Allgemeine Zeitung. Nr. 42. Augsburg, 11. Februar 1840.Leonhard Wächters historischer Nachlaß. Herausgegeben von C. F. Wurm. Erster Band. Hamburg 1838. Zweiter Band. Hamburg 1839. Es ist sicher kein Zufall, sondern das Ergebniß eines tiefern Seelenbedürfnisses, wenn die litterarischen Nachlasse, Briefwechsel und sonstigen Lebensäußerungen von Männern, die einer eben vergangenen Epoche angehören, sorgfältig gesammelt und herausgegeben werden. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an datirt der Verjüngungsproceß der Deutschen. Nicht leicht mag es in irgend einem Volke zu irgend einer Zeit bei entschiedener Gesunkenheit der großen Masse doch so viel einzelne strebende und tüchtige Persönlichkeiten gegeben haben, wie in der zweiten Hälfte des vorigen und im Anfange dieses Jahrhunderts bei uns Deutschen. Ein wohlthätiger Genius scheint mitleidig ein Füllhorn von Geist und Liebe über das erstarrte Volk ausgeschüttet und mit einemmal eine Menge von fruchtbringenden Keimen in sein Herz gesenkt zu haben. Der Anblick eines tüchtigen, in seinem Charakter ausgebildeten Volkes, wo auch der Aermste und Wenigstbegabte durch Erziehung, Gewohnheit und Sitte theilhaftig der Tugenden wird, die das Ganze hat, der Anblick einer blühenden Volkspersönlichkeit, wie z. B. der der Griechen, ist allerdings ein erhebendes und beglückendes Schauspiel, aber das Werden, Ringen, das Sichherausarbeiten eines Volkes aus seiner Versunkenheit, die ersten Flügelschläge des erwachenden höhern Lebens in einzelnen Individuen, sie gewähren ein nicht minder erhebendes Gefühl. Es ist das Verhältniß des Vorfrühlings zum Sommer, der Hoffnung zum Genuß. Das deutsche Leben im vorigen Jahrhundert gleicht einer Winterlandschaft, wo aber an tausend und tausend einzelnen Stellen der Schnee schon weggeschmolzen, wo hier eine Primel, dort eine Glockenblume, dort ein Veilchen hervorblickt - einer Winterlandschaft, von der Frühlingssonne beschienen und von schmetterndem Lerchengesange erfüllt. Die Betrachtung aller der sich regenden und aufstrebenden, sich mehr oder weniger bewußten Kräfte in so vielen einzelnen Persönlichkeiten gewährt einen frischen und wahrhaft heiligen Genuß. Welche Masse von Gesinnung, von Liebe, von gutem Willen, von Thatkraft und von schöner Empfindung! Wie drängt sich eine Erscheinung an die andere, so daß wir kaum Zeit haben, das innere Leben einer jeden ganz zu verfolgen und ganz zu verstehen. Daß jene Zeit manchen Keim höherer Gesinnung, manchen Keim von Selbstaufopferung und Begeisterungsfähigkeit selbst in die große Masse des Volks hineingelegt hatte, daß durch sie, wenigstens auf Augenblicke, eine reinere, geistigere, weniger grobselbstsüchtige Lebensanschauung möglich geworden war, das beweist der Aufschwung in den Freiheitskriegen, der fünfzig Jahre früher eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und das beweisen selbst mannichfache Einzelpartien des jetzigen Jugend- und Volkslebens, in deren, wenn auch dunkelm Drange sich doch ein höheres und vergeistigtes Lebensgefühl ausspricht. Wir haben daher wohl Recht, wenn wir uns jede einzelne Erscheinung unter dieser Menge von ausgebildeten und unausgebildeten Charakteren, die nach allen Richtungen hin strebten, und unser Herz und unsere Gesinnung von den verschiedensten Seiten anzuregen und zu befruchten suchten, mit