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Allgemeine Zeitung. Nr. 97. Augsburg, 6. April 1840.

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Marmier und die deutsche Litteratur.

II. Oeffentliche Thätigkeit und öffentlicher Geist in Deutschland.

Es wird Hrn. Marmier nicht helfen, daß er seinen Herzensergießungen über Deutschland ein Paradoxon unseres geistreichen Wolfgang Menzel vorangestellt hat, der klagt, die Deutschen thäten nicht viel, schrieben aber desto mehr, und sollten deßhalb statt des Adlers die Gans in ihrem Wappen tragen. Er hätte leicht noch Schlimmeres aus den Schriften unserer zu den Franzosen übergetretenen Landsleute, der Heine und Börne, schöpfen können, die ihren Unmuth über das verlassene oder aufgegebene Vaterland in noch derberer Weise ausdrücken. Jeder stellt das bei uns an die ihm gebührende Stelle und übersieht oder entschuldigt das Uebermäßige und Ungerechte des Tadels, weil er die Quelle des Unmuths kennt, aus der er geflossen. Etwas Anderes ist es mit einem Fremden, der sich jenes Urtheil aneignet, und es ohne persönlichen Grund und als eine Wahrheit gegen uns geltend machen will in einer Weise und mit einem Belang, der den ersten Urhebern nicht in den Sinn gekommen, und gegen den sie sich selbst am ersten verwahren würden. Ein solcher ist für das haftend, was er sich angeeignet hat, und nun, als durch seine Erfahrung bestätigt, in die Welt verkündigt. Das Thema also ist, daß Deutschland, daß die deutsche Nation zu wenig handle und zu viel schreibe, oder nicht viel thue, desto mehr aber rede, in Schriften nämlich. Das Uebel der Vielschreiberei aber werde je länger je ärger, und seit den zwölf Jahren, wo Wolfgang Menzel jene Klage erhoben, sey es dahin gekommen, daß der unerschrockenste Statistiker daran verzweifle, die Massen, welche jedes Jahr zu Ostern und zu Michaelis in das ungeheure Bücherbassin von Leipzig einführe, noch zu übersehen und zu mustern. Eine Plage sey das, wie die ägyptischen Heuschrecken. Hierauf wird England und Amerika, dann Frankreich gegen Deutschland gestellt. Jene beiden Länder wärfen sich mit rastloser Thätigkeit in neue Bahnen der Industrie und des Handels, Frankreich rotte sich um die politische Rednerbühne zusammen, und während dem sitze Deutschland unbeweglich wie eine Spinne in der Ecke und ziehe geduldig "des Fadens ewige Länge" von der Kunkel. Frankreich schleudre Ideen in die Welt hinaus, Deutschland übergebe diese der Analyse seiner Schulen. "Wenn wir handeln, sagt er, so träumt es und schwärmt." Nicht an Theilnahme, nicht an Edelmuth im Grunde des Charakters fehle es, aber alle Augenblicke vergesse man sich selbst und falle in eine Art banalen Weltbürgerthums zurück, handle ab, wo andere handeln, mache den Turnierrichter und Schrankenmesser der europäischen Kämpfe, den Chor zur europäischen Tragödie. Gleich seinem Rothbarte sitze Deutschland in der Zauberhöhle und harre, um sich zu neuer Thatkraft zu ermannen, bis die Raben nicht mehr fliegen und sein Bart auf dem Boden schleppen werde.

Man findet also hier, nur in anderer Form, auf Deutschland ausgedehnt, was Hr. St. Marc-Girardin von München gesagt hatte; und man könnte das Marmier'sche Urtheil in diese Girardin'sche Formel bringen: en Allemagne on n'agit pas, on regarde. Voila l'Allemagne! Die beaux esprits, welche von jenseits des Rheins zu uns kommen, treffen sich also nicht nur, sondern sie befruchten sich auch gegenseitig.

