Allgemeine Zeitung. Nr. 24. Augsburg, 24. Januar 1840.Beilage zur Allgemeinen Zeitung 24 Januar 1840 Der Orient und die französischen Kammerdebatten. Seit ich Ihnen auf die erste Nachricht von der Einigung Englands und Rußlands in den orientalischen Angelegenheiten zum letztenmal über den oben bezeichneten Gegenstand geschrieben und die in Frage stehende Sache dahin geführt habe, daß, wie ich vorläufig andeutete, der eigentliche Schwerpunkt der großen politischen Bewegung von Konstantinopel und Alexandria nach Khiwa und Bukhara übergegangen, die Dardanellenfrage in zweite Linie gerückt sey, ist zwar kein neuer Wendepunkt in den Verhandlungen und Begebenheiten eingetreten, dagegen enthüllen diese im mittlern Asien schon deutlicher ihre Gestalt: die Bewegung der Engländer von Kabul aus über den Hindukusch hat begonnen, angeblich, um Dost Mohammed zu verfolgen, in der That aber um den obern Orus zu erreichen, während die Russen in ihrem Marsch gegen Khiwa nach seinen Mündungen in den Aralsee zu kommen suchen. Ist eine Meldung, daß die Engländer mit ihren Colonnen und ihrer Bergartillerie sich schon am obern Orus festgesetzt haben, gegründet, so werden sie nicht lange brauchen, um dem schönen Fluß herab nach Bukhara zu gelangen und den Russen zuvorzukommen. Das alles ist von höchster Wichtigkeit, deutet auf eine kühne, rasche, ungehemmte Entwicklung kolossaler Plane und wird denjenigen, welche mit der Lage der Dinge und der Völker dort weniger vertraut sind, vorläufig als Merkzeichen der Bedeutung dienen, die wir den dort eingeleiteten Begebenheiten vor allen andern dieser viel bewegten Zeit gegeben haben; doch nicht dahin wollten wir jetzt die Blicke der Leser richten, sondern von neuem nach Alexandria und Konstantinopel. Denn obwohl die Bewegung um den Sultan und seinen Vasallen sich noch in den durch Hrn. v. Brunnow gezogenen Kreisen dreht, sind doch durch die französischen Kammerdebatten mehrere Seiten derselben, wenn auch für den mit der Sache etwas näher Betrauten nicht neu hervorgewendet, doch der gemeinen Theilnahme näher gerückt worden, und so ad captum vulgarem gekommen; dieß zu bewirken war besonders die Rede geeignet, welche Hr. Thiers, nach einem Ihrer Correspondenten aus Paris vor "der Elite einer großen Nation" gehalten. Diese Elite der Bildung und Einsicht im Mittelpunkte der "europäischen Civilisation" hat freilich jener "große Staatsmann und Redner" erst zu belehren, daß dem Bosporus der Hellespont entgegen liegt, daß man bei gutem Winde in vier Tagen von Sebastopol nach Konstantinopel kommen kann und die Nachrichten gegen 18 Tage brauchen, ehe sie von da nach Paris und London gelangen. Indeß ist das für die Sache gleichgültig. Seine Erörterungen dringen zwar nicht tief in diese ein, sondern drehen sich um die Systeme oder Politik des Handelns und des Wartens, auf welche der geistreiche ehemalige Chef der französischen Politik die orientalischen Dafürhaltungen und Willensmeinungen seiner seltsamen Herren Collegen und ihre sechs verschiedenen Systeme zurückgebracht hat. Auch sind die Namen von Khiwa, Bukhara und andere seinem Auditorium unbekannte Größen und Sterne noch nicht über dem Horizont oder vielmehr über der Rednerbühne des Palais Bourbon aufgegangen; aber es ist doch auch auf diesem beschränkten Standpunkte, besonders von Hrn. Villemain und Hrn. Thiers, nicht Weniges gesagt worden, was Beherzigung verdient. Es gilt also, dieses hervorzuheben und anzuerkennen, zugleich aber zu beleuchten und abzuweisen was namentlich von dem letztern Einseitiges und Irrthümliches in die schlichte und löbliche Klarheit seiner Rede gewebt worden ist, damit bei dem weiten Wiederhall jener Debatten und bei dem noch immer zu großen Gewicht, das man, durch den Schein getäuscht, auf ihren meist abgetragenen und nutzlosen Inhalt legt, die