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Allgemeine Zeitung. Nr. 182. Augsburg, 30. Juni 1840.

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über die Freilassung der Sklaven stattfinden soll. Hr. Duval d'Ailly, Gouverneur von Martinique, wird sie vor seiner Abreise nach Cherbourg in Empfang nehmen, um sie gleich nach seiner Ankunft zu vollziehen.

Es gibt eine Affenkrankheit unsers Jahrhunderts, die sich unter allen möglichen Formen manifestirt. Es gibt romanhafte Verbrecher, welche sich mit Privatverbrechen brüsten, oder mit politischen, und eine gräßliche Carricatur der Tragödie aufführen, bloß um sich, in ihrer Verschrobenheit, bedeutend und interessant zu machen. An dieser Unnatur hat die moderne Litteratur, wenigstens einem Theile nach, den größten Antheil. Die Lecture der Romane der Madame Sand, der HH. Balzac, Dumas und Sue haben ungeheuer viel Köpfe der Jugend und unter den Weibern verschroben. Was lockt, das ist nicht das nackte Verbrechen, noch die gräuelhafte Leidenschaft, sondern die romantische sophistische Sauce darum: eine Lelia, die in Contemplationen gottloser Unmacht oder Uebermacht sich verzückt; ein honetter Trenmor, ein lasterhafter Galeerensklave, der aber bombastisch sich aufschwillt, nicht den Götterfunken in sich belebend, nicht in Reue befangen, sondern tief speculirend über die Genialität seiner verschrobenen Natur; die Hermaphroditenliebe in dem Mädchen mit den Goldaugen des Hrn. Balzac; seine buhlerischen, in Religionsgefühlen schwelgenden großen Damen; das mit Schönheitspflästerchen bekleisterte, sich wie die Schlange ins Paradies gleißende Laster; die eleganten Teufel, welche die egoistischen Heroen in den Romanen des Hrn. Sue abgeben; dann die zwitterhaften Antonys und ähnliche Schöpfungen des Hrn. Dumas u. s. w. Eine solche Carricatur einer interessanten Mörderin, aus dergleichen genialer Modelecture herausgewuchert, ist z. B. die Madame Laffarge; Lacenaire, so wie Elicabide wollten ebenfalls Rollen spielen und dünken sich in ihrer Art poetisch; Pestel wurde interessant in den Augen des Hrn. Balzac, und so ward sein armes Weib vom Romanschreiber an den Pranger gestellt. Diese Unzucht mit dem Interessanten, welche auch in Deutschland ein paar zerstreute Wurzeln schlug, offenbart sich, in anderer Gestalt, unter erostratisch gesinnten Jünglingen, welche das alte Staatsgebäude aus bloßer Interessantigkeit in Flammen aufgehen lassen möchten. Das junge Deutschland und das junge Frankreich haben einst das Contingent zu diesen schändlichen Narrheiten gesteuert; nun aber droht sie in England Fuß zu fassen, wo sie bis jetzt neu war, denn die Jakobiner alten Schlages waren ganz andere Naturen, entweder fanatisch abstract, auf Rousseau und seinen Contrat social versessen, oder ehrgeizig herrschsüchtig, benutzend den herabgekommenen, verschimmelten Geist des Alten, um den Staat atomistisch in seine erträumten Grundelemente aufzulösen, oder, im Grunde genommen, die ganze politische Menschheit bloß zu materialisiren, einer abstracten Staatseinheit gegenüber nur Menschenparticularitäten anzuerkennen, ohne einen anderen Verband der Individuen als den verschwörerischer Clubs der geheim und öffentlich lenkenden Kleinzahl. Oxford schwätzte anfangs gerade, wie wir so oft schon in früheren Jahren das junge Deutschland oder das junge Frankreich haben schwätzen hören, das ist aus bombastischer Confusion heraus, system-, gedanken-, planlos, aber sein Herz mit falscher Einbildungskraft durchspickend, anstatt die Quelle des einfachen und starken Gefühls in ihm strömen zu lassen. Eine ächte Naturgeschichte dieser Geister würde zur tiefen Beleuchtung und Aufklärung führen über eines der Hauptgebrechen unsers Jahrhunderts; nur müßte sie von einem freien Geiste unternommen werden, und nicht von irgend einem politischen Absolutisten a l'esprit rentre.