Es kann von einem jeden Volke begehrt werden, daß es seiner Lage und seinen Bedürfnissen gemäß handle und thätig sey, aber nur ein Thor kann von ihm begehren, daß es thue, was außer seiner Sphäre liegt, oder ihm zum Vorwurf machen, daß es sich in ihr bewege. Jedes Volk ist eine moralische Person, und hat als solche seine Pflicht zu thun, nicht mehr und nicht weniger. Deutschland im weitesten Sinne hat keine Colonien und keine Seemacht: die Staaten, welches beides besaßen, die niederländischen, sind im westphälischen Frieden definitiv von ihm getrennt worden. Wir sind dadurch von der Sphäre der politischen Thätigkeit ausgeschlossen, welche bei andern Völkern die Meere und die Colonien befassen. Wir finden in unserm "banalen Weltbürgerthum" dafür einigen Ersatz darin, daß der deutsche Name allein in Folge jener Isolirung nicht von der Theilnahme an dem Sklavenhandel befleckt worden ist. Allerdings haben wir weder in Amerika, noch in Asien, noch in Afrika etwas auszufechten, und es kann uns darum nicht als Trägheit angerechnet werden, wenn wir dort nicht auf dem Plane sind, um, sey es den Engländern und Amerikanern, oder den Franzosen mit den Waffen oder den Handelscompagnien zu begegnen. Gleichwohl hat diese Entfernthaltung von Colonialzerwürfnissen uns nicht abgehalten, den deutschen Handel über die Meere auszubreiten. Nicht Paris noch Havre, nicht Amsterdam noch Kopenhagen, nicht Lissabon noch St. Petersburg ist nach London der größte Handelsplatz in Europa, sondern Hamburg, und Hr. Marmier sollte nicht vergessen, daß Hamburg in Deutschland liegt und ein Freistaat ist, und ganz von jener Thätigkeit angefüllt, die er an England und an Amerika rühmt, und daß Bremen und Lübeck, daß im innern Lande Frankfurt und Leipzig diesem Zuge folgen, und Leipzig namentlich nicht aufgehört hat, der Hauptstapel des europäischen Binnenverkehrs zu seyn. Wo ist hier eine Spur einer nur mit Träumen und Analysen fremder Gedanken beschäftigten oder unbeweglichen, im Winkel sitzenden Nation, der man zu ihrer Beschämung die rührige Thätigkeit von England und Amerika entgegenhalten dürfte? Oder ist nicht der Gewerbfleiß, die Industrie und die Fabrication von Deutschland in steigendem Fortgang, der selbst England zu beunruhigen anfängt? Ist hier ein Gehenlassen oder ein Selbstgehen, ein Handelnlassen oder ein Selbsthandeln? Und der große deutsche Gewerbsverein, was ist er anders, als das Erzeugniß des seiner selbst bewußten und auf das Allgemeine und Große gerichteten Geistes öffentlicher Thätigkeit in Deutschland, der vereinigt, ermuntert und entfaltet, während man au der Seine sich isolirt und die steigende Noth und Unfähigkeit hinter Tarifen zu verschanzen sucht, der unserer Thätigkeit die Achtung und Anerkennung der unbefangenen Fremden erwirbt, während Hr. Marmier die Versäumnisse der eigenen Interessen in seiner Heimath durch die Vorspiegelung der Unthätigkeit der Nachbarn zu trösten sucht?

Ferner haben wir, in der Mitte von Europa gelegen, im Westen allein Frankreich, im Osten allein Rußland zu fürchten, die südlichen und nördlichen Staaten und Reiche sind uns von untergeordneter Bedeutung. Nun ist es noch kein Menschenalter her, daß Deutschland wie Ein Mann aufgestanden ist, um die französische Macht unter Napoleon über den Rhein zu werfen und unter den Mauern von Paris zu vernichten, und seitdem haben wir von dort Ruhe gehabt. Was aber weiß Hr. Marmier gegenüber dieser auch ihm fühlbar bewiesenen, öffentlichen Thätigkeit in Deutschland? Er kennt sie und erkennt

Marmier und die deutsche Litteratur.