falsche Ansicht nicht für die Wahrheit, der Irrthum nicht für die Thatsache genommen und das morgenländische Uebel nur noch ärger werde. Um aber Hrn. Thiers nicht Unrecht zu thun, darf der Standpunkt nicht übersehen werden, auf den er sich gegenüber seinen Zuhörern gestellt hatte und stellen mußte. Nichts wäre schlimmer für das Vertrauen auf seine Einsicht, als wenn man annähme, er habe einen höhern, die politische Bewegung wenn auch nur von Europa umfassenden Standpunkt nehmen und aus ihm die verschiedenen Verfahrungsarten gegen den Orient unter die Benennung der Politik des Handelns und des Erwartens bringen wollen, von welchen die erstere die Theilung der Türkei im Hintergrund habe, die andere aber in Erwartung der Dinge sich rüste, um beim Sturz des Gebäudes bereit zu seyn und nach seinen Trümmern zu greifen. Denn in diesem Falle wäre gerade die englische Politik aus dem Spiele oder aus der divisio bipartita herausgeblieben, welche wie bekannt darauf ausgeht, durch Handeln im jetzt gegebenen Augenblick die Theilung wie den Untergang des osmanischen Reiches abzuwenden und jene beiden Politiken des Hrn. Thiers zu annihiliren. Aber Hrn. Thiers hat es nicht mit Europa, sondern, man darf sagen, für Europa mit einigen politischen Schwächen der ihn ungebenden Nationalelite zu thun, um sie zu belehren, daß es mit ihren auf Theilung gehenden Planen vor der Hand nichts ist, und mit der Regierung, die zwar ganz klug gethan habe sich zur Politik des Wartens zu halten, aber aus ihrer Rolle gefallen sey. Es sind also die Ansichten des Hrn. v. Lamartine und (im Fall Hr. Guizot die letztere Zeit mit seinen Vielgetreuen hinter dem Cabinet gestanden) die Ansichten der Doctrin über die orientalischen Dinge, die er unter jene Formel des Handelns und Wartens gebracht hat, um jener Politik zu sagen, daß man mit ihr gehässig und lächerlich seyn werde, und dieser, daß man ungeschickt gewesen sey. Das ungefähr ist der Kern der schönen Rede, mit welcher der treffliche Mann die Kammer der Abgeordneten und einen Ihrer Correspondenten von Paris elektrisirt hat, der hinter jenem Aufwand von Beredsamkeit eine so große Fülle von Staatsweisheit, Discretion und Vorsicht erblickt, daß ihm ein Ministerium Thiers mehr als je eine Unvermeidlichkeit scheint. Es kommt zwar ein zweiter Correspondent, wie es scheint in den Bureaux des Ministeriums vertrauter, hinter dem Enthusiasmus des ersten her, um in Hrn. Villemain das aufgehende Gestirn der Kammer und des Ministeriums zu zeigen, während, wie er meint, Hr. Thiers eigentlich vorüber, aber dabei immer doch noch zu brauchen sey und bei Gelegenheit gebraucht werden solle; doch darf uns weder jene Ueberschätzung, noch diese Unterschätzung hindern, den wahren staatsmännischen Gehalt der Rede anzuerkennen, sollte sich bei näherer Erwägung auch, wie wir oben bemerkten, herausstellen, daß neben ihrem gesunden Kern sich falsche Annahmen, unrichtige Folgerungen und einseitige Beurtheilung von Dingen und von Personen angesetzt habe, die man aber auf jeden Fall davon trennen kann, ohne jenem zu schaden. Beilage zur Allgemeinen Zeitung 24 Januar 1840 Der Orient und die französischen Kammerdebatten. Seit ich Ihnen auf die erste Nachricht von der Einigung Englands und Rußlands in den orientalischen Angelegenheiten zum letztenmal über den oben bezeichneten Gegenstand geschrieben und die in Frage stehende Sache dahin geführt habe, daß, wie ich vorläufig andeutete, der eigentliche Schwerpunkt der großen politischen Bewegung von Konstantinopel und Alexandria nach Khiwa und Bukhara übergegangen, die Dardanellenfrage in zweite Linie gerückt sey, ist zwar kein neuer Wendepunkt in den Verhandlungen und Begebenheiten eingetreten, dagegen enthüllen diese im mittlern Asien schon deutlicher ihre Gestalt: die Bewegung der Engländer von Kabul