Belgien.

Gestern entstand bei dem Vorüberziehen der Procession aus der St. Gudulakirche vor der Wachtstube des Amigo ein ernstlicher Tumult. In den frühern Jahren hatte die Wache, als das heilige Sacrament vorbeigetragen wurde, das Gewehr präsentirt, und sie erhielt den Segen. Gestern kamen die Truppen diesem Gebrauche nicht nach. Dieß erbitterte die Gruppen gegen den Chef des Postens so, daß man im Begriffe war, die Wache anzugreifen, als die Polizei einschritt, um jede Thätlichkeit zu verhüten. Um 2 Uhr waren die Gruppen noch nicht zerstreut. Man löste den Posten ab, und die abziehende Wache wurde bis zur Straße de la Montagne mit Zischen und Pfeifen begleitet. Dort versperrten zwei Infanterie-Pelotons den Weg von den beiden Seiten dieser Wache. Allein die Gruppen hatten sich von neuem in der Nähe der St. Elisabeth Caserne gebildet, und der Tumult würde ohne das Einschreiten einer großen Anzahl Stadtsergeanten und Sapeurs-Pompiers von neuem begonnen haben. Nach dem "Belge" hat der Militärgouverneur den Chef des Postens in Arrest bringen lassen.

Der Senat hat gestern den Gesetzesentwurf in Betreff der Amnestie, so wie den Gesetzesentwurf in Betreff der Domaine von Laeken einstimmig angenommen und hierauf das Ganze des Gesetzesentwurfs in Betreff der transatlantischen Dampfschifffahrt erörtert, der wahrscheinlich in der heutigen Sitzung angenommen werden wird.

Niederlande.

Se. Maj. der König hat unter dem gestrigen die definitive Concession zur Verlängerung der Haarlemer Eisenbahn bis Rotterdam ertheilt, und zugleich bestimmt, daß vorerst die Section von Haarlem nach dem Haag gebaut werden solle.

Italien.

Vorgestern hat die Regierung in einem officiellen Artikel im hiesigen Journal die Freigebung der in Malta und Corfu zurückgehaltenen neapolitanischen Schiffe bekannt gemacht; auch gibt sie zu verstehen, daß die Differenzen mit England binnen kurzem ganz geschlichtet seyn werden. - Die neapolitanische Flotte von neun Segeln wird dieser Tage nach Tunis absegeln, um sich daselbst wegen mehrerer neapolitanischen Unterthanen angethanen Beleidigungen Recht zu verschaffen. Der König, heißt es, hat zur Vergrößerung seiner Seemacht nach England den Auftrag gegeben, vier Kriegs-Dampfschiffe, jedes mit vier 84Pfündern bewaffnet, für ihn zu bauen.

Schweiz.

Gestern hat der große Rath dem Dimissionsbegehren des Hrn. Bürgermeister Heß entsprochen, und heute ist dem Abgetretenen in der Person des Hrn. Heinrich Mousson - ehemaligen eidgenössischen Staatsschreibers - ein würdiger Nachfolger gegeben worden.

Deutschland.

Den neuesten Nachrichten aus Aschaffenburg zufolge standen Se. Maj. der König im Begriff, sich zu einem kurzen Besuche nach Speyer und Landau zu begeben. - Ihre k. H. die Frau Großherzogin von Baden mit zwei Prinzessinnen Töchtern und Gefolge sind gestern Abend gegen 11 Uhr hier eingetroffen und im goldnen Hirsch abgetreten. Ihre k. H. nahmen heute in Begleitung Ihrer Maj. der verwittweten Königin, deren Gesundheit, zur großen Freude der hiesigen Einwohner, wieder hergestellt ist, einige Sehenswürdigkeiten in Augenschein, und werden diesen Abend das

über die Freilassung der Sklaven stattfinden soll. Hr. Duval d'Ailly, Gouverneur von Martinique, wird sie vor seiner Abreise nach Cherbourg in Empfang nehmen, um sie gleich nach seiner Ankunft zu vollziehen.

