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Allgemeine Zeitung. Nr. 62. Augsburg, 2. März 1840.

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Das Ausland und die deutsche Nationalität.

Die Idus des März sind nahe, der Himmel hängt schwer und trübe. Eine unmittelbare Störung scheint denn freilich die ersten Monate her noch nicht zu befahren; dagegen springt es nachgerade auch dem minder Scharfsichtigen ins Auge, daß die orientalische Verwicklung dem neunzehnten Jahrhundert das zu werden droht, was der spanische Erbfolgestreit dem achtzehnten gewesen, und daß es in dieser Frage vorläufig nur ein Ajournement der eigentlichen Entscheidung geben kann, nicht diese letzte erschöpfende Entscheidung selbst. Daher allerwärts ein ängstliches Sondiren und Orientiren, eine gewisse Unschlüssigkeit, ein Tappen im Dunkeln; alte Freunde werden irr an einander, alte Gegner suchen ihre Spannungen auszugleichen, der Instinct einer großen Gefahr zuckt durch Europa. Die Frage des Deutschen ist aber die, wie sein Vaterland bei diesen Dingen interessirt sey, welchen Weg es zu nehmen habe, auf welche Bündnisse und verwandte Interessen es im Fall einer Weltkrisis rechnen könne. Die Beantwortung dieser Frage ist vielleicht leichter als sie scheint, wenn man nur durch alle augenblicklichen Befangenheiten und künstlichen Nebel der Gegenwart hindurch das Auge schlicht und klar auf den festen Boden und die ewigen Land- und Völkerscheiden der Geschichte gerichtet hält.

Drei Familien bedecken Europa: Slaven, Germanen, Romanen. Die Tete der romanischen Völker hat Frankreich genommen; der Geist seiner Institutionen beherrscht Spanien, Portugal, Belgien, sein Einfluß und Ansehen reicht weit hinaus in Italien. Nun aber - Hr. Thiers hat es uns gesagt - ist das Interesse Frankreichs ein wesentlich und einfach continentales: der Gedanke seiner Zukunft geht zunächst auf den Rhein. Ob diese Politik nicht eine veraltete und unnatürliche zu nennen, ob Frankreich nicht vielmehr zu vorwiegendem Einfluß im Süden, zur Herrschaft über die romanische Seite des Mittelmeers berufen sey, das steht hier nicht zu erörtern; dagegen das ist klar, daß Deutschland in eine reine Stellung zu Frankreich nicht gelangen kann, so lange dieses sich fortdauernd in dem Kreise seiner alten Traditionen bewegt.

Rußland seinerseits scheint berufen und entschlossen, das slavische Element der europäischen Völkerbildung zu seiner weltgeschichtlichen Geltung zu erheben. Immer kühner und nackter tritt seit einiger Zeit der Gedanke seiner innern Staatskunst hervor: alle Völkerformen des Slaventhums staatlich, kirchlich, volksthümlich in ein reines Russenthum zu verschmelzen, um sodann mit dieser Einheit, bei der die Cultur vorläufig noch durch die Disciplin ersetzt werden muß, nachdrücklich schwer in die Wage der Völkerverhältnisse zu drücken. Rußlands auswärtige Politik ist für den Augenblick vorzugsweise orientalisch. Mit jener unerschütterlichen Consequenz, die alle Plane dieser Macht seit anderthalb Jahrhunderten bezeichnet und die in mehr als einem Zuge an den Gang des alten Roms erinnert, sucht Rußland sich der Dardanellen zu versichern; diese Thatsache ist als eine vorläufige vollbracht in dem Vertrage von Hunkiar-Skelessi. Und doch bedeutet diese Thatsache nur eine isolirte Entwicklung, ein einzelnes Fragment eines umfassenderen Planes. An dem Tage nämlich, wo diese vorläufige Thatsache eine definitive, wo das Precarium ein förmlicher Besitzstand geworden wäre, würde sich die Frage von den Dardanellen an den Belt verlegen; Rußlands Politik würde, vorzugsweise eine occidentale werden, und die Ostsee vielleicht ebenso, wie früher die Propontis, als ein moskowitisches Binnenmeer abzuschließen suchen. Ein erster Schritt dazu ist gethan in der Erwerbung Finnlands und Livlands. Gelänge Rußland nun auch dieses, so hätte es alsdann, in seinen Flanken durch zwei geschlossene Meere gedeckt, jene furchtbare Stellung genommen, in der Europa ihm gegenüber nothwendig zur Defensive verurtheilt wäre, während Rußland seinerseits jeden Augenblick dem Abendlande gegenüber in die Offensive ausschreiten könnte. Von Seite Rußlands wird man freilich eine solche Politik förmlich verläugnen; sie ist eben für den Augenblick unmöglich; sie gehört aber dennoch zu den Zukunftsgedanken dieses jugendlichen Staates und schon hat sie die heisere Stimme des Pentarchographen in voreiligem Uebermuth verkündigt.