aus über den Hindukusch hat begonnen, angeblich, um Dost Mohammed zu verfolgen, in der That aber um den obern Orus zu erreichen, während die Russen in ihrem Marsch gegen Khiwa nach seinen Mündungen in den Aralsee zu kommen suchen. Ist eine Meldung, daß die Engländer mit ihren Colonnen und ihrer Bergartillerie sich schon am obern Orus festgesetzt haben, gegründet, so werden sie nicht lange brauchen, um dem schönen Fluß herab nach Bukhara zu gelangen und den Russen zuvorzukommen. Das alles ist von höchster Wichtigkeit, deutet auf eine kühne, rasche, ungehemmte Entwicklung kolossaler Plane und wird denjenigen, welche mit der Lage der Dinge und der Völker dort weniger vertraut sind, vorläufig als Merkzeichen der Bedeutung dienen, die wir den dort eingeleiteten Begebenheiten vor allen andern dieser viel bewegten Zeit gegeben haben; doch nicht dahin wollten wir jetzt die Blicke der Leser richten, sondern von neuem nach Alexandria und Konstantinopel. Denn obwohl die Bewegung um den Sultan und seinen Vasallen sich noch in den durch Hrn. v. Brunnow gezogenen Kreisen dreht, sind doch durch die französischen Kammerdebatten mehrere Seiten derselben, wenn auch für den mit der Sache etwas näher Betrauten nicht neu hervorgewendet, doch der gemeinen Theilnahme näher gerückt worden, und so ad captum vulgarem gekommen; dieß zu bewirken war besonders die Rede geeignet, welche Hr. Thiers, nach einem Ihrer Correspondenten aus Paris vor „der Elite einer großen Nation“ gehalten. Diese Elite der Bildung und Einsicht im Mittelpunkte der „europäischen Civilisation“ hat freilich jener „große Staatsmann und Redner“ erst zu belehren, daß dem Bosporus der Hellespont entgegen liegt, daß man bei gutem Winde in vier Tagen von Sebastopol nach Konstantinopel kommen kann und die Nachrichten gegen 18 Tage brauchen, ehe sie von da nach Paris und London gelangen. Indeß ist das für die Sache gleichgültig. Seine Erörterungen dringen zwar nicht tief in diese ein, sondern drehen sich um die Systeme oder Politik des Handelns und des Wartens, auf welche der geistreiche ehemalige Chef der französischen Politik die orientalischen Dafürhaltungen und Willensmeinungen seiner seltsamen Herren Collegen und ihre sechs verschiedenen Systeme zurückgebracht hat. Auch sind die Namen von Khiwa, Bukhara und andere seinem Auditorium unbekannte Größen und Sterne noch nicht über dem Horizont oder vielmehr über der Rednerbühne des Palais Bourbon aufgegangen; aber es ist doch auch auf diesem beschränkten Standpunkte, besonders von Hrn. Villemain und Hrn. Thiers, nicht Weniges gesagt worden, was Beherzigung verdient. Es gilt also, dieses hervorzuheben und anzuerkennen, zugleich aber zu beleuchten und abzuweisen was namentlich von dem letztern Einseitiges und Irrthümliches in die schlichte und löbliche Klarheit seiner Rede gewebt worden ist, damit bei dem weiten Wiederhall jener Debatten und bei dem noch immer zu großen Gewicht, das man, durch den Schein getäuscht, auf ihren meist abgetragenen und nutzlosen Inhalt legt, die falsche Ansicht nicht für die Wahrheit, der Irrthum nicht für die Thatsache genommen und das morgenländische Uebel nur noch ärger werde. Um aber Hrn. Thiers nicht Unrecht zu thun, darf der Standpunkt nicht übersehen werden, auf den er sich gegenüber seinen Zuhörern gestellt hatte und stellen mußte. Nichts wäre schlimmer für das Vertrauen auf seine Einsicht, als wenn man annähme, er habe einen höhern, die politische Bewegung wenn auch nur von Europa umfassenden Standpunkt nehmen und aus ihm die verschiedenen Verfahrungsarten gegen den Orient unter die Benennung der Politik des Handelns und des Erwartens bringen wollen, von welchen die erstere die Theilung der Türkei im Hintergrund habe, die andere aber in Erwartung der Dinge sich rüste, um beim Sturz des Gebäudes bereit zu seyn