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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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den rohesten Materialismus zu ihrem Götzen gemacht hat, durch
die gesuchteste Gelegenheit zum raffinirten Genuß aller Art das
sittliche und religiöse Leben nahezu vernichtet, die Gefängnisse und
Jrrenanstalten mit Jndividuen jeden Geschlechts und Alters in
schreckenerregender Weise anfüllt, und selbst den directen Angriff
gegen die geheiligten Jnstitutionen des Staats und der Kirche
unternimmt, daß nun auch das von der Boraussicht der Zersetzung
aller positiven socialen und politischen Elemente geängstigte Bür-
gerthum sich zur innern Mission, zu patriotischen Gesellschaften
und Vereinen zusammendrängt, um den zahllosen sittlichen Schä-
den der Gesellschaft entgegenzuwirken, deren Entstehung und Fort-
bildung die Polizei nicht zu hindern vermocht hat: alles dies,
sowie ganz besonders noch die tröstliche Wahrnehmung, daß --
wie ein trefflicher Historiker der Neuzeit sagt 1) -- "viele Re-
gierende und Regierte sich demüthigen gelernt und eingesehen
haben, wie sehr sie durch Misgriffe und Versäumnisse gesündigt
hatten, und wie jedem Theile nach oben und unten, nach
links und rechts die ernsteste Buße noth thue": alles dies muß
auch die Polizei zur ernsten Selbstprüfung mahnen, damit auch
sie ihre Misgriffe und Versäumnisse erkenne, sich demüthigen
lerne, und es aufgebe, noch länger mit der kahlen äußern Gewalt
zu prunken, anstatt nach innerer Kraft und Geltung zu streben,
wäre es auch nur, statt vieler, um der einen Thatsache willen,
daß das zum Gewerbe erstarkte Verbrechen, das Gaunerthum,
dem Bürgerthum wie der Polizei über den Kopf gewachsen ist.

Es gilt nicht, die vielen offenen und geheimen Schwächen
der Polizei darzulegen, auf welche der redliche und erfahrene Po-
lizeimann mit tiefer Kümmerniß blickt; es gilt auch vor allem
nicht, das Geheimniß der geschlossenen Bureaux bloßzulegen,
welche wie stark armirte Citadellen mitten in das social-politische
Leben hineingestreut sind, mit metallenem und gemaltem hölzer-
nen Geschütz das Leben beherrschen, und durch deren dumpfe Kase-
matten ein trüber düsterer Tintenstrom wie eine Lethe rauscht, in

1) Vgl. Dittmar, a. a. O., IV, 2, S. 1133.
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den roheſten Materialismus zu ihrem Götzen gemacht hat, durch
die geſuchteſte Gelegenheit zum raffinirten Genuß aller Art das
ſittliche und religiöſe Leben nahezu vernichtet, die Gefängniſſe und
Jrrenanſtalten mit Jndividuen jeden Geſchlechts und Alters in
ſchreckenerregender Weiſe anfüllt, und ſelbſt den directen Angriff
gegen die geheiligten Jnſtitutionen des Staats und der Kirche
unternimmt, daß nun auch das von der Borausſicht der Zerſetzung
aller poſitiven ſocialen und politiſchen Elemente geängſtigte Bür-
gerthum ſich zur innern Miſſion, zu patriotiſchen Geſellſchaften
und Vereinen zuſammendrängt, um den zahlloſen ſittlichen Schä-
den der Geſellſchaft entgegenzuwirken, deren Entſtehung und Fort-
bildung die Polizei nicht zu hindern vermocht hat: alles dies,
ſowie ganz beſonders noch die tröſtliche Wahrnehmung, daß —
wie ein trefflicher Hiſtoriker der Neuzeit ſagt 1) — „viele Re-
gierende und Regierte ſich demüthigen gelernt und eingeſehen
haben, wie ſehr ſie durch Misgriffe und Verſäumniſſe geſündigt
hatten, und wie jedem Theile nach oben und unten, nach
links und rechts die ernſteſte Buße noth thue“: alles dies muß
auch die Polizei zur ernſten Selbſtprüfung mahnen, damit auch
ſie ihre Misgriffe und Verſäumniſſe erkenne, ſich demüthigen
lerne, und es aufgebe, noch länger mit der kahlen äußern Gewalt
zu prunken, anſtatt nach innerer Kraft und Geltung zu ſtreben,
wäre es auch nur, ſtatt vieler, um der einen Thatſache willen,
daß das zum Gewerbe erſtarkte Verbrechen, das Gaunerthum,
dem Bürgerthum wie der Polizei über den Kopf gewachſen iſt.