lobenswürdiger Begierde bis ins Kleinste verfolgen. Eine werdende und eine wiedergeborene Nation bedarf der Charaktere, an denen sie sich kräftigt, an denen sie sich selbst erkennt, an denen sie ihrer Gemeinschaft sich bewußt wird. Es ist daher kein bloßer Zufall, es ist auch keine bloße müßige Neugierde und Genußsucht, wenn die Werke der wackern Gründer unserer neuern Litteratur von neuem aufgelegt, wenn alle Notizen über jeden dieser Männer gesammelt, wenn sie bis in ihre geheimsten Lebensäußerungen verfolgt werden. Es ist ein tiefes Seelenbedürfniß, aus dem diese Reproduction jener Litteraturperiode hervorgeht. Wir wußten selbst noch nicht genau, was wir hatten, wie reich wir waren. Die Erscheinungen einer überreichen und selbst in ihren Entartungen interessanten Production drängten sich wimmelnd an einander; kaum tauchte eine auf, so wurde sie schon von der andern verdrängt; Kopf an Kopf drängte sich eine geistreiche Physiognomie nach der andern ans Tageslicht; man konnte auf die meisten nur einen flüchtigen Blick werfen; den Bildungsgang, den Inhalt und das Verdienst der wenigsten und allerbedeutendsten konnte man nur einigermaßen fassen und durchkosten. Jetzt, da eine Zeit der Erschöpfung eingetreten ist, da die Natur ausruht und wir uns wohl arm nennen können an schönen und erhebenden Individualitäten der Gegenwart, jetzt haben wir Enkel Muße, das gründlich zu würdigen und uns anzueignen, was die Väter nur flüchtig und überrascht vor ihrem geistigen Auge vorübergehen lassen konnten. Hr. C. F. Wurm hat sich durch die Herausgabe des Nachlasses Leonhards Wächters nicht nur den gerechten Dank der Hamburger, für die dieser Nachlaß noch ganz besonders Interesse hat, sondern auch den Dank von ganz Deutschland verdient. Er macht sein Volk hiedurch mit einer Persönlichkeit wieder bekannt, die zu früh vergessen und verschollen war, und die wegen ihrer seltenen Geradheit, Tüchtigkeit, Redlichkeit und kräftiger Selbstständigkeit mehr wie viele andere oft Genannte es verdient, im Bewußtseyn der Nation fortzuleben und fortzuwirken und mit Liebe gehegt zu werden. Außerdem hat dieser Nachlaß den seltenen Vorzug, daß er eben das Beste und Vollendetste uns gibt, was der Mann war und geleistet hat, und daß wir erst aus diesem Nachlaß recht kennen lernen, was wir an ihm verloren. Unsern ältern Lesern ist der Romanschreiber Veit Weber wohl allen bekannt - es wäre gut, wenn auch die jüngern Leser die "Sagen der Vorzeit" zu ihren freundlichsten Jugenderinnerungen zählten; - aber den Geschichtschreiber Leonhard Wächter lernen sie erst durch dieses Buch kennen. *) Geographische Uhr. München, im Jan. Unter den mancherlei Zuschriften über meine projectirte geographische Uhr ist mir auch eine von Hrn. Johbaum zu Kapfenberg in Obersteyermark vom 10 l. M. zugekommen, welche die Idee einer Uhr enthält, die es verdient der Kunstwelt bekannt zu werden. Ich gebe den die kurze Beschreibung enthaltenden Brief selbst. "Ich habe die Ehre Ihnen anzuzeigen, daß ich die von Ihnen gestellte Aufgabe, eine geographische Uhr zu bauen, welche die Zeit für verschiedene Orte zugleich anzeigt, auf die einfachste Art gelöset zu haben glaube. Man braucht dazu ein einziges Zifferblatt mit so vielen concentrischen Kreisen, als für verschiedene *) Auszug aus einem größern Artikel in den Litterar. Bl. der Börsenhalle.