und nach seinen Trümmern zu greifen. Denn in diesem Falle wäre gerade die englische Politik aus dem Spiele oder aus der divisio bipartita herausgeblieben, welche wie bekannt darauf ausgeht, durch Handeln im jetzt gegebenen Augenblick die Theilung wie den Untergang des osmanischen Reiches abzuwenden und jene beiden Politiken des Hrn. Thiers zu annihiliren. Aber Hrn. Thiers hat es nicht mit Europa, sondern, man darf sagen, für Europa mit einigen politischen Schwächen der ihn ungebenden Nationalelite zu thun, um sie zu belehren, daß es mit ihren auf Theilung gehenden Planen vor der Hand nichts ist, und mit der Regierung, die zwar ganz klug gethan habe sich zur Politik des Wartens zu halten, aber aus ihrer Rolle gefallen sey. Es sind also die Ansichten des Hrn. v. Lamartine und (im Fall Hr. Guizot die letztere Zeit mit seinen Vielgetreuen hinter dem Cabinet gestanden) die Ansichten der Doctrin über die orientalischen Dinge, die er unter jene Formel des Handelns und Wartens gebracht hat, um jener Politik zu sagen, daß man mit ihr gehässig und lächerlich seyn werde, und dieser, daß man ungeschickt gewesen sey. Das ungefähr ist der Kern der schönen Rede, mit welcher der treffliche Mann die Kammer der Abgeordneten und einen Ihrer Correspondenten von Paris elektrisirt hat, der hinter jenem Aufwand von Beredsamkeit eine so große Fülle von Staatsweisheit, Discretion und Vorsicht erblickt, daß ihm ein Ministerium Thiers mehr als je eine Unvermeidlichkeit scheint. Es kommt zwar ein zweiter Correspondent, wie es scheint in den Bureaux des Ministeriums vertrauter, hinter dem Enthusiasmus des ersten her, um in Hrn. Villemain das aufgehende Gestirn der Kammer und des Ministeriums zu zeigen, während, wie er meint, Hr. Thiers eigentlich vorüber, aber dabei immer doch noch zu brauchen sey und bei Gelegenheit gebraucht werden solle; doch darf uns weder jene Ueberschätzung, noch diese Unterschätzung hindern, den wahren staatsmännischen Gehalt der Rede anzuerkennen, sollte sich bei näherer Erwägung auch, wie wir oben bemerkten, herausstellen, daß neben ihrem gesunden Kern sich falsche Annahmen, unrichtige Folgerungen und einseitige Beurtheilung von Dingen und von Personen angesetzt habe, die man aber auf jeden Fall davon trennen kann, ohne jenem zu schaden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <pb facs="#f0009" n="0185"/><lb/> </div> </div> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docTitle> <titlePart type="main">Beilage zur Allgemeinen Zeitung</titlePart> </docTitle> <docImprint> <docDate>24 Januar 1840</docDate> </docImprint> </titlePage> </front> <body><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Der Orient und die französischen Kammerdebatten</hi>.</hi> </head> <byline>*✝*</byline><lb/> <p>Seit ich Ihnen auf die erste Nachricht von der Einigung Englands und Rußlands in den orientalischen Angelegenheiten zum letztenmal über den oben bezeichneten Gegenstand geschrieben und die in Frage stehende Sache dahin geführt habe, daß, wie ich vorläufig andeutete, der eigentliche Schwerpunkt der großen politischen Bewegung von Konstantinopel und Alexandria nach <hi rendition="#g">Khiwa</hi> und Bukhara übergegangen, die Dardanellenfrage in zweite Linie gerückt sey, ist zwar kein neuer Wendepunkt in den Verhandlungen und Begebenheiten eingetreten, dagegen enthüllen diese im mittlern Asien schon deutlicher ihre Gestalt: die Bewegung der Engländer von Kabul aus über den Hindukusch hat begonnen, angeblich, um Dost Mohammed zu verfolgen, in der That aber um den obern Orus zu erreichen, während die Russen in ihrem Marsch gegen Khiwa nach seinen Mündungen in den Aralsee zu kommen suchen. Ist eine Meldung, daß die Engländer mit ihren Colonnen und ihrer Bergartillerie sich schon am obern Orus festgesetzt haben, gegründet, so werden sie