Es gilt nicht, die vielen offenen und geheimen Schwächen
der Polizei darzulegen, auf welche der redliche und erfahrene Po-
lizeimann mit tiefer Kümmerniß blickt; es gilt auch vor allem
nicht, das Geheimniß der geſchloſſenen Bureaux bloßzulegen,
welche wie ſtark armirte Citadellen mitten in das ſocial-politiſche
Leben hineingeſtreut ſind, mit metallenem und gemaltem hölzer-
nen Geſchütz das Leben beherrſchen, und durch deren dumpfe Kaſe-
matten ein trüber düſterer Tintenſtrom wie eine Lethe rauſcht, in

1) Vgl. Dittmar, a. a. O., IV, 2, S. 1133.
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[355/0367] den roheſten Materialismus zu ihrem Götzen gemacht hat, durch die geſuchteſte Gelegenheit zum raffinirten Genuß aller Art das ſittliche und religiöſe Leben nahezu vernichtet, die Gefängniſſe und Jrrenanſtalten mit Jndividuen jeden Geſchlechts und Alters in ſchreckenerregender Weiſe anfüllt, und ſelbſt den directen Angriff gegen die geheiligten Jnſtitutionen des Staats und der Kirche unternimmt, daß nun auch das von der Borausſicht der Zerſetzung aller poſitiven ſocialen und politiſchen Elemente geängſtigte Bür- gerthum ſich zur innern Miſſion, zu patriotiſchen Geſellſchaften und Vereinen zuſammendrängt, um den zahlloſen ſittlichen Schä- den der Geſellſchaft entgegenzuwirken, deren Entſtehung und Fort- bildung die Polizei nicht zu hindern vermocht hat: alles dies, ſowie ganz beſonders noch die tröſtliche Wahrnehmung, daß — wie ein trefflicher Hiſtoriker der Neuzeit ſagt 1) — „viele Re- gierende und Regierte ſich demüthigen gelernt und eingeſehen haben, wie ſehr ſie durch Misgriffe und Verſäumniſſe geſündigt hatten, und wie jedem Theile nach oben und unten, nach links und rechts die ernſteſte Buße noth thue“: alles dies muß auch die Polizei zur ernſten Selbſtprüfung mahnen, damit auch ſie ihre Misgriffe und Verſäumniſſe erkenne, ſich demüthigen lerne, und es aufgebe, noch länger mit der kahlen äußern Gewalt zu prunken, anſtatt nach innerer Kraft und Geltung zu ſtreben, wäre es auch nur, ſtatt vieler, um der einen Thatſache willen, daß das zum Gewerbe erſtarkte Verbrechen, das Gaunerthum, dem Bürgerthum wie der Polizei über den Kopf gewachſen iſt. Es gilt nicht, die vielen offenen und geheimen Schwächen der Polizei darzulegen, auf welche der redliche und erfahrene Po- lizeimann mit tiefer Kümmerniß blickt; es gilt auch vor allem nicht, das Geheimniß der geſchloſſenen Bureaux bloßzulegen, welche wie ſtark armirte Citadellen mitten in das ſocial-politiſche Leben hineingeſtreut ſind, mit metallenem und gemaltem hölzer- nen Geſchütz das Leben beherrſchen, und durch deren dumpfe Kaſe- matten ein trüber düſterer Tintenſtrom wie eine Lethe rauſcht, in 1) Vgl. Dittmar, a. a. O., IV, 2, S. 1133. 23*

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/367>, abgerufen am 24.11.2024.