, zufolge einer innern Nothwendigkeit der Lage und Interessen, bald der Bruch hervortreten, dann werde man Frankreichs Freundschaft suchen, und selbst England werde, um sie zu erlangen, ihm dafür jeden Preis als Kaufschilling zu Füßen legen, was denn natürlich nur die gehoffte „grandeur“ seyn kann und darf. Beide Staatsredner, so disparat sie auch auf den ersten Anblick scheinen, sind also doch in der Hauptsache einig. Hrn. v. Lamartine bekümmert es nicht, was aus dem Pascha von Aegypten und dem Sultan wird, er fragt eben so wenig nach der politischen tabula rasa, wofür er unser Deutschland ansieht, er will den Rhein haben. Hr. Thiers fragt eben so wenig nach allem dem: er will den Rhein haben; doch hofft er ihn von England statt von Rußland, und hofft ihn durch Warten als Kaufpreis statt durch Zugreifen als Beute zu bekommen. Das ist der ganze Unterschied, und man kann daraus abnehmen, ob der gefeierte Held des 13 Januars (dieß ist der Tag seines letzten parlamenrarischen Triumphs) nur einen Zoll breit über den engen und verbauten Horizont der gemeinen französischen Politik hinaussieht, die uns in den politischen Meditationen, Repetitionen und Amplificationen der HH. Noailles, Mauguin, Lamartine und Genossen auch dieses Jahr wieder zur Genüge vorgetragen worden ist. Ja vielleicht ist Hr. Lamartine mit seiner naiven und offenen Schamlosigkeit noch erträglicher, als Hr. Thiers mit seiner berechnenden Schlauheit. (Fortsetzung folgt.) Zustand von Griechenland gegenüber der Türkei. _ Kairo, 10 Dec. (Beschluß.) Wir sind nicht gesonnen, unserer Meldung von der sich entwickelnden Bildung in Griechenland durch Uebertreibung oder durch Verkennung dessen, was zu wünschen bleibt und was fehlt, die Glaubwürdigkeit zu entziehen. So gewiß es ist, daß die Regentschaft sowohl als die spätere Regierung in dem Wunsch, das Volk zu erziehen und Bildung und Wissenschaft zu verbreiten, hinter keiner andern zurückgeblieben, so sehr scheint uns die Ausführung der edlen Absichten des Königs in mancher Beziehung gehemmt. Der Grund davon liegt hauptsächlich in dem Mangel eines tüchtigen und thätigen Ministeriums des öffentlichen Unterrichts. Leider ist von der Zeit des ersten Erscheinens der Regentschaft an das Ministerium des Unterrichts, welches zumal in Griechenland so wichtig, ja wichtiger ist als irgend ein anderes, stets nur das Anhängsel eines andern Ministeriums gewesen. Wie aber ist es möglich, daß selbst der fähigste Minister in einem Lande, wo Alles zu organisiren ist, zugleich die erforderliche Sorge auf die Justiz und den Unterricht, oder gar auf das Innere und den Unterricht verwenden kann, zumal wenn noch die auch in Griechenland intriguirte Angelegenheit des Cultus hinzukommt? Jetzt und schon seit geraumer Zeit ist der Minister des Innern auch Minister des Unterrichts und der leider damit verbundenen geistlichen Angelegenheiten. Nicht nur Hr. Klarakis, sondern jeder Minister ist außer Stand, einer so umfassenden Aufgabe zu genügen. Der factische Zustand beweist das vollkommen. Was zuerst das Volksschulwesen betrifft, so fehlt es nicht nur überall an der nöthigen Zahl von Schulen, sondern es herrscht auch in den vorhandenen meistens eine Methode, die unserer Zeit ganz unwürdig ist. Daß dennoch so viele Griechen lesen, schreiben und rechnen können, ist vielmehr das Verdienst der Knaben, als der Schulen. Wenn wir nicht irren, so sind unter den lesenden und schreibenden Griechen viel mehr, welche, schon erwachsen, auf der Straße, im Lager, im Kaffeehaus einer von dem andern gelernt haben, als in der Schule. Den jetzt vorhandenen Schulen kommt aber der außerordentliche Eifer sowohl der Lehrer, trotz ihrer unzweckmäßigen Methode, als der Schüler hauptsächlich zu Hülfe. Die Lernbegierde der Griechen veranlaßt fortwährende Klage über den Mangel an Schulen, in denen sie mehr als die Elemente zu lernen begehren. Die sogenannten hellenischen Schulen, welche zwischen den Volksschulen und den Gymnasien stehen, und welche die griechische Bildung auch denen, die nicht

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 24. Augsburg, 24. Januar 1840, S. 0186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_024_18400124/10>, abgerufen am 27.04.2024.