Es gibt eine Affenkrankheit unsers Jahrhunderts, die sich unter allen möglichen Formen manifestirt. Es gibt romanhafte Verbrecher, welche sich mit Privatverbrechen brüsten, oder mit politischen, und eine gräßliche Carricatur der Tragödie aufführen, bloß um sich, in ihrer Verschrobenheit, bedeutend und interessant zu machen. An dieser Unnatur hat die moderne Litteratur, wenigstens einem Theile nach, den größten Antheil. Die Lecture der Romane der Madame Sand, der HH. Balzac, Dumas und Sue haben ungeheuer viel Köpfe der Jugend und unter den Weibern verschroben. Was lockt, das ist nicht das nackte Verbrechen, noch die gräuelhafte Leidenschaft, sondern die romantische sophistische Sauce darum: eine Lelia, die in Contemplationen gottloser Unmacht oder Uebermacht sich verzückt; ein honetter Trenmor, ein lasterhafter Galeerensklave, der aber bombastisch sich aufschwillt, nicht den Götterfunken in sich belebend, nicht in Reue befangen, sondern tief speculirend über die Genialität seiner verschrobenen Natur; die Hermaphroditenliebe in dem Mädchen mit den Goldaugen des Hrn. Balzac; seine buhlerischen, in Religionsgefühlen schwelgenden großen Damen; das mit Schönheitspflästerchen bekleisterte, sich wie die Schlange ins Paradies gleißende Laster; die eleganten Teufel, welche die egoistischen Heroen in den Romanen des Hrn. Sue abgeben; dann die zwitterhaften Antonys und ähnliche Schöpfungen des Hrn. Dumas u. s. w. Eine solche Carricatur einer interessanten Mörderin, aus dergleichen genialer Modelecture herausgewuchert, ist z. B. die Madame Laffarge; Lacenaire, so wie Eliçabide wollten ebenfalls Rollen spielen und dünken sich in ihrer Art poetisch; Pestel wurde interessant in den Augen des Hrn. Balzac, und so ward sein armes Weib vom Romanschreiber an den Pranger gestellt. Diese Unzucht mit dem Interessanten, welche auch in Deutschland ein paar zerstreute Wurzeln schlug, offenbart sich, in anderer Gestalt, unter erostratisch gesinnten Jünglingen, welche das alte Staatsgebäude aus bloßer Interessantigkeit in Flammen aufgehen lassen möchten. Das junge Deutschland und das junge Frankreich haben einst das Contingent zu diesen schändlichen Narrheiten gesteuert; nun aber droht sie in England Fuß zu fassen, wo sie bis jetzt neu war, denn die Jakobiner alten Schlages waren ganz andere Naturen, entweder fanatisch abstract, auf Rousseau und seinen Contrat social versessen, oder ehrgeizig herrschsüchtig, benutzend den herabgekommenen, verschimmelten Geist des Alten, um den Staat atomistisch in seine erträumten Grundelemente aufzulösen, oder, im Grunde genommen, die ganze politische Menschheit bloß zu materialisiren, einer abstracten Staatseinheit gegenüber nur Menschenparticularitäten anzuerkennen, ohne einen anderen Verband der Individuen als den verschwörerischer Clubs der geheim und öffentlich lenkenden Kleinzahl. Oxford schwätzte anfangs gerade, wie wir so oft schon in früheren Jahren das junge Deutschland oder das junge Frankreich haben schwätzen hören, das ist aus bombastischer Confusion heraus, system-, gedanken-, planlos, aber sein Herz mit falscher Einbildungskraft durchspickend, anstatt die Quelle des einfachen und starken Gefühls in ihm strömen zu lassen. Eine ächte Naturgeschichte dieser Geister würde zur tiefen Beleuchtung und Aufklärung führen über eines der Hauptgebrechen unsers Jahrhunderts; nur müßte sie von einem freien Geiste unternommen werden, und nicht von irgend einem politischen Absolutisten á l'esprit rentré.

