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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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und Thiele nach einem in der That sehr geringen Anschlage die
Zahl der in Deutschland 1) und den sprachverwandten Nachbar-
ländern lebenden Gauner auf 10,000 Jndividuen angibt, welche
Zahl andere auf das Doppelte veranschlagen. Der durch das
Gaunerthum angerichtete materielle Schaden 2) läßt sich gar nicht
berechnen, seitdem die Gaunerkunst es so weit gebracht hat, die
Spuren ihrer Unternehmungen so weit zu verdecken, daß ein Dieb-
stahl häufig zu spät, häufig aber gar nicht einmal bemerkt, ge-
legentlich aber doch der Vermiß plötzlich ins Auge gefallen und
einem Versehen oder Verbrechen eines Dritten, sogar des Dam-
nificaten selbst zugerechnet worden ist. Auf diese Weise hat man-
cher öffentlicher Kassenbeamter, um Namen und Amt zu retten,
seine ganze Habe hergegeben, ja leider schon mancher Unglückliche
in der Verzweiflung über seine vermeinte Nachlässigkeit sich entleibt.
Es ist unglaublich, wie ungeheuer viel z. B. in den Seiden- und
Ausschnittläden gestohlen wird, und wie wenig die Kaufleute
sich überzeugen lassen wollen, daß sie von Gaunerinnen um
das vor ihren Augen bestohlen sind, was sie als verkauft oder
höchstens als Vermessung oder "Verspillung" in den Büchern
notiren. 3)

Auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen des deut-
schen Gaunerthums findet sich nirgends eine nationale Eigen-



1) Zimmermann, a. a. O., S. 9, veranschlagt die Zahl der eigentlichen
professionirten Diebe in Berlin, die sich je immer auf freiem Fuße befinden
und principiell die öffentliche Sicherheit in jedem Augenblick bedrohen, auf
600--1000 Köpfe, die jährlich 150,000 Thlr. stehlen.
2) Schäffer veranschlagte den jährlichen Schaden, den die Gauner in
Schwaben anrichteten, auf 186,588 Gulden, Thiele den der Gauner in Deutsch-
land auf anderthalb Millionen Thaler; beide Anschläge sind äußerst gering.
Vgl. Stuhlmüller, a. a. O., Vorrede, S. xxxv.
3) Noch in neuerer Zeit ist mir der Fall vorgekommen, daß in einem
solchen großen Geschäft eine weibliche Schottenfellerchawrusse von drei Jndi-
viduen den Vorrath von Wollmusselinstücken eines bestimmten Musters so
gänzlich aufgeräumt hatte, daß das Ladenpersonal das Muster der vorgelegten
Kleider durchaus nicht kannte und erst nach wiederholtem Nachschlagen im
Probenbuche sich überzeugte, daß der Stoff dieses Musters im Lager wirklich
vorräthig gewesen war.

und Thiele nach einem in der That ſehr geringen Anſchlage die
Zahl der in Deutſchland 1) und den ſprachverwandten Nachbar-
ländern lebenden Gauner auf 10,000 Jndividuen angibt, welche
Zahl andere auf das Doppelte veranſchlagen. Der durch das
Gaunerthum angerichtete materielle Schaden 2) läßt ſich gar nicht
berechnen, ſeitdem die Gaunerkunſt es ſo weit gebracht hat, die
Spuren ihrer Unternehmungen ſo weit zu verdecken, daß ein Dieb-
ſtahl häufig zu ſpät, häufig aber gar nicht einmal bemerkt, ge-
legentlich aber doch der Vermiß plötzlich ins Auge gefallen und
einem Verſehen oder Verbrechen eines Dritten, ſogar des Dam-
nificaten ſelbſt zugerechnet worden iſt. Auf dieſe Weiſe hat man-
cher öffentlicher Kaſſenbeamter, um Namen und Amt zu retten,
ſeine ganze Habe hergegeben, ja leider ſchon mancher Unglückliche
in der Verzweiflung über ſeine vermeinte Nachläſſigkeit ſich entleibt.
Es iſt unglaublich, wie ungeheuer viel z. B. in den Seiden- und
Ausſchnittläden geſtohlen wird, und wie wenig die Kaufleute
ſich überzeugen laſſen wollen, daß ſie von Gaunerinnen um
das vor ihren Augen beſtohlen ſind, was ſie als verkauft oder
höchſtens als Vermeſſung oder „Verſpillung“ in den Büchern
notiren. 3)