Aus diesen Andeutungen ergibt es sich aber einfach, welchen Gang die dritte Völkerfamilie Europa's einzuhalten habe, welche Bündnisse und verwandte Interessen sie werde ansprechen können. Das Interesse Frankreichs und Rußlands ist continental, auf die Erwerbung sogenannter natürlicher Gränzen gerichtet; da sie nun in diesem Interesse sich nicht unmittelbar feindlich berühren, so ist ihr Bündniß - eine Unwahrscheinlichkeit für heute - keineswegs eine Unmöglichkeit für morgen. Die Verschiedenheit der Ideen hat ein solches Bündniß bis hiehin unmöglich gemacht, es kann aber ein Tag kommen, wo der Parallelismus der Interessen die Verschiedenheit der Ideen überflügelt. Umgekehrt die Territorialpolitik von Oesterreich und Preußen, den großen Schildhaltern germanischer Nationalität, ist wesentlich eine conservative; mit ihnen stehen die deutschen Staaten zweiten Ranges, die Schweiz, Holland, der scandinavische Norden in dem gemeinschaftlichen Interesse zusammen, ihre geschichtliche Selbstständigkeit gegen jeden Uebergriff von Norden oder Westen zu behaupten. Endlich als dritte Weltmacht tritt England von selbst in diesen Kreis hinüber, mit seinen theuersten Interessen bei dem Umstande betheiligt, daß keine Macht des Continents, zu ausschließlichem Einflusse gelangend, das Uebergewicht des brittischen Commerzes beeinträchtige.

Man wird uns freilich einwerfen, daß die augenblickliche Weltlage jenem Bilde natürlicher Verhältnisse und Allianzen wenig entspreche; es bleibt aber zu bedenken, daß diese Weltlage selbst eine künstliche ist, und ihre Schattirungen aus frühern, völlig verschiedenen Einflüssen herleitet. In einer nicht fernen Zeit scheint aber doch die Erkenntniß immer mehr tagen zu müssen, daß die natürlichen Bündnisse allein die ächten und dauernden seyen, und daß die nationale Stammverwandtschaft der Völker nicht bloß eine ursprüngliche Gemeinschaft des Blutes, sondern auch des Geistes bedeute.

Wir wenden uns von diesem Gegenstande zögernd zu verwandten Betrachtungen hinüber. Man hat Ihrem Correspondenten mehrfach die angeblich hochfahrende Sprache übelgenommen, mit der er Lamartine's Angriff auf den Besitzstand deutscher Nation diesseits des Rheins beantwortet. Wahrlich das ist betrübend! Im tiefen Frieden ergehen von der Tribune eines Nachbarlandes Manifeste einer Gesinnung, die unser Volksthum nicht bloß verletzt, sondern bedroht, und wir sollen solche Drohbriefe am Ende noch mit zahmen schüchternen Worten erwiedern! Da sehe man doch zu, wie Franzosen und Engländer einander behandeln, wo sich eins dieser Völker in seinen internationalen Beziehungen zu dem andern für gekränkt

Das Ausland und die deutsche Nationalität.

