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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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zahlreicher und künstlicher geworden, und liegen noch bunter und
wirrer durcheinander. Wenn man jetzt ein Betrugslexikon schreiben
wollte, so würde es eine ungeheuere Encyklopädie geben, die selbst
bei der größten und umfangreichsten Ausführlichkeit jährlich mit
beträchtlichen Supplementen ergänzt werden müßte. Alle Stände
und Berufsarten ohne Ausnahme werden, sogar auch in den fein-
sten Nuancirungen, vom Gaunerthum repräsentirt; keine Form ist
so alt und bekannt, daß sie nicht immer wieder und mit neuer
Täuschung ausgebeutet würde. Es hilft wenig, daß der vorzüg-
lichste Vorschub gaunerischer Bewegung, das handelsmännische
Reisen,
so sehr beschränkt und überaus scharf controlirt wird: der
Handel hat zu viel Strömungen, als daß man diese bändigen
könnte. Je mehr man aber auf Kosten und zur Belästigung des
Verkehrs, dessen Beschränkung stets auch eine Mitleidenschaft des
reellen Ganzen mit sich führt, die Handelsbewegung controlirt,
desto behender springt das Gaunerthum auf andere Verkehrsformen
über. So ist es gekommen, daß das Zunftwesen, welches Jahr-
hunderte lang der Anhalt der sittlichen Volksentwickelung gewesen
ist, indem es den Lehrling an Zucht, Ordnung und Gehorsam
gewöhnte, und dadurch die Anbildung und Erhaltung des ehr-
samen Bürgerstandes mächtig förderte, jetzt, nachdem die vermeint
obsoleten Zunftformen der materiellen Richtung und freien Be-
wegung haben weichen müssen, und damit auch das sittlich-ge-
sunde innere Wesen der Zünfte geschwunden ist, zum hauptsäch-
lichen Versteck des Gaunerthums dient, das in reisenden Hand-
werksburschen und zu Fabrikarbeitern herabgesetzten Zunftgesellen
seine Jünger auf die Landstreicherei, anstatt auf die ehrbare Wan-
derschaft aussendet, und schon lange die Stimmen ernster Mahnung
geweckt hat, welche vergebens in dem Tumult des wüsten Ver-
kehrslebens verhallen. Bei dem durch die Eisenbahnen mächtig
geförderten Fremdenverkehr in Wirthshäusern zählt das Gauner-
thum eine überaus starke Jüngerschaft in Kellnern, Hausknechten
und Stubenmädchen, die den unrechtfertigen Erwerb schon durch
ihre oft sinnlose Vergeudung und Putzsucht verrathen. Neben
diesem Zunft- und Domestikenproletariat ist das Gelehrten- und

zahlreicher und künſtlicher geworden, und liegen noch bunter und
wirrer durcheinander. Wenn man jetzt ein Betrugslexikon ſchreiben
wollte, ſo würde es eine ungeheuere Encyklopädie geben, die ſelbſt
bei der größten und umfangreichſten Ausführlichkeit jährlich mit
beträchtlichen Supplementen ergänzt werden müßte. Alle Stände
und Berufsarten ohne Ausnahme werden, ſogar auch in den fein-
ſten Nuancirungen, vom Gaunerthum repräſentirt; keine Form iſt
ſo alt und bekannt, daß ſie nicht immer wieder und mit neuer
Täuſchung ausgebeutet würde. Es hilft wenig, daß der vorzüg-
lichſte Vorſchub gauneriſcher Bewegung, das handelsmänniſche
Reiſen,
ſo ſehr beſchränkt und überaus ſcharf controlirt wird: der
Handel hat zu viel Strömungen, als daß man dieſe bändigen
könnte. Je mehr man aber auf Koſten und zur Beläſtigung des
Verkehrs, deſſen Beſchränkung ſtets auch eine Mitleidenſchaft des
reellen Ganzen mit ſich führt, die Handelsbewegung controlirt,
deſto behender ſpringt das Gaunerthum auf andere Verkehrsformen
über. So iſt es gekommen, daß das Zunftweſen, welches Jahr-