Leonhard Wächters historischer Nachlaß. Herausgegeben von C. F. Wurm. Erster Band. Hamburg 1838. Zweiter Band. Hamburg 1839. Es ist sicher kein Zufall, sondern das Ergebniß eines tiefern Seelenbedürfnisses, wenn die litterarischen Nachlasse, Briefwechsel und sonstigen Lebensäußerungen von Männern, die einer eben vergangenen Epoche angehören, sorgfältig gesammelt und herausgegeben werden. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an datirt der Verjüngungsproceß der Deutschen. Nicht leicht mag es in irgend einem Volke zu irgend einer Zeit bei entschiedener Gesunkenheit der großen Masse doch so viel einzelne strebende und tüchtige Persönlichkeiten gegeben haben, wie in der zweiten Hälfte des vorigen und im Anfange dieses Jahrhunderts bei uns Deutschen. Ein wohlthätiger Genius scheint mitleidig ein Füllhorn von Geist und Liebe über das erstarrte Volk ausgeschüttet und mit einemmal eine Menge von fruchtbringenden Keimen in sein Herz gesenkt zu haben. Der Anblick eines tüchtigen, in seinem Charakter ausgebildeten Volkes, wo auch der Aermste und Wenigstbegabte durch Erziehung, Gewohnheit und Sitte theilhaftig der Tugenden wird, die das Ganze hat, der Anblick einer blühenden Volkspersönlichkeit, wie z. B. der der Griechen, ist allerdings ein erhebendes und beglückendes Schauspiel, aber das Werden, Ringen, das Sichherausarbeiten eines Volkes aus seiner Versunkenheit, die ersten Flügelschläge des erwachenden höhern Lebens in einzelnen Individuen, sie gewähren ein nicht minder erhebendes Gefühl. Es ist das Verhältniß des Vorfrühlings zum Sommer, der Hoffnung zum Genuß. Das deutsche Leben im vorigen Jahrhundert gleicht einer Winterlandschaft, wo aber an tausend und tausend einzelnen Stellen der Schnee schon weggeschmolzen, wo hier eine Primel, dort eine Glockenblume, dort ein Veilchen hervorblickt – einer Winterlandschaft, von der Frühlingssonne beschienen und von schmetterndem Lerchengesange erfüllt. Die Betrachtung aller der sich regenden und aufstrebenden, sich mehr oder weniger bewußten Kräfte in so vielen einzelnen Persönlichkeiten gewährt einen frischen und wahrhaft heiligen Genuß. Welche Masse von Gesinnung, von Liebe, von gutem Willen, von Thatkraft und von schöner Empfindung! Wie drängt sich eine Erscheinung an die andere, so daß wir kaum Zeit haben, das innere Leben einer jeden ganz zu verfolgen und ganz zu verstehen. Daß jene Zeit manchen Keim höherer Gesinnung, manchen Keim von Selbstaufopferung und Begeisterungsfähigkeit selbst in die große Masse des Volks hineingelegt hatte, daß durch sie, wenigstens auf Augenblicke, eine reinere, geistigere, weniger grobselbstsüchtige Lebensanschauung möglich geworden war, das beweist der Aufschwung in den Freiheitskriegen, der fünfzig Jahre früher eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und das beweisen selbst mannichfache Einzelpartien des jetzigen Jugend- und Volkslebens, in deren, wenn auch dunkelm Drange sich doch ein höheres und vergeistigtes Lebensgefühl ausspricht. Wir haben daher wohl Recht, wenn wir uns jede einzelne Erscheinung unter dieser Menge von ausgebildeten und unausgebildeten Charakteren, die nach allen Richtungen hin strebten, und unser Herz und unsere Gesinnung von den verschiedensten Seiten anzuregen und zu befruchten suchten, mit lobenswürdiger Begierde bis ins Kleinste verfolgen. Eine werdende und eine wiedergeborene Nation bedarf der Charaktere, an denen sie sich kräftigt, an denen sie sich selbst erkennt, an denen sie ihrer Gemeinschaft sich bewußt wird. Es ist daher kein bloßer Zufall, es ist auch keine bloße müßige Neugierde und Genußsucht, wenn die Werke der wackern Gründer unserer neuern Litteratur von neuem aufgelegt, wenn alle Notizen über jeden dieser Männer gesammelt, wenn sie bis in ihre geheimsten Lebensäußerungen verfolgt werden. Es ist ein tiefes Seelenbedürfniß, aus dem diese Reproduction jener Litteraturperiode hervorgeht. Wir wußten selbst noch nicht genau, was wir hatten, wie reich wir waren. Die Erscheinungen einer überreichen und selbst in ihren Entartungen interessanten Production