Die Idus des März sind nahe, der Himmel hängt schwer und trübe. Eine unmittelbare Störung scheint denn freilich die ersten Monate her noch nicht zu befahren; dagegen springt es nachgerade auch dem minder Scharfsichtigen ins Auge, daß die orientalische Verwicklung dem neunzehnten Jahrhundert das zu werden droht, was der spanische Erbfolgestreit dem achtzehnten gewesen, und daß es in dieser Frage vorläufig nur ein Ajournement der eigentlichen Entscheidung geben kann, nicht diese letzte erschöpfende Entscheidung selbst. Daher allerwärts ein ängstliches Sondiren und Orientiren, eine gewisse Unschlüssigkeit, ein Tappen im Dunkeln; alte Freunde werden irr an einander, alte Gegner suchen ihre Spannungen auszugleichen, der Instinct einer großen Gefahr zuckt durch Europa. Die Frage des Deutschen ist aber die, wie sein Vaterland bei diesen Dingen interessirt sey, welchen Weg es zu nehmen habe, auf welche Bündnisse und verwandte Interessen es im Fall einer Weltkrisis rechnen könne. Die Beantwortung dieser Frage ist vielleicht leichter als sie scheint, wenn man nur durch alle augenblicklichen Befangenheiten und künstlichen Nebel der Gegenwart hindurch das Auge schlicht und klar auf den festen Boden und die ewigen Land- und Völkerscheiden der Geschichte gerichtet hält.

Drei Familien bedecken Europa: Slaven, Germanen, Romanen. Die Tête der romanischen Völker hat Frankreich genommen; der Geist seiner Institutionen beherrscht Spanien, Portugal, Belgien, sein Einfluß und Ansehen reicht weit hinaus in Italien. Nun aber – Hr. Thiers hat es uns gesagt – ist das Interesse Frankreichs ein wesentlich und einfach continentales: der Gedanke seiner Zukunft geht zunächst auf den Rhein. Ob diese Politik nicht eine veraltete und unnatürliche zu nennen, ob Frankreich nicht vielmehr zu vorwiegendem Einfluß im Süden, zur Herrschaft über die romanische Seite des Mittelmeers berufen sey, das steht hier nicht zu erörtern; dagegen das ist klar, daß Deutschland in eine reine Stellung zu Frankreich nicht gelangen kann, so lange dieses sich fortdauernd in dem Kreise seiner alten Traditionen bewegt.

Rußland seinerseits scheint berufen und entschlossen, das slavische Element der europäischen Völkerbildung zu seiner weltgeschichtlichen Geltung zu erheben. Immer kühner und nackter tritt seit einiger Zeit der Gedanke seiner innern Staatskunst hervor: alle Völkerformen des Slaventhums staatlich, kirchlich, volksthümlich in ein reines Russenthum zu verschmelzen, um sodann mit dieser Einheit, bei der die Cultur vorläufig noch durch die Disciplin ersetzt werden muß, nachdrücklich schwer in die Wage der Völkerverhältnisse zu drücken. Rußlands auswärtige Politik ist für den Augenblick vorzugsweise orientalisch. Mit jener unerschütterlichen Consequenz, die alle Plane dieser Macht seit anderthalb Jahrhunderten bezeichnet und die in mehr als einem Zuge an den Gang des alten Roms erinnert, sucht Rußland sich der Dardanellen zu versichern; diese Thatsache ist als eine vorläufige vollbracht in dem Vertrage von Hunkiar-Skelessi. Und doch bedeutet diese Thatsache nur eine isolirte Entwicklung, ein einzelnes Fragment eines umfassenderen Planes. An dem Tage nämlich, wo diese vorläufige Thatsache eine definitive, wo das Precarium ein förmlicher Besitzstand geworden wäre, würde sich die Frage von den Dardanellen an den Belt verlegen; Rußlands Politik würde, vorzugsweise eine occidentale werden, und die Ostsee vielleicht ebenso, wie früher die Propontis, als ein moskowitisches Binnenmeer abzuschließen suchen. Ein erster Schritt dazu ist gethan in der Erwerbung Finnlands und Livlands. Gelänge Rußland nun auch dieses, so hätte es alsdann, in seinen Flanken durch zwei geschlossene Meere gedeckt, jene furchtbare Stellung genommen, in der Europa ihm gegenüber nothwendig zur Defensive verurtheilt wäre, während Rußland seinerseits jeden Augenblick dem Abendlande gegenüber in die Offensive ausschreiten könnte. Von Seite Rußlands wird man freilich eine solche Politik förmlich verläugnen; sie ist eben für den Augenblick unmöglich; sie gehört aber dennoch zu den Zukunftsgedanken dieses jugendlichen Staates und schon hat sie die heisere Stimme des Pentarchographen in voreiligem Uebermuth verkündigt.

