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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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schen Handschrift in gleicher Schreibung enthaltenen, in der Kne-
bel'schen Handschrift ganz fehlenden Ausdrucks Vermerin. Das
Mandat (und nach seinem Vorgange der Liber Vagatorum und
die "Rotwelsche Grammatik") erklärt Vermerin als "besunder
allermeist Frowen, die sprechent, sy sient getoffet Juden und sient
Christen worden und sagent den Lüten ob ir Vatter oder Mutter
in der Helle sient oder nit". 1) Der Ausdruck Veranerin ist je-
doch niemals später für Wahrsagerei gebraucht worden, obgleich
alle spätern Auflagen der "Rotwelschen Grammatik", Moscherosch
und viele andere Nachtreter der "Rotwelschen Grammatik" ihn
aufgenommen haben.

Noch ist bemerkenswerth, daß die zigeunerischen Ausdrücke
durker oder durgeaf, wahrsagen, durgepaskro, Wahrsager, und
durgepaskri, Wahrsagerei 2) -- obschon gerade die Wahrsagerei, be-
sonders die Chiromantie, die Hauptvermittelung war, durch welche
die Zigeuner des 15. Jahrhunderts sich den Eingang in alle so-
cial-politische Schichten zu verschaffen wußten -- in keiner Weise
von der deutschen Gaunersprache aufgenommen oder auch nur nach-
geahmt worden sind. So bleibt denn in etymologischer Hinsicht
nur der einzige specifisch jüdisch-deutsche Ausdruck Jedionen 3) für
den Begriff des Wahrsagens übrig, welcher denn nun gelegentlich

1) Nach dieser Erklärung ist die Wahrsagerei der Veranerinnen auch nur
sehr beschränkt. Die Gauner des 15. Jahrhunderts verstanden auch die volks-
bekannte, eigenthümliche, jüdische Lehre von der Hölle ([fremdsprachliches Material - fehlt]), auszubeuten,
in welche der Lebende Blicke thun und wo er sogar Gespräche mit den Ver-
dammten führen konnte, wie die letzte interessante Maase bei Wagenseil, "Jü-
disch-deutsche Belehrung", S. 332, das Zwiegespräch des königlichen Lauten-
schlägers mit seinem frühern Kunstgenossen (Cha[wer]) in der Hölle enthält.
Vgl. Eisenmenger, a. a. O., II, Kap. 6.
2) Vgl. Pott, "Die Zigeuner", II, 317; Bischoff, a. a. O., S. 103,
und "Beytrag zur Rotwelschen Grammatik", S. 34.
3) Doch existiren noch die ebenfalls jüdisch-deutschen Ausdrücke [fremdsprachliches Material - fehlt],
Kaussem, der Wahrsager, und [fremdsprachliches Material - fehlt], Kessem, Plural [fremdsprachliches Material - fehlt], kssomim,
das Wahrsagen, das Orakel. Bemerkenswerth ist, daß der dem hebräischen
Stammworte [fremdsprachliches Material - fehlt] (kassam) anklebende Begriff des Tadels, der Verächtlich-
keit, des Verbotenen und des Verlogenen auch in diesen Terminologien bei-
behalten ist.

ſchen Handſchrift in gleicher Schreibung enthaltenen, in der Kne-
bel’ſchen Handſchrift ganz fehlenden Ausdrucks Vermerin. Das
Mandat (und nach ſeinem Vorgange der Liber Vagatorum und
die „Rotwelſche Grammatik“) erklärt Vermerin als „beſunder
allermeiſt Frowen, die ſprechent, ſy ſient getoffet Juden und ſient
Chriſten worden und ſagent den Lüten ob ir Vatter oder Mutter
in der Helle ſient oder nit“. 1) Der Ausdruck Veranerin iſt je-
doch niemals ſpäter für Wahrſagerei gebraucht worden, obgleich
alle ſpätern Auflagen der „Rotwelſchen Grammatik“, Moſcheroſch
und viele andere Nachtreter der „Rotwelſchen Grammatik“ ihn
aufgenommen haben.

Noch iſt bemerkenswerth, daß die zigeuneriſchen Ausdrücke
durker oder durgeaf, wahrſagen, durgepaskro, Wahrſager, und
durgepaskri, Wahrſagerei 2) — obſchon gerade die Wahrſagerei, be-
ſonders die Chiromantie, die Hauptvermittelung war, durch welche
die Zigeuner des 15. Jahrhunderts ſich den Eingang in alle ſo-
cial-politiſche Schichten zu verſchaffen wußten — in keiner Weiſe
von der deutſchen Gaunerſprache aufgenommen oder auch nur nach-
geahmt worden ſind. So bleibt denn in etymologiſcher Hinſicht
nur der einzige ſpecifiſch jüdiſch-deutſche Ausdruck Jedionen 3) für
den Begriff des Wahrſagens übrig, welcher denn nun gelegentlich

