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Allgemeine Zeitung. Nr. 76. Augsburg, 16. März 1840.

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Reisen und Reiselitteratur.

Texier in Persien.

Französische Journale bringen folgendes Schreiben des bekannten Reisenden Charles Texier aus Ispahan vom 26 December: "Wir leben in der armenischen Vorstadt Dschulfa eben so ruhig, als im Centrum von Paris, obwohl Ispahan keineswegs einer vollkommenen Sicherheit genießt. Seit dem Tod von Feth-Ali-Schah (1834) hat der Bürgerkrieg in diesem Land nicht aufgehört und der Grund hievon ist die Stellung der regierenden Familie den Völkerschaften und dem Clerus gegenüber.

"Die ehemaligen Schahs von Persien bis zur Thronbesteigung Feth-Ali-Schahs waren Schiiten. Die Familie von Feth-Ali-Schah hingegen gehört zum Turkomanenstamm der Kadschars, welche die Provinz Ghilan am kaspischen Meer bewohnen. Da der Haß zwischen den Bewohnern der verschiedenen persischen Provinzen fast eben so groß ist, wie zwischen feindlichen Ländern, so dulden die Bevölkerungen von Fars, Irak und Masanderan ungern eine Familie, die ihnen fremd ist. Der Schah findet am Clerus keinen Beistand und lebt in seiner Stadt Teheran eingeschlossen, ohne in seinem Reich eine wirkliche Gewalt zu üben. Er könnte nicht nach Irak oder nach Fars kommen, ohne sein Leben zu wagen. Im vergangenen Monat wurde der Bruder des Schahs, welcher Gouverneur von Schiras war, in seinem eigenen Schloß belagert, daraus verjagt und genöthigt, sich nach Teheran zu dem Schah zurückzuziehen. Zu gleicher Zeit griffen die Perser auf das Gerücht vom Tod des Schahs zu den Waffen, um der fernern Regierung der Kadscharfamilie sich zu widersetzen. Hätten die Vorfahren Mahmud Schahs nicht die Vorsicht gehabt, die letzten Reste der Familie der Sophis zu vertilgen, so wären die Kadschars längst entfernt.

"Dieß ist der Zustand Persiens im Allgemeinen. Was Ispahan anbelangt, so ist seine Lage ganz besonders kläglich. Diese Hauptstadt wird von drei feindlichen Gewalten regiert, die gegeneinander einen erbitterten Krieg führen. Der Chan oder Gouverneur der Stadt ist ein georgischer Eunuche und Renegat, der, obwohl die Creatur Mahmud Schahs, die Befehle, welche ihm von Teheran zukommen, unbeachtet läßt. Er denkt nur darauf, mit allen möglichen Mitteln den Einfluß der beiden Imame zu bekämpfen, welche einen nicht minder eifrigen Krieg wider einander führen. - Der Groß-Imam (Imam-Dschuma) ist ein junger Mann, 24 bis 25 Jahre alt, von schwächlicher Constitution. Seit dem Tode seines ältern Bruders ist derselbe im Besitze dieser in seiner Familie erblichen Würde, als Abkömmling des edelsten Zweiges der Said. Sein Gegner ist der Groß-Musteid, dessen Ruf bis nach Paris gedrungen. Die Popularität dieses Mannes, welche ihm im Staat bedeutende Wichtigkeit gibt, hat folgenden Ursprung:
"Die Muselmänner, nicht zufrieden mit den Tausenden von Commentaren des Korans, welche seit Mahomed verfaßt worden, zollen noch jetzt die größte Ehrfurcht dem lebenden Mann, der am besten das heilige Buch commentirt und dessen exegetische Doctrine den zahlreichsten Beifall hat. So kann der Groß-Musteid, dem dieses Verdienst zuerkannt ist, mit einem einzigen Wort ermorden lassen, wen er nur immer will, denn er verfügt über einen Haufen fanatischer Menschen vom niedern Volk, welche ihm blindlings ergeben sind und die man Loutyes nennt. Er wirkt nicht direct auf sie, sondern bedient sich einer vorgeblichen göttlichen Offenbarung, von welcher seine Emissäre die Nachricht nach den Bazars bringen. Man erzählt dort geheimnißvoll: der Groß-Musteid hatte diese Nacht eine Vision; er wurde in den Himmel versetzt und erhielt den Auftrag diese oder jene Person von der Welt zu schaffen. Darauf bezeichnen die Loutyes irgend einen aus ihrer Mitte, welcher den Befehl des Himmels vollstrecken soll, und der Tag geht nicht vorüber, ohne daß der Wille des Groß-Musteid geschehen.