Aus diesen Andeutungen ergibt es sich aber einfach, welchen Gang die dritte Völkerfamilie Europa's einzuhalten habe, welche Bündnisse und verwandte Interessen sie werde ansprechen können. Das Interesse Frankreichs und Rußlands ist continental, auf die Erwerbung sogenannter natürlicher Gränzen gerichtet; da sie nun in diesem Interesse sich nicht unmittelbar feindlich berühren, so ist ihr Bündniß – eine Unwahrscheinlichkeit für heute – keineswegs eine Unmöglichkeit für morgen. Die Verschiedenheit der Ideen hat ein solches Bündniß bis hiehin unmöglich gemacht, es kann aber ein Tag kommen, wo der Parallelismus der Interessen die Verschiedenheit der Ideen überflügelt. Umgekehrt die Territorialpolitik von Oesterreich und Preußen, den großen Schildhaltern germanischer Nationalität, ist wesentlich eine conservative; mit ihnen stehen die deutschen Staaten zweiten Ranges, die Schweiz, Holland, der scandinavische Norden in dem gemeinschaftlichen Interesse zusammen, ihre geschichtliche Selbstständigkeit gegen jeden Uebergriff von Norden oder Westen zu behaupten. Endlich als dritte Weltmacht tritt England von selbst in diesen Kreis hinüber, mit seinen theuersten Interessen bei dem Umstande betheiligt, daß keine Macht des Continents, zu ausschließlichem Einflusse gelangend, das Uebergewicht des brittischen Commerzes beeinträchtige.

Man wird uns freilich einwerfen, daß die augenblickliche Weltlage jenem Bilde natürlicher Verhältnisse und Allianzen wenig entspreche; es bleibt aber zu bedenken, daß diese Weltlage selbst eine künstliche ist, und ihre Schattirungen aus frühern, völlig verschiedenen Einflüssen herleitet. In einer nicht fernen Zeit scheint aber doch die Erkenntniß immer mehr tagen zu müssen, daß die natürlichen Bündnisse allein die ächten und dauernden seyen, und daß die nationale Stammverwandtschaft der Völker nicht bloß eine ursprüngliche Gemeinschaft des Blutes, sondern auch des Geistes bedeute.