Belgien.

Gestern entstand bei dem Vorüberziehen der Procession aus der St. Gudulakirche vor der Wachtstube des Amigo ein ernstlicher Tumult. In den frühern Jahren hatte die Wache, als das heilige Sacrament vorbeigetragen wurde, das Gewehr präsentirt, und sie erhielt den Segen. Gestern kamen die Truppen diesem Gebrauche nicht nach. Dieß erbitterte die Gruppen gegen den Chef des Postens so, daß man im Begriffe war, die Wache anzugreifen, als die Polizei einschritt, um jede Thätlichkeit zu verhüten. Um 2 Uhr waren die Gruppen noch nicht zerstreut. Man löste den Posten ab, und die abziehende Wache wurde bis zur Straße de la Montagne mit Zischen und Pfeifen begleitet. Dort versperrten zwei Infanterie-Pelotons den Weg von den beiden Seiten dieser Wache. Allein die Gruppen hatten sich von neuem in der Nähe der St. Elisabeth Caserne gebildet, und der Tumult würde ohne das Einschreiten einer großen Anzahl Stadtsergeanten und Sapeurs-Pompiers von neuem begonnen haben. Nach dem „Belge“ hat der Militärgouverneur den Chef des Postens in Arrest bringen lassen.

Der Senat hat gestern den Gesetzesentwurf in Betreff der Amnestie, so wie den Gesetzesentwurf in Betreff der Domaine von Laeken einstimmig angenommen und hierauf das Ganze des Gesetzesentwurfs in Betreff der transatlantischen Dampfschifffahrt erörtert, der wahrscheinlich in der heutigen Sitzung angenommen werden wird.

Niederlande.

Se. Maj. der König hat unter dem gestrigen die definitive Concession zur Verlängerung der Haarlemer Eisenbahn bis Rotterdam ertheilt, und zugleich bestimmt, daß vorerst die Section von Haarlem nach dem Haag gebaut werden solle.

Italien.

Vorgestern hat die Regierung in einem officiellen Artikel im hiesigen Journal die Freigebung der in Malta und Corfu zurückgehaltenen neapolitanischen Schiffe bekannt gemacht; auch gibt sie zu verstehen, daß die Differenzen mit England binnen kurzem ganz geschlichtet seyn werden. – Die neapolitanische Flotte von neun Segeln wird dieser Tage nach Tunis absegeln, um sich daselbst wegen mehrerer neapolitanischen Unterthanen angethanen Beleidigungen Recht zu verschaffen. Der König, heißt es, hat zur Vergrößerung seiner Seemacht nach England den Auftrag gegeben, vier Kriegs-Dampfschiffe, jedes mit vier 84Pfündern bewaffnet, für ihn zu bauen.

Schweiz.

Gestern hat der große Rath dem Dimissionsbegehren des Hrn. Bürgermeister Heß entsprochen, und heute ist dem Abgetretenen in der Person des Hrn. Heinrich Mousson – ehemaligen eidgenössischen Staatsschreibers – ein würdiger Nachfolger gegeben worden.

Deutschland.

Den neuesten Nachrichten aus Aschaffenburg zufolge standen Se. Maj. der König im Begriff, sich zu einem kurzen Besuche nach Speyer und Landau zu begeben. – Ihre k. H. die Frau Großherzogin von Baden mit zwei Prinzessinnen Töchtern und Gefolge sind gestern Abend gegen 11 Uhr hier eingetroffen und im goldnen Hirsch abgetreten. Ihre k. H. nahmen heute in Begleitung Ihrer Maj. der verwittweten Königin, deren Gesundheit, zur großen Freude der hiesigen Einwohner, wieder hergestellt ist, einige Sehenswürdigkeiten in Augenschein, und werden diesen Abend das