drängten sich wimmelnd an einander; kaum tauchte eine auf, so wurde sie schon von der andern verdrängt; Kopf an Kopf drängte sich eine geistreiche Physiognomie nach der andern ans Tageslicht; man konnte auf die meisten nur einen flüchtigen Blick werfen; den Bildungsgang, den Inhalt und das Verdienst der wenigsten und allerbedeutendsten konnte man nur einigermaßen fassen und durchkosten. Jetzt, da eine Zeit der Erschöpfung eingetreten ist, da die Natur ausruht und wir uns wohl arm nennen können an schönen und erhebenden Individualitäten der Gegenwart, jetzt haben wir Enkel Muße, das gründlich zu würdigen und uns anzueignen, was die Väter nur flüchtig und überrascht vor ihrem geistigen Auge vorübergehen lassen konnten. Hr. C. F. Wurm hat sich durch die Herausgabe des Nachlasses Leonhards Wächters nicht nur den gerechten Dank der Hamburger, für die dieser Nachlaß noch ganz besonders Interesse hat, sondern auch den Dank von ganz Deutschland verdient. Er macht sein Volk hiedurch mit einer Persönlichkeit wieder bekannt, die zu früh vergessen und verschollen war, und die wegen ihrer seltenen Geradheit, Tüchtigkeit, Redlichkeit und kräftiger Selbstständigkeit mehr wie viele andere oft Genannte es verdient, im Bewußtseyn der Nation fortzuleben und fortzuwirken und mit Liebe gehegt zu werden. Außerdem hat dieser Nachlaß den seltenen Vorzug, daß er eben das Beste und Vollendetste uns gibt, was der Mann war und geleistet hat, und daß wir erst aus diesem Nachlaß recht kennen lernen, was wir an ihm verloren. Unsern ältern Lesern ist der Romanschreiber Veit Weber wohl allen bekannt – es wäre gut, wenn auch die jüngern Leser die „Sagen der Vorzeit“ zu ihren freundlichsten Jugenderinnerungen zählten; – aber den Geschichtschreiber Leonhard Wächter lernen sie erst durch dieses Buch kennen. *) Geographische Uhr. München, im Jan. Unter den mancherlei Zuschriften über meine projectirte geographische Uhr ist mir auch eine von Hrn. Johbaum zu Kapfenberg in Obersteyermark vom 10 l. M. zugekommen, welche die Idee einer Uhr enthält, die es verdient der Kunstwelt bekannt zu werden. Ich gebe den die kurze Beschreibung enthaltenden Brief selbst. „Ich habe die Ehre Ihnen anzuzeigen, daß ich die von Ihnen gestellte Aufgabe, eine geographische Uhr zu bauen, welche die Zeit für verschiedene Orte zugleich anzeigt, auf die einfachste Art gelöset zu haben glaube. 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Ein wohlthätiger Genius scheint mitleidig ein Füllhorn von Geist und Liebe über das erstarrte Volk ausgeschüttet und mit einemmal eine Menge von fruchtbringenden Keimen in sein Herz gesenkt zu haben. Der Anblick eines tüchtigen, in seinem Charakter ausgebildeten Volkes, wo auch der Aermste und Wenigstbegabte durch Erziehung, Gewohnheit und Sitte theilhaftig der Tugenden wird, die das Ganze hat, der Anblick einer blühenden Volkspersönlichkeit, wie z. B. der der Griechen, ist allerdings ein erhebendes und beglückendes Schauspiel, aber das Werden, Ringen, das Sichherausarbeiten eines Volkes aus seiner Versunkenheit, die ersten Flügelschläge des erwachenden höhern Lebens in einzelnen Individuen, sie gewähren ein nicht minder erhebendes Gefühl. Es ist das Verhältniß des Vorfrühlings zum Sommer, der Hoffnung zum Genuß. Das deutsche Leben im vorigen Jahrhundert gleicht einer Winterlandschaft, wo aber an tausend und tausend einzelnen Stellen der Schnee schon weggeschmolzen, wo hier eine Primel, dort eine Glockenblume, dort ein Veilchen hervorblickt – einer Winterlandschaft, von der Frühlingssonne beschienen und von schmetterndem Lerchengesange erfüllt. Die Betrachtung aller der sich regenden und aufstrebenden, sich mehr oder weniger bewußten Kräfte in so vielen einzelnen Persönlichkeiten gewährt einen frischen und wahrhaft heiligen Genuß. Welche Masse von Gesinnung, von Liebe, von gutem Willen, von Thatkraft und von schöner Empfindung! Wie drängt sich eine Erscheinung an die andere, so daß wir kaum Zeit haben, das innere Leben einer jeden ganz zu verfolgen und ganz zu verstehen. Daß jene Zeit manchen Keim höherer Gesinnung, manchen Keim von Selbstaufopferung und Begeisterungsfähigkeit selbst in die große Masse des Volks hineingelegt hatte, daß durch sie, wenigstens auf Augenblicke, eine reinere, geistigere, weniger grobselbstsüchtige Lebensanschauung möglich geworden war, das beweist der Aufschwung in den Freiheitskriegen, der fünfzig Jahre früher eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und das beweisen selbst mannichfache Einzelpartien des jetzigen Jugend- und Volkslebens, in deren, wenn auch dunkelm Drange sich doch ein höheres und vergeistigtes Lebensgefühl ausspricht.