Wir wenden uns von diesem Gegenstande zögernd zu verwandten Betrachtungen hinüber. Man hat Ihrem Correspondenten mehrfach die angeblich hochfahrende Sprache übelgenommen, mit der er Lamartine's Angriff auf den Besitzstand deutscher Nation diesseits des Rheins beantwortet. Wahrlich das ist betrübend! Im tiefen Frieden ergehen von der Tribune eines Nachbarlandes Manifeste einer Gesinnung, die unser Volksthum nicht bloß verletzt, sondern bedroht, und wir sollen solche Drohbriefe am Ende noch mit zahmen schüchternen Worten erwiedern! Da sehe man doch zu, wie Franzosen und Engländer einander behandeln, wo sich eins dieser Völker in seinen internationalen Beziehungen zu dem andern für gekränkt

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          <p>Drei Familien bedecken Europa: Slaven, Germanen, Romanen. Die Tête der romanischen Völker hat Frankreich genommen; der Geist seiner Institutionen beherrscht Spanien, Portugal, Belgien, sein Einfluß und Ansehen reicht weit hinaus in Italien. Nun aber &#x2013; Hr. Thiers hat es uns gesagt &#x2013; ist das Interesse Frankreichs ein wesentlich und einfach continentales: der Gedanke seiner Zukunft geht zunächst auf den Rhein. Ob diese Politik nicht eine veraltete und unnatürliche zu nennen, ob Frankreich nicht vielmehr zu vorwiegendem Einfluß im Süden, zur Herrschaft über die romanische Seite des Mittelmeers berufen sey, das steht hier nicht zu erörtern; dagegen das ist klar, daß Deutschland in eine reine Stellung zu Frankreich nicht gelangen kann, so lange dieses sich fortdauernd in dem Kreise seiner alten Traditionen bewegt.</p><lb/>
          <p>Rußland seinerseits scheint berufen und entschlossen, das slavische Element der europäischen Völkerbildung zu seiner weltgeschichtlichen Geltung zu erheben. Immer kühner und nackter tritt seit einiger Zeit der Gedanke seiner innern Staatskunst hervor: alle Völkerformen des Slaventhums staatlich, kirchlich, volksthümlich in ein reines Russenthum zu verschmelzen, um sodann mit dieser Einheit, bei der die Cultur vorläufig noch durch die Disciplin ersetzt werden muß, nachdrücklich schwer in die Wage der Völkerverhältnisse zu drücken. Rußlands auswärtige Politik ist für den Augenblick vorzugsweise orientalisch. Mit jener unerschütterlichen Consequenz, die alle Plane dieser Macht seit anderthalb Jahrhunderten bezeichnet und die in mehr als einem Zuge an den Gang des alten Roms erinnert, sucht Rußland sich der Dardanellen zu versichern; diese Thatsache ist als eine vorläufige vollbracht in dem Vertrage von Hunkiar-Skelessi. Und doch bedeutet diese Thatsache nur eine isolirte Entwicklung, ein einzelnes Fragment eines umfassenderen Planes. An dem Tage nämlich, wo diese vorläufige Thatsache eine definitive, wo das Precarium ein förmlicher Besitzstand geworden wäre, würde sich die Frage von den Dardanellen an den Belt verlegen; Rußlands Politik würde, vorzugsweise eine occidentale werden, und die Ostsee vielleicht ebenso, wie früher die Propontis, als ein moskowitisches Binnenmeer abzuschließen suchen. Ein erster Schritt dazu ist gethan in der Erwerbung Finnlands und Livlands. Gelänge Rußland nun auch dieses, so hätte es alsdann, in seinen Flanken durch zwei geschlossene Meere gedeckt, jene furchtbare Stellung genommen, in der Europa ihm gegenüber nothwendig zur Defensive verurtheilt wäre, während Rußland seinerseits jeden Augenblick dem Abendlande gegenüber in die Offensive ausschreiten könnte. Von Seite Rußlands wird man freilich eine solche Politik förmlich verläugnen; sie ist eben für den Augenblick unmöglich; sie gehört aber dennoch zu den Zukunftsgedanken dieses jugendlichen Staates und schon hat sie die heisere Stimme des Pentarchographen in voreiligem Uebermuth verkündigt.</p><lb/>