II. Oeffentliche Thätigkeit und öffentlicher Geist in Deutschland.

Es wird Hrn. Marmier nicht helfen, daß er seinen Herzensergießungen über Deutschland ein Paradoxon unseres geistreichen Wolfgang Menzel vorangestellt hat, der klagt, die Deutschen thäten nicht viel, schrieben aber desto mehr, und sollten deßhalb statt des Adlers die Gans in ihrem Wappen tragen. Er hätte leicht noch Schlimmeres aus den Schriften unserer zu den Franzosen übergetretenen Landsleute, der Heine und Börne, schöpfen können, die ihren Unmuth über das verlassene oder aufgegebene Vaterland in noch derberer Weise ausdrücken. Jeder stellt das bei uns an die ihm gebührende Stelle und übersieht oder entschuldigt das Uebermäßige und Ungerechte des Tadels, weil er die Quelle des Unmuths kennt, aus der er geflossen. Etwas Anderes ist es mit einem Fremden, der sich jenes Urtheil aneignet, und es ohne persönlichen Grund und als eine Wahrheit gegen uns geltend machen will in einer Weise und mit einem Belang, der den ersten Urhebern nicht in den Sinn gekommen, und gegen den sie sich selbst am ersten verwahren würden. Ein solcher ist für das haftend, was er sich angeeignet hat, und nun, als durch seine Erfahrung bestätigt, in die Welt verkündigt. Das Thema also ist, daß Deutschland, daß die deutsche Nation zu wenig handle und zu viel schreibe, oder nicht viel thue, desto mehr aber rede, in Schriften nämlich. Das Uebel der Vielschreiberei aber werde je länger je ärger, und seit den zwölf Jahren, wo Wolfgang Menzel jene Klage erhoben, sey es dahin gekommen, daß der unerschrockenste Statistiker daran verzweifle, die Massen, welche jedes Jahr zu Ostern und zu Michaelis in das ungeheure Bücherbassin von Leipzig einführe, noch zu übersehen und zu mustern. Eine Plage sey das, wie die ägyptischen Heuschrecken. Hierauf wird England und Amerika, dann Frankreich gegen Deutschland gestellt. Jene beiden Länder wärfen sich mit rastloser Thätigkeit in neue Bahnen der Industrie und des Handels, Frankreich rotte sich um die politische Rednerbühne zusammen, und während dem sitze Deutschland unbeweglich wie eine Spinne in der Ecke und ziehe geduldig „des Fadens ewige Länge“ von der Kunkel. Frankreich schleudre Ideen in die Welt hinaus, Deutschland übergebe diese der Analyse seiner Schulen. „Wenn wir handeln, sagt er, so träumt es und schwärmt.“ Nicht an Theilnahme, nicht an Edelmuth im Grunde des Charakters fehle es, aber alle Augenblicke vergesse man sich selbst und falle in eine Art banalen Weltbürgerthums zurück, handle ab, wo andere handeln, mache den Turnierrichter und Schrankenmesser der europäischen Kämpfe, den Chor zur europäischen Tragödie. Gleich seinem Rothbarte sitze Deutschland in der Zauberhöhle und harre, um sich zu neuer Thatkraft zu ermannen, bis die Raben nicht mehr fliegen und sein Bart auf dem Boden schleppen werde.

Man findet also hier, nur in anderer Form, auf Deutschland ausgedehnt, was Hr. St. Marc-Girardin von München gesagt hatte; und man könnte das Marmier'sche Urtheil in diese Girardin'sche Formel bringen: en Allemagne on n'agit pas, on regarde. Voilà l'Allemagne! Die beaux esprits, welche von jenseits des Rheins zu uns kommen, treffen sich also nicht nur, sondern sie befruchten sich auch gegenseitig.