</p><lb/> <p>Wir haben daher wohl Recht, wenn wir uns jede einzelne Erscheinung unter dieser Menge von ausgebildeten und unausgebildeten Charakteren, die nach allen Richtungen hin strebten, und unser Herz und unsere Gesinnung von den verschiedensten Seiten anzuregen und zu befruchten suchten, mit lobenswürdiger Begierde bis ins Kleinste verfolgen. Eine werdende und eine wiedergeborene Nation bedarf der Charaktere, an denen sie sich kräftigt, an denen sie sich selbst erkennt, an denen sie ihrer Gemeinschaft sich bewußt wird. Es ist daher kein bloßer Zufall, es ist auch keine bloße müßige Neugierde und Genußsucht, wenn die Werke der wackern Gründer unserer neuern Litteratur von neuem aufgelegt, wenn alle Notizen über jeden dieser Männer gesammelt, wenn sie bis in ihre geheimsten Lebensäußerungen verfolgt werden. Es ist ein tiefes Seelenbedürfniß, aus dem diese Reproduction jener Litteraturperiode hervorgeht. Wir wußten selbst noch nicht genau, was wir hatten, wie reich wir waren. Die Erscheinungen einer überreichen und selbst in ihren Entartungen interessanten Production drängten sich wimmelnd an einander; kaum tauchte eine auf, so wurde sie schon von der andern verdrängt; Kopf an Kopf drängte sich eine geistreiche Physiognomie nach der andern ans Tageslicht; man konnte auf die meisten nur einen flüchtigen Blick werfen; den Bildungsgang, den Inhalt und das Verdienst der wenigsten und allerbedeutendsten konnte man nur einigermaßen fassen und durchkosten. Jetzt, da eine Zeit der Erschöpfung eingetreten ist, da die Natur ausruht und wir uns wohl arm nennen können an schönen und erhebenden Individualitäten der Gegenwart, jetzt haben wir Enkel Muße, das gründlich zu würdigen und uns anzueignen, was die Väter nur flüchtig und überrascht vor ihrem geistigen Auge vorübergehen lassen konnten.</p><lb/> <p>Hr. C. F. Wurm hat sich durch die Herausgabe des Nachlasses Leonhards Wächters nicht nur den gerechten Dank der Hamburger, für die dieser Nachlaß noch ganz besonders Interesse hat, sondern auch den Dank von ganz Deutschland verdient. Er macht sein Volk hiedurch mit einer Persönlichkeit wieder bekannt, die zu früh vergessen und verschollen war, und die wegen ihrer seltenen Geradheit, Tüchtigkeit, Redlichkeit und kräftiger Selbstständigkeit mehr wie viele andere oft Genannte es verdient, im Bewußtseyn der Nation fortzuleben und fortzuwirken und mit Liebe gehegt zu werden. Außerdem hat dieser Nachlaß den seltenen Vorzug, daß er eben das Beste und Vollendetste uns gibt, was der Mann war und geleistet hat, und daß wir erst aus diesem Nachlaß recht kennen lernen, was wir an ihm verloren.</p><lb/> <p>Unsern ältern Lesern ist der Romanschreiber Veit Weber wohl allen bekannt – es wäre gut, wenn auch die jüngern Leser die „Sagen der Vorzeit“ zu ihren freundlichsten Jugenderinnerungen zählten; – aber den Geschichtschreiber Leonhard Wächter lernen sie erst durch dieses Buch kennen. <note place="foot" n="*)"> Auszug aus einem größern Artikel in den Litterar. Bl. der Börsenhalle.</note></p><lb/> </div> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Geographische Uhr</hi>.</hi> </head><lb/> <div n="2"> <byline> <docAuthor> <gap reason="insignificant"/> </docAuthor> </byline> <dateline><hi rendition="#b">München,</hi> im Jan.</dateline> <p> Unter den mancherlei Zuschriften über meine projectirte geographische Uhr ist mir auch eine von Hrn. 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Leonhard Wächters historischer Nachlaß.