1) Nach dieſer Erklärung iſt die Wahrſagerei der Veranerinnen auch nur
ſehr beſchränkt. Die Gauner des 15. Jahrhunderts verſtanden auch die volks-
bekannte, eigenthümliche, jüdiſche Lehre von der Hölle ([fremdsprachliches Material – fehlt]), auszubeuten,
in welche der Lebende Blicke thun und wo er ſogar Geſpräche mit den Ver-
dammten führen konnte, wie die letzte intereſſante Maaſe bei Wagenſeil, „Jü-
diſch-deutſche Belehrung“, S. 332, das Zwiegeſpräch des königlichen Lauten-
ſchlägers mit ſeinem frühern Kunſtgenoſſen (Cha[wer]) in der Hölle enthält.
Vgl. Eiſenmenger, a. a. O., II, Kap. 6.
2) Vgl. Pott, „Die Zigeuner“, II, 317; Biſchoff, a. a. O., S. 103,
und „Beytrag zur Rotwelſchen Grammatik“, S. 34.
3) Doch exiſtiren noch die ebenfalls jüdiſch-deutſchen Ausdrücke [fremdsprachliches Material – fehlt],
Kauſſem, der Wahrſager, und [fremdsprachliches Material – fehlt], Keſſem, Plural [fremdsprachliches Material – fehlt], kſſomim,
das Wahrſagen, das Orakel. Bemerkenswerth iſt, daß der dem hebräiſchen
Stammworte [fremdsprachliches Material – fehlt] (kassam) anklebende Begriff des Tadels, der Verächtlich-
keit, des Verbotenen und des Verlogenen auch in dieſen Terminologien bei-
behalten iſt.
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[248/0260] ſchen Handſchrift in gleicher Schreibung enthaltenen, in der Kne- bel’ſchen Handſchrift ganz fehlenden Ausdrucks Vermerin. Das Mandat (und nach ſeinem Vorgange der Liber Vagatorum und die „Rotwelſche Grammatik“) erklärt Vermerin als „beſunder allermeiſt Frowen, die ſprechent, ſy ſient getoffet Juden und ſient Chriſten worden und ſagent den Lüten ob ir Vatter oder Mutter in der Helle ſient oder nit“. 1) Der Ausdruck Veranerin iſt je- doch niemals ſpäter für Wahrſagerei gebraucht worden, obgleich alle ſpätern Auflagen der „Rotwelſchen Grammatik“, Moſcheroſch und viele andere Nachtreter der „Rotwelſchen Grammatik“ ihn aufgenommen haben. Noch iſt bemerkenswerth, daß die zigeuneriſchen Ausdrücke durker oder durgeaf, wahrſagen, durgepaskro, Wahrſager, und durgepaskri, Wahrſagerei 2) — obſchon gerade die Wahrſagerei, be- ſonders die Chiromantie, die Hauptvermittelung war, durch welche die Zigeuner des 15. Jahrhunderts ſich den Eingang in alle ſo- cial-politiſche Schichten zu verſchaffen wußten — in keiner Weiſe von der deutſchen Gaunerſprache aufgenommen oder auch nur nach- geahmt worden ſind. So bleibt denn in etymologiſcher Hinſicht nur der einzige ſpecifiſch jüdiſch-deutſche Ausdruck Jedionen 3) für den Begriff des Wahrſagens übrig, welcher denn nun gelegentlich 1) Nach dieſer Erklärung iſt die Wahrſagerei der Veranerinnen auch nur ſehr beſchränkt. Die Gauner des 15. Jahrhunderts verſtanden auch die volks- bekannte, eigenthümliche, jüdiſche Lehre von der Hölle (_ ), auszubeuten, in welche der Lebende Blicke thun und wo er ſogar Geſpräche mit den Ver- dammten führen konnte, wie die letzte intereſſante Maaſe bei Wagenſeil, „Jü- diſch-deutſche Belehrung“, S. 332, das Zwiegeſpräch des königlichen Lauten- ſchlägers mit ſeinem frühern Kunſtgenoſſen (Chawer) in der Hölle enthält. Vgl. Eiſenmenger, a. a. O., II, Kap. 6. 2) Vgl. Pott, „Die Zigeuner“, II, 317; Biſchoff, a. a. O., S. 103, und „Beytrag zur Rotwelſchen Grammatik“, S. 34. 3) Doch exiſtiren noch die ebenfalls jüdiſch-deutſchen Ausdrücke _ , Kauſſem, der Wahrſager, und _ , Keſſem, Plural _ , kſſomim, das Wahrſagen, das Orakel. Bemerkenswerth iſt, daß der dem hebräiſchen Stammworte _ (kassam) anklebende Begriff des Tadels, der Verächtlich- keit, des Verbotenen und des Verlogenen auch in dieſen Terminologien bei- behalten iſt.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/260>, abgerufen am 28.03.2024.