Es kann von einem jeden Volke begehrt werden, daß es seiner Lage und seinen Bedürfnissen gemäß handle und thätig sey, aber nur ein Thor kann von ihm begehren, daß es thue, was außer seiner Sphäre liegt, oder ihm zum Vorwurf machen, daß es sich in ihr bewege. Jedes Volk ist eine moralische Person, und hat als solche seine Pflicht zu thun, nicht mehr und nicht weniger. Deutschland im weitesten Sinne hat keine Colonien und keine Seemacht: die Staaten, welches beides besaßen, die niederländischen, sind im westphälischen Frieden definitiv von ihm getrennt worden. Wir sind dadurch von der Sphäre der politischen Thätigkeit ausgeschlossen, welche bei andern Völkern die Meere und die Colonien befassen. Wir finden in unserm „banalen Weltbürgerthum“ dafür einigen Ersatz darin, daß der deutsche Name allein in Folge jener Isolirung nicht von der Theilnahme an dem Sklavenhandel befleckt worden ist. Allerdings haben wir weder in Amerika, noch in Asien, noch in Afrika etwas auszufechten, und es kann uns darum nicht als Trägheit angerechnet werden, wenn wir dort nicht auf dem Plane sind, um, sey es den Engländern und Amerikanern, oder den Franzosen mit den Waffen oder den Handelscompagnien zu begegnen. Gleichwohl hat diese Entfernthaltung von Colonialzerwürfnissen uns nicht abgehalten, den deutschen Handel über die Meere auszubreiten. Nicht Paris noch Havre, nicht Amsterdam noch Kopenhagen, nicht Lissabon noch St. Petersburg ist nach London der größte Handelsplatz in Europa, sondern Hamburg, und Hr. Marmier sollte nicht vergessen, daß Hamburg in Deutschland liegt und ein Freistaat ist, und ganz von jener Thätigkeit angefüllt, die er an England und an Amerika rühmt, und daß Bremen und Lübeck, daß im innern Lande Frankfurt und Leipzig diesem Zuge folgen, und Leipzig namentlich nicht aufgehört hat, der Hauptstapel des europäischen Binnenverkehrs zu seyn. Wo ist hier eine Spur einer nur mit Träumen und Analysen fremder Gedanken beschäftigten oder unbeweglichen, im Winkel sitzenden Nation, der man zu ihrer Beschämung die rührige Thätigkeit von England und Amerika entgegenhalten dürfte? Oder ist nicht der Gewerbfleiß, die Industrie und die Fabrication von Deutschland in steigendem Fortgang, der selbst England zu beunruhigen anfängt? Ist hier ein Gehenlassen oder ein Selbstgehen, ein Handelnlassen oder ein Selbsthandeln? Und der große deutsche Gewerbsverein, was ist er anders, als das Erzeugniß des seiner selbst bewußten und auf das Allgemeine und Große gerichteten Geistes öffentlicher Thätigkeit in Deutschland, der vereinigt, ermuntert und entfaltet, während man au der Seine sich isolirt und die steigende Noth und Unfähigkeit hinter Tarifen zu verschanzen sucht, der unserer Thätigkeit die Achtung und Anerkennung der unbefangenen Fremden erwirbt, während Hr. Marmier die Versäumnisse der eigenen Interessen in seiner Heimath durch die Vorspiegelung der Unthätigkeit der Nachbarn zu trösten sucht?

Ferner haben wir, in der Mitte von Europa gelegen, im Westen allein Frankreich, im Osten allein Rußland zu fürchten, die südlichen und nördlichen Staaten und Reiche sind uns von untergeordneter Bedeutung. Nun ist es noch kein Menschenalter her, daß Deutschland wie Ein Mann aufgestanden ist, um die französische Macht unter Napoleon über den Rhein zu werfen und unter den Mauern von Paris zu vernichten, und seitdem haben wir von dort Ruhe gehabt. Was aber weiß Hr. Marmier gegenüber dieser auch ihm fühlbar bewiesenen, öffentlichen Thätigkeit in Deutschland? Er kennt sie und erkennt