"Der Chan, welcher gegen die Versuche der Loutyes wohl bewacht ist, verfährt gegen sie schonungslos. So oft ein Mord begangen worden, läßt er die Thäter verhaften und sperrt sie in einen Keller des Palastes, bis eine hinreichende Zahl beisammen ist, um ein großes Exempel zu statuiren. Sie würden kaum errathen, was er mit diesen Gefangenen zu machen beabsichtigt - einen Thurm! Bereits hat er gegen hundert solcher Gefangenen beisammen. Sobald er zwei oder dreihundert hat, wird der Seufzerthurm gebaut. Man baut nämlich abwechselnd eine Lage von Steinen und eine Lage lebender Menschen (?) über einander. Bei dem Thore von Schiras erblickt man einen Thurm, der auf solche Weise errichtet worden. Allem Anschein nach wird auch an dem neuen Thurm bald gebaut werden, denn wir sahen gestern Kamele ankommen mit Kalk beladen, der zur Errichtung des interessanten Gebäudes bestimmt ist.

"Ein Unglück für die Stadt Ispahan ist, daß diese feindlichen Gewalten einander das Gleichgewicht halten und keine andere Macht in Persien stark genug ist, sie zu stürzen. Der Schah kennt das Ungemach wohl, an dem seine Hauptstadt leidet, und läßt dort täglich sein Kommen verkünden, wagt sich aber nie hin."

Deutsche Litteratur und französische Kritik.

(Fortsetzung.)

Marmier fährt fort: "Bis jetzt hab' ich die Schattenseite der deutschen Litteratur besprochen. Eine andere Seite derselben ist erfreulicher darzustellen. Indem Deutschland nach einander die Männer verlor, die es in der Achtung des Auslands so hoch erhoben, ward es seiner Illustrationen doch nicht so vollständig beraubt, wie ein Wald, wo die Axt des Holzhauers weder Bäume noch Sträucher übrig ließ. Deutschlands Leben ist nicht erloschen in seinem Trauerkleid, seine männliche Schönheit nicht ganz unter seinen Wittwenschleiern verblichen. So lange ein unermeßliches Land, wie dieses, seine friedlichen Einrichtungen, seine verständig bemessenen *)*) Wünsche, seine arbeitsamen Gewohnheiten und seine trefflichen Anlagen zur Reflexion und Ausdauer bewahrt, was darf man von ihm nicht alles für den Fortschritt der Wissenschaften und der Litteratur erwarten! Ich wende mich zu dir, edle Schule der Brüder Grimm, und bewundere den Bau der Gelehrsamkeit, den ihr mit solchem Aufwande von Geist und Forschung aufführt. Ich öffne das Thor der Universitäten, und sehe ein ganzes Gelehrtenvolk, das mit Benedictinergeduld die Arbeiten seiner Vorgänger fürbaß fördert. Hier verfolgt Ottfried Müller seine archäologischen Studien, dort fügt Ritter seiner Erdkunde ein neues Blatt

*) "Desires sages." Das Gouvernantenwort "sage" ("Soyez bien sage, mon enfant") ist unübersetzbar; aber der Deutsche fühlt seinen Sinn.
A. d. Uebersetzers.
Reisen und Reiselitteratur.

Texier in Persien.

Französische Journale bringen folgendes Schreiben des bekannten Reisenden Charles Texier aus Ispahan vom 26 December: „Wir leben in der armenischen Vorstadt Dschulfa eben so ruhig, als im Centrum von Paris, obwohl Ispahan keineswegs einer vollkommenen Sicherheit genießt. Seit dem Tod von Feth-Ali-Schah (1834) hat der Bürgerkrieg in diesem Land nicht aufgehört und der Grund hievon ist die Stellung der regierenden Familie den Völkerschaften und dem Clerus gegenüber.