Herausgegeben von C. F. Wurm. Erster Band. Hamburg 1838. Zweiter Band. Hamburg 1839.
Es ist sicher kein Zufall, sondern das Ergebniß eines tiefern Seelenbedürfnisses, wenn die litterarischen Nachlasse, Briefwechsel und sonstigen Lebensäußerungen von Männern, die einer eben vergangenen Epoche angehören, sorgfältig gesammelt und herausgegeben werden. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an datirt der Verjüngungsproceß der Deutschen. Nicht leicht mag es in irgend einem Volke zu irgend einer Zeit bei entschiedener Gesunkenheit der großen Masse doch so viel einzelne strebende und tüchtige Persönlichkeiten gegeben haben, wie in der zweiten Hälfte des vorigen und im Anfange dieses Jahrhunderts bei uns Deutschen. Ein wohlthätiger Genius scheint mitleidig ein Füllhorn von Geist und Liebe über das erstarrte Volk ausgeschüttet und mit einemmal eine Menge von fruchtbringenden Keimen in sein Herz gesenkt zu haben. Der Anblick eines tüchtigen, in seinem Charakter ausgebildeten Volkes, wo auch der Aermste und Wenigstbegabte durch Erziehung, Gewohnheit und Sitte theilhaftig der Tugenden wird, die das Ganze hat, der Anblick einer blühenden Volkspersönlichkeit, wie z. B. der der Griechen, ist allerdings ein erhebendes und beglückendes Schauspiel, aber das Werden, Ringen, das Sichherausarbeiten eines Volkes aus seiner Versunkenheit, die ersten Flügelschläge des erwachenden höhern Lebens in einzelnen Individuen, sie gewähren ein nicht minder erhebendes Gefühl. Es ist das Verhältniß des Vorfrühlings zum Sommer, der Hoffnung zum Genuß. Das deutsche Leben im vorigen Jahrhundert gleicht einer Winterlandschaft, wo aber an tausend und tausend einzelnen Stellen der Schnee schon weggeschmolzen, wo hier eine Primel, dort eine Glockenblume, dort ein Veilchen hervorblickt – einer Winterlandschaft, von der Frühlingssonne beschienen und von schmetterndem Lerchengesange erfüllt. Die Betrachtung aller der sich regenden und aufstrebenden, sich mehr oder weniger bewußten Kräfte in so vielen einzelnen Persönlichkeiten gewährt einen frischen und wahrhaft heiligen Genuß. Welche Masse von Gesinnung, von Liebe, von gutem Willen, von Thatkraft und von schöner Empfindung! Wie drängt sich eine Erscheinung an die andere, so daß wir kaum Zeit haben, das innere Leben einer jeden ganz zu verfolgen und ganz zu verstehen. Daß jene Zeit manchen Keim höherer Gesinnung, manchen Keim von Selbstaufopferung und Begeisterungsfähigkeit selbst in die große Masse des Volks hineingelegt hatte, daß durch sie, wenigstens auf Augenblicke, eine reinere, geistigere, weniger grobselbstsüchtige Lebensanschauung möglich geworden war, das beweist der Aufschwung in den Freiheitskriegen, der fünfzig Jahre früher eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und das beweisen selbst mannichfache Einzelpartien des jetzigen Jugend- und Volkslebens, in deren, wenn auch dunkelm Drange sich doch ein höheres und vergeistigtes Lebensgefühl ausspricht.