nicht lange brauchen, um dem schönen Fluß herab nach Bukhara zu gelangen und den Russen zuvorzukommen. Das alles ist von höchster Wichtigkeit, deutet auf eine kühne, rasche, ungehemmte Entwicklung kolossaler Plane und wird denjenigen, welche mit der Lage der Dinge und der Völker dort weniger vertraut sind, vorläufig als Merkzeichen der Bedeutung dienen, die wir den dort eingeleiteten Begebenheiten vor allen andern dieser viel bewegten Zeit gegeben haben; doch nicht dahin wollten wir jetzt die Blicke der Leser richten, sondern von neuem nach Alexandria und Konstantinopel. Denn obwohl die Bewegung um den Sultan und seinen Vasallen sich noch in den durch Hrn. v. Brunnow gezogenen Kreisen dreht, sind doch durch die französischen Kammerdebatten mehrere Seiten derselben, wenn auch für den mit der Sache etwas näher Betrauten nicht neu hervorgewendet, doch der gemeinen Theilnahme näher gerückt worden, und so ad captum vulgarem gekommen; dieß zu bewirken war besonders die Rede geeignet, welche Hr. Thiers, nach einem Ihrer Correspondenten aus Paris vor „der Elite einer großen Nation“ gehalten. Diese Elite der Bildung und Einsicht im Mittelpunkte der „europäischen Civilisation“ hat freilich jener „große Staatsmann und Redner“ erst zu belehren, daß dem Bosporus der Hellespont entgegen liegt, daß man bei gutem Winde in vier Tagen von Sebastopol nach Konstantinopel kommen kann und die Nachrichten gegen 18 Tage brauchen, ehe sie von da nach Paris und London gelangen.</p><lb/> <p>Indeß ist das für die Sache gleichgültig. Seine Erörterungen dringen zwar nicht tief in diese ein, sondern drehen sich um die Systeme oder Politik des Handelns und des Wartens, auf welche der geistreiche ehemalige Chef der französischen Politik die orientalischen Dafürhaltungen und Willensmeinungen seiner seltsamen Herren Collegen und ihre sechs verschiedenen Systeme zurückgebracht hat. Auch sind die Namen von Khiwa, Bukhara und andere seinem Auditorium unbekannte Größen und Sterne noch nicht über dem Horizont oder vielmehr über der Rednerbühne des Palais Bourbon aufgegangen; aber es ist doch auch auf diesem beschränkten Standpunkte, besonders von Hrn. Villemain und Hrn. Thiers, nicht Weniges gesagt worden, was Beherzigung verdient. Es gilt also, dieses hervorzuheben und anzuerkennen, zugleich aber zu beleuchten und abzuweisen was namentlich von dem letztern Einseitiges und Irrthümliches in die schlichte und löbliche Klarheit seiner Rede gewebt worden ist, damit bei dem weiten Wiederhall jener Debatten und bei dem noch immer zu großen Gewicht, das man, durch den Schein getäuscht, auf ihren meist abgetragenen und nutzlosen Inhalt legt, die falsche Ansicht nicht für die Wahrheit, der Irrthum nicht für die Thatsache genommen und das morgenländische Uebel nur noch ärger werde.</p><lb/> <p>Um aber Hrn. Thiers nicht Unrecht zu thun, darf der Standpunkt nicht übersehen werden, auf den er sich gegenüber seinen Zuhörern gestellt hatte und stellen mußte. 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Thiers hat es nicht mit Europa, sondern, man darf sagen, für Europa mit einigen politischen Schwächen der ihn ungebenden Nationalelite zu thun, um sie zu belehren, daß es mit ihren auf Theilung gehenden Planen vor der Hand nichts ist, und mit der Regierung, die zwar ganz klug gethan habe sich zur Politik des Wartens zu halten, aber aus ihrer Rolle gefallen sey.