„Die ehemaligen Schahs von Persien bis zur Thronbesteigung Feth-Ali-Schahs waren Schiiten. Die Familie von Feth-Ali-Schah hingegen gehört zum Turkomanenstamm der Kadschars, welche die Provinz Ghilan am kaspischen Meer bewohnen. Da der Haß zwischen den Bewohnern der verschiedenen persischen Provinzen fast eben so groß ist, wie zwischen feindlichen Ländern, so dulden die Bevölkerungen von Fars, Irak und Masanderan ungern eine Familie, die ihnen fremd ist. Der Schah findet am Clerus keinen Beistand und lebt in seiner Stadt Teheran eingeschlossen, ohne in seinem Reich eine wirkliche Gewalt zu üben. Er könnte nicht nach Irak oder nach Fars kommen, ohne sein Leben zu wagen. Im vergangenen Monat wurde der Bruder des Schahs, welcher Gouverneur von Schiras war, in seinem eigenen Schloß belagert, daraus verjagt und genöthigt, sich nach Teheran zu dem Schah zurückzuziehen. Zu gleicher Zeit griffen die Perser auf das Gerücht vom Tod des Schahs zu den Waffen, um der fernern Regierung der Kadscharfamilie sich zu widersetzen. Hätten die Vorfahren Mahmud Schahs nicht die Vorsicht gehabt, die letzten Reste der Familie der Sophis zu vertilgen, so wären die Kadschars längst entfernt.

„Dieß ist der Zustand Persiens im Allgemeinen. Was Ispahan anbelangt, so ist seine Lage ganz besonders kläglich. Diese Hauptstadt wird von drei feindlichen Gewalten regiert, die gegeneinander einen erbitterten Krieg führen. Der Chan oder Gouverneur der Stadt ist ein georgischer Eunuche und Renegat, der, obwohl die Creatur Mahmud Schahs, die Befehle, welche ihm von Teheran zukommen, unbeachtet läßt. Er denkt nur darauf, mit allen möglichen Mitteln den Einfluß der beiden Imame zu bekämpfen, welche einen nicht minder eifrigen Krieg wider einander führen. – Der Groß-Imam (Imam-Dschuma) ist ein junger Mann, 24 bis 25 Jahre alt, von schwächlicher Constitution. Seit dem Tode seines ältern Bruders ist derselbe im Besitze dieser in seiner Familie erblichen Würde, als Abkömmling des edelsten Zweiges der Said. Sein Gegner ist der Groß-Musteïd, dessen Ruf bis nach Paris gedrungen. Die Popularität dieses Mannes, welche ihm im Staat bedeutende Wichtigkeit gibt, hat folgenden Ursprung:
„Die Muselmänner, nicht zufrieden mit den Tausenden von Commentaren des Korans, welche seit Mahomed verfaßt worden, zollen noch jetzt die größte Ehrfurcht dem lebenden Mann, der am besten das heilige Buch commentirt und dessen exegetische Doctrine den zahlreichsten Beifall hat. So kann der Groß-Musteïd, dem dieses Verdienst zuerkannt ist, mit einem einzigen Wort ermorden lassen, wen er nur immer will, denn er verfügt über einen Haufen fanatischer Menschen vom niedern Volk, welche ihm blindlings ergeben sind und die man Loutyes nennt. Er wirkt nicht direct auf sie, sondern bedient sich einer vorgeblichen göttlichen Offenbarung, von welcher seine Emissäre die Nachricht nach den Bazars bringen. Man erzählt dort geheimnißvoll: der Groß-Musteïd hatte diese Nacht eine Vision; er wurde in den Himmel versetzt und erhielt den Auftrag diese oder jene Person von der Welt zu schaffen. Darauf bezeichnen die Loutyes irgend einen aus ihrer Mitte, welcher den Befehl des Himmels vollstrecken soll, und der Tag geht nicht vorüber, ohne daß der Wille des Groß-Musteïd geschehen.