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[1453/0005] über die Freilassung der Sklaven stattfinden soll. Hr. Duval d'Ailly, Gouverneur von Martinique, wird sie vor seiner Abreise nach Cherbourg in Empfang nehmen, um sie gleich nach seiner Ankunft zu vollziehen. _ Paris, 20 Jun. Es gibt eine Affenkrankheit unsers Jahrhunderts, die sich unter allen möglichen Formen manifestirt. Es gibt romanhafte Verbrecher, welche sich mit Privatverbrechen brüsten, oder mit politischen, und eine gräßliche Carricatur der Tragödie aufführen, bloß um sich, in ihrer Verschrobenheit, bedeutend und interessant zu machen. An dieser Unnatur hat die moderne Litteratur, wenigstens einem Theile nach, den größten Antheil. Die Lecture der Romane der Madame Sand, der HH. Balzac, Dumas und Sue haben ungeheuer viel Köpfe der Jugend und unter den Weibern verschroben. Was lockt, das ist nicht das nackte Verbrechen, noch die gräuelhafte Leidenschaft, sondern die romantische sophistische Sauce darum: eine Lelia, die in Contemplationen gottloser Unmacht oder Uebermacht sich verzückt; ein honetter Trenmor, ein lasterhafter Galeerensklave, der aber bombastisch sich aufschwillt, nicht den Götterfunken in sich belebend, nicht in Reue befangen, sondern tief speculirend über die Genialität seiner verschrobenen Natur; die Hermaphroditenliebe in dem Mädchen mit den Goldaugen des Hrn. Balzac; seine buhlerischen, in Religionsgefühlen schwelgenden großen Damen; das mit Schönheitspflästerchen bekleisterte, sich wie die Schlange ins Paradies gleißende Laster; die eleganten Teufel, welche die egoistischen Heroen in den Romanen des Hrn. Sue abgeben; dann die zwitterhaften Antonys und ähnliche Schöpfungen des Hrn. Dumas u. s. w. Eine solche Carricatur einer interessanten Mörderin, aus dergleichen genialer Modelecture herausgewuchert, ist z. B. die Madame Laffarge; Lacenaire, so wie Eliçabide wollten ebenfalls Rollen spielen und dünken sich in ihrer Art poetisch; Pestel wurde interessant in den Augen des Hrn. Balzac, und so ward sein armes Weib vom Romanschreiber an den Pranger gestellt. Diese Unzucht mit dem Interessanten, welche auch in Deutschland ein paar zerstreute Wurzeln schlug, offenbart sich, in anderer Gestalt, unter erostratisch gesinnten Jünglingen, welche das alte Staatsgebäude aus bloßer Interessantigkeit in Flammen aufgehen lassen möchten. Das junge Deutschland und das junge Frankreich haben einst das Contingent zu diesen schändlichen Narrheiten gesteuert; nun aber droht sie in England Fuß zu fassen, wo sie bis jetzt neu war, denn die Jakobiner alten Schlages waren ganz andere Naturen, entweder fanatisch abstract, auf Rousseau und seinen Contrat social versessen, oder ehrgeizig herrschsüchtig, benutzend den herabgekommenen, verschimmelten Geist des Alten, um den Staat atomistisch in seine erträumten Grundelemente aufzulösen, oder, im Grunde genommen, die ganze politische Menschheit bloß zu materialisiren, einer abstracten Staatseinheit gegenüber nur Menschenparticularitäten anzuerkennen, ohne einen anderen Verband der Individuen als den verschwörerischer Clubs der geheim und öffentlich lenkenden Kleinzahl. Oxford schwätzte anfangs gerade, wie wir so oft schon in früheren Jahren das junge Deutschland oder das junge Frankreich haben schwätzen hören, das ist aus bombastischer Confusion heraus, system-, gedanken-, planlos, aber sein Herz mit falscher Einbildungskraft durchspickend, anstatt die Quelle des einfachen und starken Gefühls in ihm strömen zu lassen. Eine ächte Naturgeschichte dieser Geister würde zur tiefen Beleuchtung und Aufklärung führen