hunderte lang der Anhalt der ſittlichen Volksentwickelung geweſen
iſt, indem es den Lehrling an Zucht, Ordnung und Gehorſam
gewöhnte, und dadurch die Anbildung und Erhaltung des ehr-
ſamen Bürgerſtandes mächtig förderte, jetzt, nachdem die vermeint
obſoleten Zunftformen der materiellen Richtung und freien Be-
wegung haben weichen müſſen, und damit auch das ſittlich-ge-
ſunde innere Weſen der Zünfte geſchwunden iſt, zum hauptſäch-
lichen Verſteck des Gaunerthums dient, das in reiſenden Hand-
werksburſchen und zu Fabrikarbeitern herabgeſetzten Zunftgeſellen
ſeine Jünger auf die Landſtreicherei, anſtatt auf die ehrbare Wan-
derſchaft ausſendet, und ſchon lange die Stimmen ernſter Mahnung
geweckt hat, welche vergebens in dem Tumult des wüſten Ver-
kehrslebens verhallen. Bei dem durch die Eiſenbahnen mächtig
geförderten Fremdenverkehr in Wirthshäuſern zählt das Gauner-
thum eine überaus ſtarke Jüngerſchaft in Kellnern, Hausknechten
und Stubenmädchen, die den unrechtfertigen Erwerb ſchon durch
ihre oft ſinnloſe Vergeudung und Putzſucht verrathen. Neben
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[34/0046] zahlreicher und künſtlicher geworden, und liegen noch bunter und wirrer durcheinander. Wenn man jetzt ein Betrugslexikon ſchreiben wollte, ſo würde es eine ungeheuere Encyklopädie geben, die ſelbſt bei der größten und umfangreichſten Ausführlichkeit jährlich mit beträchtlichen Supplementen ergänzt werden müßte. Alle Stände und Berufsarten ohne Ausnahme werden, ſogar auch in den fein- ſten Nuancirungen, vom Gaunerthum repräſentirt; keine Form iſt ſo alt und bekannt, daß ſie nicht immer wieder und mit neuer Täuſchung ausgebeutet würde. Es hilft wenig, daß der vorzüg- lichſte Vorſchub gauneriſcher Bewegung, das handelsmänniſche Reiſen, ſo ſehr beſchränkt und überaus ſcharf controlirt wird: der Handel hat zu viel Strömungen, als daß man dieſe bändigen könnte. Je mehr man aber auf Koſten und zur Beläſtigung des Verkehrs, deſſen Beſchränkung ſtets auch eine Mitleidenſchaft des reellen Ganzen mit ſich führt, die Handelsbewegung controlirt, deſto behender ſpringt das Gaunerthum auf andere Verkehrsformen über. So iſt es gekommen, daß das Zunftweſen, welches Jahr- hunderte lang der Anhalt der ſittlichen Volksentwickelung geweſen iſt, indem es den Lehrling an Zucht, Ordnung und Gehorſam gewöhnte, und dadurch die Anbildung und Erhaltung des ehr- ſamen Bürgerſtandes mächtig förderte, jetzt, nachdem die vermeint obſoleten Zunftformen der materiellen Richtung und freien Be- wegung haben weichen müſſen, und damit auch das ſittlich-ge- ſunde innere Weſen der Zünfte geſchwunden iſt, zum hauptſäch- lichen Verſteck des Gaunerthums dient, das in reiſenden Hand- werksburſchen und zu Fabrikarbeitern herabgeſetzten Zunftgeſellen ſeine Jünger auf die Landſtreicherei, anſtatt auf die ehrbare Wan- derſchaft ausſendet, und ſchon lange die Stimmen ernſter Mahnung geweckt hat, welche vergebens in dem Tumult des wüſten Ver- kehrslebens verhallen. Bei dem durch die Eiſenbahnen mächtig geförderten Fremdenverkehr in Wirthshäuſern zählt das Gauner- thum eine überaus ſtarke Jüngerſchaft in Kellnern, Hausknechten und Stubenmädchen, die den unrechtfertigen Erwerb ſchon durch ihre oft ſinnloſe Vergeudung und Putzſucht verrathen. Neben dieſem Zunft- und Domeſtikenproletariat iſt das Gelehrten- und

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/46>, abgerufen am 28.03.2024.