„Der Chan, welcher gegen die Versuche der Loutyes wohl bewacht ist, verfährt gegen sie schonungslos. So oft ein Mord begangen worden, läßt er die Thäter verhaften und sperrt sie in einen Keller des Palastes, bis eine hinreichende Zahl beisammen ist, um ein großes Exempel zu statuiren. Sie würden kaum errathen, was er mit diesen Gefangenen zu machen beabsichtigt – einen Thurm! Bereits hat er gegen hundert solcher Gefangenen beisammen. Sobald er zwei oder dreihundert hat, wird der Seufzerthurm gebaut. Man baut nämlich abwechselnd eine Lage von Steinen und eine Lage lebender Menschen (?) über einander. Bei dem Thore von Schiras erblickt man einen Thurm, der auf solche Weise errichtet worden. Allem Anschein nach wird auch an dem neuen Thurm bald gebaut werden, denn wir sahen gestern Kamele ankommen mit Kalk beladen, der zur Errichtung des interessanten Gebäudes bestimmt ist.

„Ein Unglück für die Stadt Ispahan ist, daß diese feindlichen Gewalten einander das Gleichgewicht halten und keine andere Macht in Persien stark genug ist, sie zu stürzen. Der Schah kennt das Ungemach wohl, an dem seine Hauptstadt leidet, und läßt dort täglich sein Kommen verkünden, wagt sich aber nie hin.“

Deutsche Litteratur und französische Kritik.

(Fortsetzung.)

Marmier fährt fort: „Bis jetzt hab' ich die Schattenseite der deutschen Litteratur besprochen. Eine andere Seite derselben ist erfreulicher darzustellen. Indem Deutschland nach einander die Männer verlor, die es in der Achtung des Auslands so hoch erhoben, ward es seiner Illustrationen doch nicht so vollständig beraubt, wie ein Wald, wo die Axt des Holzhauers weder Bäume noch Sträucher übrig ließ. Deutschlands Leben ist nicht erloschen in seinem Trauerkleid, seine männliche Schönheit nicht ganz unter seinen Wittwenschleiern verblichen. So lange ein unermeßliches Land, wie dieses, seine friedlichen Einrichtungen, seine verständig bemessenen *)*) Wünsche, seine arbeitsamen Gewohnheiten und seine trefflichen Anlagen zur Reflexion und Ausdauer bewahrt, was darf man von ihm nicht alles für den Fortschritt der Wissenschaften und der Litteratur erwarten! Ich wende mich zu dir, edle Schule der Brüder Grimm, und bewundere den Bau der Gelehrsamkeit, den ihr mit solchem Aufwande von Geist und Forschung aufführt. Ich öffne das Thor der Universitäten, und sehe ein ganzes Gelehrtenvolk, das mit Benedictinergeduld die Arbeiten seiner Vorgänger fürbaß fördert. Hier verfolgt Ottfried Müller seine archäologischen Studien, dort fügt Ritter seiner Erdkunde ein neues Blatt