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[0489/0009] Das Ausland und die deutsche Nationalität. _ Vom Rhein, 20 Febr. Die Idus des März sind nahe, der Himmel hängt schwer und trübe. Eine unmittelbare Störung scheint denn freilich die ersten Monate her noch nicht zu befahren; dagegen springt es nachgerade auch dem minder Scharfsichtigen ins Auge, daß die orientalische Verwicklung dem neunzehnten Jahrhundert das zu werden droht, was der spanische Erbfolgestreit dem achtzehnten gewesen, und daß es in dieser Frage vorläufig nur ein Ajournement der eigentlichen Entscheidung geben kann, nicht diese letzte erschöpfende Entscheidung selbst. Daher allerwärts ein ängstliches Sondiren und Orientiren, eine gewisse Unschlüssigkeit, ein Tappen im Dunkeln; alte Freunde werden irr an einander, alte Gegner suchen ihre Spannungen auszugleichen, der Instinct einer großen Gefahr zuckt durch Europa. Die Frage des Deutschen ist aber die, wie sein Vaterland bei diesen Dingen interessirt sey, welchen Weg es zu nehmen habe, auf welche Bündnisse und verwandte Interessen es im Fall einer Weltkrisis rechnen könne. Die Beantwortung dieser Frage ist vielleicht leichter als sie scheint, wenn man nur durch alle augenblicklichen Befangenheiten und künstlichen Nebel der Gegenwart hindurch das Auge schlicht und klar auf den festen Boden und die ewigen Land- und Völkerscheiden der Geschichte gerichtet hält. Drei Familien bedecken Europa: Slaven, Germanen, Romanen. Die Tête der romanischen Völker hat Frankreich genommen; der Geist seiner Institutionen beherrscht Spanien, Portugal, Belgien, sein Einfluß und Ansehen reicht weit hinaus in Italien. Nun aber – Hr. Thiers hat es uns gesagt – ist das Interesse Frankreichs ein wesentlich und einfach continentales: der Gedanke seiner Zukunft geht zunächst auf den Rhein. Ob diese Politik nicht eine veraltete und unnatürliche zu nennen, ob Frankreich nicht vielmehr zu vorwiegendem Einfluß im Süden, zur Herrschaft über die romanische Seite des Mittelmeers berufen sey, das steht hier nicht zu erörtern; dagegen das ist klar, daß Deutschland in eine reine Stellung zu Frankreich nicht gelangen kann, so lange dieses sich fortdauernd in dem Kreise seiner alten Traditionen bewegt. Rußland seinerseits scheint berufen und entschlossen, das slavische Element der europäischen Völkerbildung zu seiner weltgeschichtlichen Geltung zu erheben. Immer kühner und nackter tritt seit einiger Zeit der Gedanke seiner innern Staatskunst hervor: alle Völkerformen des Slaventhums staatlich, kirchlich, volksthümlich in ein reines Russenthum zu verschmelzen, um sodann mit dieser Einheit, bei der die Cultur vorläufig noch durch die Disciplin ersetzt werden muß, nachdrücklich schwer in die Wage der Völkerverhältnisse zu drücken. Rußlands auswärtige Politik ist für den Augenblick vorzugsweise orientalisch. Mit jener unerschütterlichen Consequenz, die alle Plane dieser Macht seit anderthalb Jahrhunderten bezeichnet und die in mehr als einem Zuge an den Gang des alten Roms erinnert, sucht Rußland sich der Dardanellen zu versichern; diese Thatsache ist als eine vorläufige vollbracht in dem Vertrage von Hunkiar-Skelessi. Und doch bedeutet diese Thatsache nur eine isolirte Entwicklung, ein einzelnes Fragment eines umfassenderen Planes. An dem Tage nämlich, wo diese vorläufige Thatsache eine definitive, wo das Precarium ein förmlicher Besitzstand geworden wäre, würde sich die Frage von den Dardanellen an den Belt verlegen; Rußlands Politik würde, vorzugsweise eine occidentale