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[0769/0009] Marmier und die deutsche Litteratur. II. Oeffentliche Thätigkeit und öffentlicher Geist in Deutschland. Es wird Hrn. Marmier nicht helfen, daß er seinen Herzensergießungen über Deutschland ein Paradoxon unseres geistreichen Wolfgang Menzel vorangestellt hat, der klagt, die Deutschen thäten nicht viel, schrieben aber desto mehr, und sollten deßhalb statt des Adlers die Gans in ihrem Wappen tragen. Er hätte leicht noch Schlimmeres aus den Schriften unserer zu den Franzosen übergetretenen Landsleute, der Heine und Börne, schöpfen können, die ihren Unmuth über das verlassene oder aufgegebene Vaterland in noch derberer Weise ausdrücken. Jeder stellt das bei uns an die ihm gebührende Stelle und übersieht oder entschuldigt das Uebermäßige und Ungerechte des Tadels, weil er die Quelle des Unmuths kennt, aus der er geflossen. Etwas Anderes ist es mit einem Fremden, der sich jenes Urtheil aneignet, und es ohne persönlichen Grund und als eine Wahrheit gegen uns geltend machen will in einer Weise und mit einem Belang, der den ersten Urhebern nicht in den Sinn gekommen, und gegen den sie sich selbst am ersten verwahren würden. Ein solcher ist für das haftend, was er sich angeeignet hat, und nun, als durch seine Erfahrung bestätigt, in die Welt verkündigt. Das Thema also ist, daß Deutschland, daß die deutsche Nation zu wenig handle und zu viel schreibe, oder nicht viel thue, desto mehr aber rede, in Schriften nämlich. Das Uebel der Vielschreiberei aber werde je länger je ärger, und seit den zwölf Jahren, wo Wolfgang Menzel jene Klage erhoben, sey es dahin gekommen, daß der unerschrockenste Statistiker daran verzweifle, die Massen, welche jedes Jahr zu Ostern und zu Michaelis in das ungeheure Bücherbassin von Leipzig einführe, noch zu übersehen und zu mustern. Eine Plage sey das, wie die ägyptischen Heuschrecken. Hierauf wird England und Amerika, dann Frankreich gegen Deutschland gestellt. Jene beiden Länder wärfen sich mit rastloser Thätigkeit in neue Bahnen der Industrie und des Handels, Frankreich rotte sich um die politische Rednerbühne zusammen, und während dem sitze Deutschland unbeweglich wie eine Spinne in der Ecke und ziehe geduldig „des Fadens ewige Länge“ von der Kunkel. Frankreich schleudre Ideen in die Welt hinaus, Deutschland übergebe diese der Analyse seiner Schulen. „Wenn wir handeln, sagt er, so träumt es und schwärmt.“ Nicht an Theilnahme, nicht an Edelmuth im Grunde des Charakters fehle es, aber alle Augenblicke vergesse man sich selbst und falle in eine Art banalen Weltbürgerthums zurück, handle ab, wo andere handeln, mache den Turnierrichter und Schrankenmesser der europäischen Kämpfe, den Chor zur europäischen Tragödie. Gleich seinem Rothbarte sitze Deutschland in der Zauberhöhle und harre, um sich zu neuer Thatkraft zu ermannen, bis die Raben nicht mehr fliegen und sein Bart auf dem Boden schleppen werde. Man findet also hier, nur in anderer Form, auf Deutschland ausgedehnt, was Hr. St. Marc-Girardin von München gesagt hatte; und man könnte das Marmier'sche Urtheil in diese Girardin'sche Formel bringen: en Allemagne on n'agit pas, on regarde. Voilà l'Allemagne! Die beaux esprits, welche von jenseits des Rheins zu uns kommen, treffen sich also nicht nur, sondern sie befruchten sich auch gegenseitig. Es kann von einem jeden Volke begehrt werden, daß es seiner Lage und seinen Bedürfnissen gemäß handle und thätig sey, aber nur ein Thor kann von ihm begehren, daß es thue, was außer