*) „Désires sages.“ Das Gouvernantenwort „sage“ („Soyez bien sage, mon enfant“) ist unübersetzbar; aber der Deutsche fühlt seinen Sinn.
A. d. Uebersetzers.
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[0601/0009] Reisen und Reiselitteratur. Texier in Persien. Französische Journale bringen folgendes Schreiben des bekannten Reisenden Charles Texier aus Ispahan vom 26 December: „Wir leben in der armenischen Vorstadt Dschulfa eben so ruhig, als im Centrum von Paris, obwohl Ispahan keineswegs einer vollkommenen Sicherheit genießt. Seit dem Tod von Feth-Ali-Schah (1834) hat der Bürgerkrieg in diesem Land nicht aufgehört und der Grund hievon ist die Stellung der regierenden Familie den Völkerschaften und dem Clerus gegenüber. „Die ehemaligen Schahs von Persien bis zur Thronbesteigung Feth-Ali-Schahs waren Schiiten. Die Familie von Feth-Ali-Schah hingegen gehört zum Turkomanenstamm der Kadschars, welche die Provinz Ghilan am kaspischen Meer bewohnen. Da der Haß zwischen den Bewohnern der verschiedenen persischen Provinzen fast eben so groß ist, wie zwischen feindlichen Ländern, so dulden die Bevölkerungen von Fars, Irak und Masanderan ungern eine Familie, die ihnen fremd ist. Der Schah findet am Clerus keinen Beistand und lebt in seiner Stadt Teheran eingeschlossen, ohne in seinem Reich eine wirkliche Gewalt zu üben. Er könnte nicht nach Irak oder nach Fars kommen, ohne sein Leben zu wagen. Im vergangenen Monat wurde der Bruder des Schahs, welcher Gouverneur von Schiras war, in seinem eigenen Schloß belagert, daraus verjagt und genöthigt, sich nach Teheran zu dem Schah zurückzuziehen. Zu gleicher Zeit griffen die Perser auf das Gerücht vom Tod des Schahs zu den Waffen, um der fernern Regierung der Kadscharfamilie sich zu widersetzen. Hätten die Vorfahren Mahmud Schahs nicht die Vorsicht gehabt, die letzten Reste der Familie der Sophis zu vertilgen, so wären die Kadschars längst entfernt. „Dieß ist der Zustand Persiens im Allgemeinen. Was Ispahan anbelangt, so ist seine Lage ganz besonders kläglich. Diese Hauptstadt wird von drei feindlichen Gewalten regiert, die gegeneinander einen erbitterten Krieg führen. Der Chan oder Gouverneur der Stadt ist ein georgischer Eunuche und Renegat, der, obwohl die Creatur Mahmud Schahs, die Befehle, welche ihm von Teheran zukommen, unbeachtet läßt. Er denkt nur darauf, mit allen möglichen Mitteln den Einfluß der beiden Imame zu bekämpfen, welche einen nicht minder eifrigen Krieg wider einander führen. – Der Groß-Imam (Imam-Dschuma) ist ein junger Mann, 24 bis 25 Jahre alt, von schwächlicher Constitution. Seit dem Tode seines ältern Bruders ist derselbe im Besitze dieser in seiner Familie erblichen Würde, als Abkömmling des edelsten Zweiges der Said. Sein Gegner ist der Groß-Musteïd, dessen Ruf bis nach Paris gedrungen. 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Allem Anschein nach wird auch an dem neuen Thurm bald gebaut werden, denn wir sahen gestern Kamele ankommen mit Kalk beladen, der zur Errichtung des interessanten Gebäudes bestimmt ist. „Ein Unglück für die Stadt Ispahan ist, daß diese feindlichen Gewalten einander das Gleichgewicht halten und keine andere Macht in Persien stark genug ist, sie zu stürzen. Der Schah kennt das Ungemach wohl, an dem seine Hauptstadt leidet, und läßt dort täglich sein Kommen verkünden, wagt sich aber nie hin.“ Deutsche Litteratur und französische Kritik. (Fortsetzung.) Marmier fährt fort: „Bis jetzt hab' ich die Schattenseite der deutschen Litteratur besprochen. Eine andere Seite derselben ist erfreulicher darzustellen. Indem Deutschland nach einander die Männer verlor, die es in der Achtung des Auslands so hoch erhoben, ward es seiner Illustrationen doch nicht so vollständig beraubt, wie ein Wald, wo die Axt des Holzhauers weder Bäume noch Sträucher übrig ließ. Deutschlands Leben ist nicht erloschen in seinem Trauerkleid, seine männliche Schönheit nicht ganz unter seinen Wittwenschleiern verblichen. So lange ein unermeßliches Land, wie dieses, seine friedlichen Einrichtungen, seine verständig bemessenen *) *) Wünsche, seine arbeitsamen Gewohnheiten und seine trefflichen Anlagen zur Reflexion und Ausdauer bewahrt, was darf man von ihm nicht alles für den Fortschritt der Wissenschaften und der Litteratur erwarten! Ich wende mich zu dir, edle Schule der Brüder Grimm, und bewundere den Bau der Gelehrsamkeit, den ihr mit solchem Aufwande von Geist und Forschung aufführt. Ich öffne das Thor der Universitäten, und sehe ein ganzes Gelehrtenvolk, das mit Benedictinergeduld die Arbeiten seiner Vorgänger fürbaß fördert. Hier verfolgt Ottfried Müller seine archäologischen Studien, dort fügt Ritter seiner Erdkunde ein neues Blatt *) „Désires sages.“ Das Gouvernantenwort „sage“ („Soyez bien sage, mon enfant“) ist unübersetzbar; aber der Deutsche fühlt seinen Sinn. A. d. Uebersetzers.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 76. Augsburg, 16. März 1840, S. 0601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_076_18400316/9>, abgerufen am 03.12.2024.