werden, und die Ostsee vielleicht ebenso, wie früher die Propontis, als ein moskowitisches Binnenmeer abzuschließen suchen. Ein erster Schritt dazu ist gethan in der Erwerbung Finnlands und Livlands. Gelänge Rußland nun auch dieses, so hätte es alsdann, in seinen Flanken durch zwei geschlossene Meere gedeckt, jene furchtbare Stellung genommen, in der Europa ihm gegenüber nothwendig zur Defensive verurtheilt wäre, während Rußland seinerseits jeden Augenblick dem Abendlande gegenüber in die Offensive ausschreiten könnte. Von Seite Rußlands wird man freilich eine solche Politik förmlich verläugnen; sie ist eben für den Augenblick unmöglich; sie gehört aber dennoch zu den Zukunftsgedanken dieses jugendlichen Staates und schon hat sie die heisere Stimme des Pentarchographen in voreiligem Uebermuth verkündigt. Aus diesen Andeutungen ergibt es sich aber einfach, welchen Gang die dritte Völkerfamilie Europa's einzuhalten habe, welche Bündnisse und verwandte Interessen sie werde ansprechen können. Das Interesse Frankreichs und Rußlands ist continental, auf die Erwerbung sogenannter natürlicher Gränzen gerichtet; da sie nun in diesem Interesse sich nicht unmittelbar feindlich berühren, so ist ihr Bündniß – eine Unwahrscheinlichkeit für heute – keineswegs eine Unmöglichkeit für morgen. Die Verschiedenheit der Ideen hat ein solches Bündniß bis hiehin unmöglich gemacht, es kann aber ein Tag kommen, wo der Parallelismus der Interessen die Verschiedenheit der Ideen überflügelt. Umgekehrt die Territorialpolitik von Oesterreich und Preußen, den großen Schildhaltern germanischer Nationalität, ist wesentlich eine conservative; mit ihnen stehen die deutschen Staaten zweiten Ranges, die Schweiz, Holland, der scandinavische Norden in dem gemeinschaftlichen Interesse zusammen, ihre geschichtliche Selbstständigkeit gegen jeden Uebergriff von Norden oder Westen zu behaupten. Endlich als dritte Weltmacht tritt England von selbst in diesen Kreis hinüber, mit seinen theuersten Interessen bei dem Umstande betheiligt, daß keine Macht des Continents, zu ausschließlichem Einflusse gelangend, das Uebergewicht des brittischen Commerzes beeinträchtige. Man wird uns freilich einwerfen, daß die augenblickliche Weltlage jenem Bilde natürlicher Verhältnisse und Allianzen wenig entspreche; es bleibt aber zu bedenken, daß diese Weltlage selbst eine künstliche ist, und ihre Schattirungen aus frühern, völlig verschiedenen Einflüssen herleitet. In einer nicht fernen Zeit scheint aber doch die Erkenntniß immer mehr tagen zu müssen, daß die natürlichen Bündnisse allein die ächten und dauernden seyen, und daß die nationale Stammverwandtschaft der Völker nicht bloß eine ursprüngliche Gemeinschaft des Blutes, sondern auch des Geistes bedeute. Wir wenden uns von diesem Gegenstande zögernd zu verwandten Betrachtungen hinüber. Man hat Ihrem Correspondenten mehrfach die angeblich hochfahrende Sprache übelgenommen, mit der er Lamartine's Angriff auf den Besitzstand deutscher Nation diesseits des Rheins beantwortet. Wahrlich das ist betrübend! Im tiefen Frieden ergehen von der Tribune eines Nachbarlandes Manifeste einer Gesinnung, die unser Volksthum nicht bloß verletzt, sondern bedroht, und wir sollen solche Drohbriefe am Ende noch mit zahmen schüchternen Worten erwiedern! Da sehe man doch zu, wie Franzosen und Engländer einander behandeln, wo sich eins dieser Völker in seinen internationalen Beziehungen zu dem andern für gekränkt

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 62. Augsburg, 2. März 1840, S. 0489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_062_18400302/9>, abgerufen am 21.11.2024.