Auch in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen des deut-
ſchen Gaunerthums findet ſich nirgends eine nationale Eigen-



1) Zimmermann, a. a. O., S. 9, veranſchlagt die Zahl der eigentlichen
profeſſionirten Diebe in Berlin, die ſich je immer auf freiem Fuße befinden
und principiell die öffentliche Sicherheit in jedem Augenblick bedrohen, auf
600—1000 Köpfe, die jährlich 150,000 Thlr. ſtehlen.
2) Schäffer veranſchlagte den jährlichen Schaden, den die Gauner in
Schwaben anrichteten, auf 186,588 Gulden, Thiele den der Gauner in Deutſch-
land auf anderthalb Millionen Thaler; beide Anſchläge ſind äußerſt gering.
Vgl. Stuhlmüller, a. a. O., Vorrede, S. xxxv.
3) Noch in neuerer Zeit iſt mir der Fall vorgekommen, daß in einem
ſolchen großen Geſchäft eine weibliche Schottenfellerchawruſſe von drei Jndi-
viduen den Vorrath von Wollmuſſelinſtücken eines beſtimmten Muſters ſo
gänzlich aufgeräumt hatte, daß das Ladenperſonal das Muſter der vorgelegten
Kleider durchaus nicht kannte und erſt nach wiederholtem Nachſchlagen im
Probenbuche ſich überzeugte, daß der Stoff dieſes Muſters im Lager wirklich
vorräthig geweſen war.
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[6/0018] und Thiele nach einem in der That ſehr geringen Anſchlage die Zahl der in Deutſchland 1) und den ſprachverwandten Nachbar- ländern lebenden Gauner auf 10,000 Jndividuen angibt, welche Zahl andere auf das Doppelte veranſchlagen. Der durch das Gaunerthum angerichtete materielle Schaden 2) läßt ſich gar nicht berechnen, ſeitdem die Gaunerkunſt es ſo weit gebracht hat, die Spuren ihrer Unternehmungen ſo weit zu verdecken, daß ein Dieb- ſtahl häufig zu ſpät, häufig aber gar nicht einmal bemerkt, ge- legentlich aber doch der Vermiß plötzlich ins Auge gefallen und einem Verſehen oder Verbrechen eines Dritten, ſogar des Dam- nificaten ſelbſt zugerechnet worden iſt. Auf dieſe Weiſe hat man- cher öffentlicher Kaſſenbeamter, um Namen und Amt zu retten, ſeine ganze Habe hergegeben, ja leider ſchon mancher Unglückliche in der Verzweiflung über ſeine vermeinte Nachläſſigkeit ſich entleibt. Es iſt unglaublich, wie ungeheuer viel z. B. in den Seiden- und Ausſchnittläden geſtohlen wird, und wie wenig die Kaufleute ſich überzeugen laſſen wollen, daß ſie von Gaunerinnen um das vor ihren Augen beſtohlen ſind, was ſie als verkauft oder höchſtens als Vermeſſung oder „Verſpillung“ in den Büchern notiren. 3) Auch in den geſellſchaftlichen Verhältniſſen des deut- ſchen Gaunerthums findet ſich nirgends eine nationale Eigen- 1) Zimmermann, a. a. O., S. 9, veranſchlagt die Zahl der eigentlichen profeſſionirten Diebe in Berlin, die ſich je immer auf freiem Fuße befinden und principiell die öffentliche Sicherheit in jedem Augenblick bedrohen, auf 600—1000 Köpfe, die jährlich 150,000 Thlr. ſtehlen. 2) Schäffer veranſchlagte den jährlichen Schaden, den die Gauner in Schwaben anrichteten, auf 186,588 Gulden, Thiele den der Gauner in Deutſch- land auf anderthalb Millionen Thaler; beide Anſchläge ſind äußerſt gering. Vgl. Stuhlmüller, a. a. O., Vorrede, S. xxxv. 3) Noch in neuerer Zeit iſt mir der Fall vorgekommen, daß in einem ſolchen großen Geſchäft eine weibliche Schottenfellerchawruſſe von drei Jndi- viduen den Vorrath von Wollmuſſelinſtücken eines beſtimmten Muſters ſo gänzlich aufgeräumt hatte, daß das Ladenperſonal das Muſter der vorgelegten Kleider durchaus nicht kannte und erſt nach wiederholtem Nachſchlagen im Probenbuche ſich überzeugte, daß der Stoff dieſes Muſters im Lager wirklich vorräthig geweſen war.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/18>, abgerufen am 28.03.2024.