Wir haben daher wohl Recht, wenn wir uns jede einzelne Erscheinung unter dieser Menge von ausgebildeten und unausgebildeten Charakteren, die nach allen Richtungen hin strebten, und unser Herz und unsere Gesinnung von den verschiedensten Seiten anzuregen und zu befruchten suchten, mit lobenswürdiger Begierde bis ins Kleinste verfolgen. Eine werdende und eine wiedergeborene Nation bedarf der Charaktere, an denen sie sich kräftigt, an denen sie sich selbst erkennt, an denen sie ihrer Gemeinschaft sich bewußt wird. Es ist daher kein bloßer Zufall, es ist auch keine bloße müßige Neugierde und Genußsucht, wenn die Werke der wackern Gründer unserer neuern Litteratur von neuem aufgelegt, wenn alle Notizen über jeden dieser Männer gesammelt, wenn sie bis in ihre geheimsten Lebensäußerungen verfolgt werden. Es ist ein tiefes Seelenbedürfniß, aus dem diese Reproduction jener Litteraturperiode hervorgeht. Wir wußten selbst noch nicht genau, was wir hatten, wie reich wir waren. Die Erscheinungen einer überreichen und selbst in ihren Entartungen interessanten Production drängten sich wimmelnd an einander; kaum tauchte eine auf, so wurde sie schon von der andern verdrängt; Kopf an Kopf drängte sich eine geistreiche Physiognomie nach der andern ans Tageslicht; man konnte auf die meisten nur einen flüchtigen Blick werfen; den Bildungsgang, den Inhalt und das Verdienst der wenigsten und allerbedeutendsten konnte man nur einigermaßen fassen und durchkosten. Jetzt, da eine Zeit der Erschöpfung eingetreten ist, da die Natur ausruht und wir uns wohl arm nennen können an schönen und erhebenden Individualitäten der Gegenwart, jetzt haben wir Enkel Muße, das gründlich zu würdigen und uns anzueignen, was die Väter nur flüchtig und überrascht vor ihrem geistigen Auge vorübergehen lassen konnten.
Hr. C. F. Wurm hat sich durch die Herausgabe des Nachlasses Leonhards Wächters nicht nur den gerechten Dank der Hamburger, für die dieser Nachlaß noch ganz besonders Interesse hat, sondern auch den Dank von ganz Deutschland verdient. Er macht sein Volk hiedurch mit einer Persönlichkeit wieder bekannt, die zu früh vergessen und verschollen war, und die wegen ihrer seltenen Geradheit, Tüchtigkeit, Redlichkeit und kräftiger Selbstständigkeit mehr wie viele andere oft Genannte es verdient, im Bewußtseyn der Nation fortzuleben und fortzuwirken und mit Liebe gehegt zu werden. Außerdem hat dieser Nachlaß den seltenen Vorzug, daß er eben das Beste und Vollendetste uns gibt, was der Mann war und geleistet hat, und daß wir erst aus diesem Nachlaß recht kennen lernen, was wir an ihm verloren.
Unsern ältern Lesern ist der Romanschreiber Veit Weber wohl allen bekannt – es wäre gut, wenn auch die jüngern Leser die „Sagen der Vorzeit“ zu ihren freundlichsten Jugenderinnerungen zählten; – aber den Geschichtschreiber Leonhard Wächter lernen sie erst durch dieses Buch kennen. *)
Geographische Uhr.
_ München, im Jan. Unter den mancherlei Zuschriften über meine projectirte geographische Uhr ist mir auch eine von Hrn. Johbaum zu Kapfenberg in Obersteyermark vom 10 l. M. zugekommen, welche die Idee einer Uhr enthält, die es verdient der Kunstwelt bekannt zu werden. Ich gebe den die kurze Beschreibung enthaltenden Brief selbst.
„Ich habe die Ehre Ihnen anzuzeigen, daß ich die von Ihnen gestellte Aufgabe, eine geographische Uhr zu bauen, welche die Zeit für verschiedene Orte zugleich anzeigt, auf die einfachste Art gelöset zu haben glaube. Man braucht dazu ein einziges Zifferblatt mit so vielen concentrischen Kreisen, als für verschiedene
*) Auszug aus einem größern Artikel in den Litterar. Bl. der Börsenhalle.
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(2016-06-28T11:37:15Z)
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