</p><lb/> <p>Es sind also die Ansichten des Hrn. v. Lamartine und (im Fall Hr. Guizot die letztere Zeit mit seinen Vielgetreuen hinter dem Cabinet gestanden) die Ansichten der Doctrin über die orientalischen Dinge, die er unter jene Formel des Handelns und Wartens gebracht hat, um jener Politik zu sagen, daß man mit ihr gehässig und lächerlich seyn werde, und dieser, daß man ungeschickt gewesen sey. Das ungefähr ist der Kern der schönen Rede, mit welcher der treffliche Mann die Kammer der Abgeordneten und einen Ihrer Correspondenten von Paris elektrisirt hat, der hinter jenem Aufwand von Beredsamkeit eine so große Fülle von Staatsweisheit, Discretion und Vorsicht erblickt, daß ihm ein Ministerium Thiers mehr als je eine Unvermeidlichkeit scheint. Es kommt zwar ein zweiter Correspondent, wie es scheint in den Bureaux des Ministeriums vertrauter, hinter dem Enthusiasmus des ersten her, um in Hrn. Villemain das aufgehende Gestirn der Kammer und des Ministeriums zu zeigen, während, wie er meint, Hr. Thiers eigentlich vorüber, aber dabei immer doch noch zu brauchen sey und bei Gelegenheit gebraucht werden solle; doch darf uns weder jene Ueberschätzung, noch diese Unterschätzung hindern, den wahren staatsmännischen Gehalt der Rede anzuerkennen, sollte sich bei näherer Erwägung auch, wie wir oben bemerkten, herausstellen, daß neben ihrem gesunden Kern sich falsche Annahmen, unrichtige Folgerungen und einseitige Beurtheilung von Dingen und von Personen angesetzt habe, die man aber auf jeden Fall davon trennen kann, ohne jenem zu schaden.</p><lb/><lb/> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [0185/0009]
Beilage zur Allgemeinen Zeitung 24 Januar 1840
Der Orient und die französischen Kammerdebatten.*✝*
Seit ich Ihnen auf die erste Nachricht von der Einigung Englands und Rußlands in den orientalischen Angelegenheiten zum letztenmal über den oben bezeichneten Gegenstand geschrieben und die in Frage stehende Sache dahin geführt habe, daß, wie ich vorläufig andeutete, der eigentliche Schwerpunkt der großen politischen Bewegung von Konstantinopel und Alexandria nach Khiwa und Bukhara übergegangen, die Dardanellenfrage in zweite Linie gerückt sey, ist zwar kein neuer Wendepunkt in den Verhandlungen und Begebenheiten eingetreten, dagegen enthüllen diese im mittlern Asien schon deutlicher ihre Gestalt: die Bewegung der Engländer von Kabul aus über den Hindukusch hat begonnen, angeblich, um Dost Mohammed zu verfolgen, in der That aber um den obern Orus zu erreichen, während die Russen in ihrem Marsch gegen Khiwa nach seinen Mündungen in den Aralsee zu kommen suchen. Ist eine Meldung, daß die Engländer mit ihren Colonnen und ihrer Bergartillerie sich schon am obern Orus festgesetzt haben, gegründet, so werden sie nicht lange brauchen, um dem schönen Fluß herab nach Bukhara zu gelangen und den Russen zuvorzukommen. Das alles ist von höchster Wichtigkeit, deutet auf eine kühne, rasche, ungehemmte Entwicklung kolossaler Plane und wird denjenigen, welche mit der Lage der Dinge und der Völker dort weniger vertraut sind, vorläufig als Merkzeichen der Bedeutung dienen, die wir den dort eingeleiteten Begebenheiten vor allen andern dieser viel bewegten Zeit gegeben haben; doch nicht dahin wollten wir jetzt die Blicke der Leser richten, sondern von neuem nach Alexandria und Konstantinopel. Denn obwohl die Bewegung um den Sultan und seinen Vasallen sich noch in den durch Hrn. v. Brunnow gezogenen Kreisen dreht, sind doch durch die französischen Kammerdebatten mehrere Seiten derselben, wenn auch für den mit der Sache etwas näher Betrauten nicht neu hervorgewendet, doch der gemeinen Theilnahme näher gerückt worden, und so ad captum vulgarem gekommen; dieß zu bewirken war besonders die Rede geeignet, welche Hr. Thiers, nach einem Ihrer Correspondenten aus Paris vor „der Elite einer großen Nation“ gehalten. Diese Elite der Bildung und Einsicht im Mittelpunkte der „europäischen Civilisation“ hat freilich jener „große Staatsmann und Redner“ erst zu belehren, daß dem Bosporus der Hellespont entgegen liegt, daß man bei gutem Winde in vier Tagen von Sebastopol nach Konstantinopel kommen kann und die Nachrichten gegen 18 Tage brauchen, ehe sie von da nach Paris und London gelangen.