über eines der Hauptgebrechen unsers Jahrhunderts; nur müßte sie von einem freien Geiste unternommen werden, und nicht von irgend einem politischen Absolutisten á l'esprit rentré. Belgien. _ Brüssel, 22 Jun. Gestern entstand bei dem Vorüberziehen der Procession aus der St. Gudulakirche vor der Wachtstube des Amigo ein ernstlicher Tumult. In den frühern Jahren hatte die Wache, als das heilige Sacrament vorbeigetragen wurde, das Gewehr präsentirt, und sie erhielt den Segen. Gestern kamen die Truppen diesem Gebrauche nicht nach. Dieß erbitterte die Gruppen gegen den Chef des Postens so, daß man im Begriffe war, die Wache anzugreifen, als die Polizei einschritt, um jede Thätlichkeit zu verhüten. Um 2 Uhr waren die Gruppen noch nicht zerstreut. Man löste den Posten ab, und die abziehende Wache wurde bis zur Straße de la Montagne mit Zischen und Pfeifen begleitet. Dort versperrten zwei Infanterie-Pelotons den Weg von den beiden Seiten dieser Wache. Allein die Gruppen hatten sich von neuem in der Nähe der St. Elisabeth Caserne gebildet, und der Tumult würde ohne das Einschreiten einer großen Anzahl Stadtsergeanten und Sapeurs-Pompiers von neuem begonnen haben. Nach dem „Belge“ hat der Militärgouverneur den Chef des Postens in Arrest bringen lassen. _ Brüssel, 23 Jun. Der Senat hat gestern den Gesetzesentwurf in Betreff der Amnestie, so wie den Gesetzesentwurf in Betreff der Domaine von Laeken einstimmig angenommen und hierauf das Ganze des Gesetzesentwurfs in Betreff der transatlantischen Dampfschifffahrt erörtert, der wahrscheinlich in der heutigen Sitzung angenommen werden wird. Niederlande. _ Amsterdam, 23 Jun. Se. Maj. der König hat unter dem gestrigen die definitive Concession zur Verlängerung der Haarlemer Eisenbahn bis Rotterdam ertheilt, und zugleich bestimmt, daß vorerst die Section von Haarlem nach dem Haag gebaut werden solle. Italien. _ Neapel, 20 Jun. Vorgestern hat die Regierung in einem officiellen Artikel im hiesigen Journal die Freigebung der in Malta und Corfu zurückgehaltenen neapolitanischen Schiffe bekannt gemacht; auch gibt sie zu verstehen, daß die Differenzen mit England binnen kurzem ganz geschlichtet seyn werden. – Die neapolitanische Flotte von neun Segeln wird dieser Tage nach Tunis absegeln, um sich daselbst wegen mehrerer neapolitanischen Unterthanen angethanen Beleidigungen Recht zu verschaffen. Der König, heißt es, hat zur Vergrößerung seiner Seemacht nach England den Auftrag gegeben, vier Kriegs-Dampfschiffe, jedes mit vier 84Pfündern bewaffnet, für ihn zu bauen. Schweiz. _ Zürich, 23 Jun. Gestern hat der große Rath dem Dimissionsbegehren des Hrn. Bürgermeister Heß entsprochen, und heute ist dem Abgetretenen in der Person des Hrn. Heinrich Mousson – ehemaligen eidgenössischen Staatsschreibers – ein würdiger Nachfolger gegeben worden. Deutschland. _ München, 28 Jun. Den neuesten Nachrichten aus Aschaffenburg zufolge standen Se. Maj. der König im Begriff, sich zu einem kurzen Besuche nach Speyer und Landau zu begeben. – Ihre k. H. die Frau Großherzogin von Baden mit zwei Prinzessinnen Töchtern und Gefolge sind gestern Abend gegen 11 Uhr hier eingetroffen und im goldnen Hirsch abgetreten. Ihre k. H. nahmen heute in Begleitung Ihrer Maj. der verwittweten Königin, deren Gesundheit, zur großen Freude der hiesigen Einwohner, wieder hergestellt ist, einige Sehenswürdigkeiten in Augenschein, und werden diesen Abend das

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 182. Augsburg, 30. Juni 1840, S. 1453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_182_18400630/5>, abgerufen am 21.11.2024.