seiner Sphäre liegt, oder ihm zum Vorwurf machen, daß es sich in ihr bewege. Jedes Volk ist eine moralische Person, und hat als solche seine Pflicht zu thun, nicht mehr und nicht weniger. Deutschland im weitesten Sinne hat keine Colonien und keine Seemacht: die Staaten, welches beides besaßen, die niederländischen, sind im westphälischen Frieden definitiv von ihm getrennt worden. Wir sind dadurch von der Sphäre der politischen Thätigkeit ausgeschlossen, welche bei andern Völkern die Meere und die Colonien befassen. Wir finden in unserm „banalen Weltbürgerthum“ dafür einigen Ersatz darin, daß der deutsche Name allein in Folge jener Isolirung nicht von der Theilnahme an dem Sklavenhandel befleckt worden ist. Allerdings haben wir weder in Amerika, noch in Asien, noch in Afrika etwas auszufechten, und es kann uns darum nicht als Trägheit angerechnet werden, wenn wir dort nicht auf dem Plane sind, um, sey es den Engländern und Amerikanern, oder den Franzosen mit den Waffen oder den Handelscompagnien zu begegnen. Gleichwohl hat diese Entfernthaltung von Colonialzerwürfnissen uns nicht abgehalten, den deutschen Handel über die Meere auszubreiten. Nicht Paris noch Havre, nicht Amsterdam noch Kopenhagen, nicht Lissabon noch St. Petersburg ist nach London der größte Handelsplatz in Europa, sondern Hamburg, und Hr. Marmier sollte nicht vergessen, daß Hamburg in Deutschland liegt und ein Freistaat ist, und ganz von jener Thätigkeit angefüllt, die er an England und an Amerika rühmt, und daß Bremen und Lübeck, daß im innern Lande Frankfurt und Leipzig diesem Zuge folgen, und Leipzig namentlich nicht aufgehört hat, der Hauptstapel des europäischen Binnenverkehrs zu seyn. Wo ist hier eine Spur einer nur mit Träumen und Analysen fremder Gedanken beschäftigten oder unbeweglichen, im Winkel sitzenden Nation, der man zu ihrer Beschämung die rührige Thätigkeit von England und Amerika entgegenhalten dürfte? Oder ist nicht der Gewerbfleiß, die Industrie und die Fabrication von Deutschland in steigendem Fortgang, der selbst England zu beunruhigen anfängt? Ist hier ein Gehenlassen oder ein Selbstgehen, ein Handelnlassen oder ein Selbsthandeln? Und der große deutsche Gewerbsverein, was ist er anders, als das Erzeugniß des seiner selbst bewußten und auf das Allgemeine und Große gerichteten Geistes öffentlicher Thätigkeit in Deutschland, der vereinigt, ermuntert und entfaltet, während man au der Seine sich isolirt und die steigende Noth und Unfähigkeit hinter Tarifen zu verschanzen sucht, der unserer Thätigkeit die Achtung und Anerkennung der unbefangenen Fremden erwirbt, während Hr. Marmier die Versäumnisse der eigenen Interessen in seiner Heimath durch die Vorspiegelung der Unthätigkeit der Nachbarn zu trösten sucht? Ferner haben wir, in der Mitte von Europa gelegen, im Westen allein Frankreich, im Osten allein Rußland zu fürchten, die südlichen und nördlichen Staaten und Reiche sind uns von untergeordneter Bedeutung. Nun ist es noch kein Menschenalter her, daß Deutschland wie Ein Mann aufgestanden ist, um die französische Macht unter Napoleon über den Rhein zu werfen und unter den Mauern von Paris zu vernichten, und seitdem haben wir von dort Ruhe gehabt. Was aber weiß Hr. Marmier gegenüber dieser auch ihm fühlbar bewiesenen, öffentlichen Thätigkeit in Deutschland? Er kennt sie und erkennt

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 97. Augsburg, 6. April 1840, S. 0769. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_097_18400406/9>, abgerufen am 21.11.2024.