Indeß ist das für die Sache gleichgültig. Seine Erörterungen dringen zwar nicht tief in diese ein, sondern drehen sich um die Systeme oder Politik des Handelns und des Wartens, auf welche der geistreiche ehemalige Chef der französischen Politik die orientalischen Dafürhaltungen und Willensmeinungen seiner seltsamen Herren Collegen und ihre sechs verschiedenen Systeme zurückgebracht hat. Auch sind die Namen von Khiwa, Bukhara und andere seinem Auditorium unbekannte Größen und Sterne noch nicht über dem Horizont oder vielmehr über der Rednerbühne des Palais Bourbon aufgegangen; aber es ist doch auch auf diesem beschränkten Standpunkte, besonders von Hrn. Villemain und Hrn. Thiers, nicht Weniges gesagt worden, was Beherzigung verdient. Es gilt also, dieses hervorzuheben und anzuerkennen, zugleich aber zu beleuchten und abzuweisen was namentlich von dem letztern Einseitiges und Irrthümliches in die schlichte und löbliche Klarheit seiner Rede gewebt worden ist, damit bei dem weiten Wiederhall jener Debatten und bei dem noch immer zu großen Gewicht, das man, durch den Schein getäuscht, auf ihren meist abgetragenen und nutzlosen Inhalt legt, die falsche Ansicht nicht für die Wahrheit, der Irrthum nicht für die Thatsache genommen und das morgenländische Uebel nur noch ärger werde.
Um aber Hrn. Thiers nicht Unrecht zu thun, darf der Standpunkt nicht übersehen werden, auf den er sich gegenüber seinen Zuhörern gestellt hatte und stellen mußte. Nichts wäre schlimmer für das Vertrauen auf seine Einsicht, als wenn man annähme, er habe einen höhern, die politische Bewegung wenn auch nur von Europa umfassenden Standpunkt nehmen und aus ihm die verschiedenen Verfahrungsarten gegen den Orient unter die Benennung der Politik des Handelns und des Erwartens bringen wollen, von welchen die erstere die Theilung der Türkei im Hintergrund habe, die andere aber in Erwartung der Dinge sich rüste, um beim Sturz des Gebäudes bereit zu seyn und nach seinen Trümmern zu greifen. Denn in diesem Falle wäre gerade die englische Politik aus dem Spiele oder aus der divisio bipartita herausgeblieben, welche wie bekannt darauf ausgeht, durch Handeln im jetzt gegebenen Augenblick die Theilung wie den Untergang des osmanischen Reiches abzuwenden und jene beiden Politiken des Hrn. Thiers zu annihiliren. Aber Hrn. Thiers hat es nicht mit Europa, sondern, man darf sagen, für Europa mit einigen politischen Schwächen der ihn ungebenden Nationalelite zu thun, um sie zu belehren, daß es mit ihren auf Theilung gehenden Planen vor der Hand nichts ist, und mit der Regierung, die zwar ganz klug gethan habe sich zur Politik des Wartens zu halten, aber aus ihrer Rolle gefallen sey.
Es sind also die Ansichten des Hrn. v. Lamartine und (im Fall Hr. Guizot die letztere Zeit mit seinen Vielgetreuen hinter dem Cabinet gestanden) die Ansichten der Doctrin über die orientalischen Dinge, die er unter jene Formel des Handelns und Wartens gebracht hat, um jener Politik zu sagen, daß man mit ihr gehässig und lächerlich seyn werde, und dieser, daß man ungeschickt gewesen sey. Das ungefähr ist der Kern der schönen Rede, mit welcher der treffliche Mann die Kammer der Abgeordneten und einen Ihrer Correspondenten von Paris elektrisirt hat, der hinter jenem Aufwand von Beredsamkeit eine so große Fülle von Staatsweisheit, Discretion und Vorsicht erblickt, daß ihm ein Ministerium Thiers mehr als je eine Unvermeidlichkeit scheint. Es kommt zwar ein zweiter Correspondent, wie es scheint in den Bureaux des Ministeriums vertrauter, hinter dem Enthusiasmus des ersten her, um in Hrn. Villemain das aufgehende Gestirn der Kammer und des Ministeriums zu zeigen, während, wie er meint, Hr. Thiers eigentlich vorüber, aber dabei immer doch noch zu brauchen sey und bei Gelegenheit gebraucht werden solle; doch darf uns weder jene Ueberschätzung, noch diese Unterschätzung hindern, den wahren staatsmännischen Gehalt der Rede anzuerkennen, sollte sich bei näherer Erwägung auch, wie wir oben bemerkten, herausstellen, daß neben ihrem gesunden Kern sich falsche Annahmen, unrichtige Folgerungen und einseitige Beurtheilung von Dingen und von Personen angesetzt habe, die man aber auf jeden Fall davon trennen kann, ohne jenem zu schaden.
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