Künstlerproletariat im Gaunerthum am stärksten vertreten, sodaß das fahrende Schülerthum des Mittelalters in seiner ganzen Aus- dehnung wieder aufgelebt zu sein scheint. Nicht nur daß der Polizeimann sich mit allen vier Facultäten herumschlagen muß, um sogar im Doctor der Philosophie und Professor der Theologie den Gauner zu entlarven, er muß auch den Nimbus und die Staffagen aller Künste und Gewerbe durchdringen, um auf Gauner aller Art zu gerathen, und hat doch dabei alle feinen Rücksichten vorsichtig zu beobachten, die in den prätendirten socialen Formen ihm entgegengeschoben werden./ Diese Rücksichten nimmt das in Gouvernanten, Gesellschafterinnen und Offiziers- und Beamten- witwen jetzt besonders stark vertretene weibliche Gaunerthum vor- züglich in Anspruch, wobei oft schmerzlich zu bedauern ist, daß alles, was weibliche Feinheit, vorzügliche Erziehung und Bildung an Rücksicht und Achtung verdient, an der verdorbensten gaune- rischen Gesinnung und Führung verloren gegangen ist. Nicht mehr der Hausirer, nicht der in Lumpen gehüllte vagirende Bettler, nicht mehr der Kesselflicker, Scherenschleifer, Leiermann, Puppen- spieler und Affenführer allein ist es, der die Sicherheit des Eigen- thums gefährdet: alle äußern Formen des social-politischen Lebens müssen zur Maske der gaunerischen Jndividualität dienen.
Zwei Factoren sind es besonders, welche in neuerer Zeit dem persönlichen Versteck und der Beweglichkeit des Gaunerthums großen Vorschub leisten: die Eisenbahnen und das Paßwesen. Die Eisenbahnen heben die Entfernung und Räumlichkeit auf. Was früher bei den beschränktern Communicationsmitteln sich nur langsamer dem Auge der wachsamen Polizei entziehen und darum immer wieder leichter zurückgeführt werden konnte, taucht plötzlich an einem entfernten Orte als völlig unverdächtige Erschei- nung auf, kann sich als solche frei bewegen und ebenso rasch wieder entfernen. Jn der Paßgesetzgebung hat es trotz aller bis an das Ungeheuerliche grenzenden Ausführlichkeit und peinlichen Genauig- keit, welche Reisende und Controlbeamte gleichlästig drückt, noch immer nicht gelingen wollen, in den Pässen Urkunden herzustellen,
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Künſtlerproletariat im Gaunerthum am ſtärkſten vertreten, ſodaß das fahrende Schülerthum des Mittelalters in ſeiner ganzen Aus- dehnung wieder aufgelebt zu ſein ſcheint. Nicht nur daß der Polizeimann ſich mit allen vier Facultäten herumſchlagen muß, um ſogar im Doctor der Philoſophie und Profeſſor der Theologie den Gauner zu entlarven, er muß auch den Nimbus und die Staffagen aller Künſte und Gewerbe durchdringen, um auf Gauner aller Art zu gerathen, und hat doch dabei alle feinen Rückſichten vorſichtig zu beobachten, die in den prätendirten ſocialen Formen ihm entgegengeſchoben werden./ Dieſe Rückſichten nimmt das in Gouvernanten, Geſellſchafterinnen und Offiziers- und Beamten- witwen jetzt beſonders ſtark vertretene weibliche Gaunerthum vor- züglich in Anſpruch, wobei oft ſchmerzlich zu bedauern iſt, daß alles, was weibliche Feinheit, vorzügliche Erziehung und Bildung an Rückſicht und Achtung verdient, an der verdorbenſten gaune- riſchen Geſinnung und Führung verloren gegangen iſt. Nicht mehr der Hauſirer, nicht der in Lumpen gehüllte vagirende Bettler, nicht mehr der Keſſelflicker, Scherenſchleifer, Leiermann, Puppen- ſpieler und Affenführer allein iſt es, der die Sicherheit des Eigen- thums gefährdet: alle äußern Formen des ſocial-politiſchen Lebens müſſen zur Maske der gauneriſchen Jndividualität dienen.
Zwei Factoren ſind es beſonders, welche in neuerer Zeit dem perſönlichen Verſteck und der Beweglichkeit des Gaunerthums großen Vorſchub leiſten: die Eiſenbahnen und das Paßweſen. Die Eiſenbahnen heben die Entfernung und Räumlichkeit auf. Was früher bei den beſchränktern Communicationsmitteln ſich nur langſamer dem Auge der wachſamen Polizei entziehen und darum immer wieder leichter zurückgeführt werden konnte, taucht plötzlich an einem entfernten Orte als völlig unverdächtige Erſchei- nung auf, kann ſich als ſolche frei bewegen und ebenſo raſch wieder entfernen. Jn der Paßgeſetzgebung hat es trotz aller bis an das Ungeheuerliche grenzenden Ausführlichkeit und peinlichen Genauig- keit, welche Reiſende und Controlbeamte gleichläſtig drückt, noch immer nicht gelingen wollen, in den Päſſen Urkunden herzuſtellen,
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Künſtlerproletariat im Gaunerthum am ſtärkſten vertreten, ſodaß
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dehnung wieder aufgelebt zu ſein ſcheint. Nicht nur daß der
Polizeimann ſich mit allen vier Facultäten herumſchlagen muß,
um ſogar im Doctor der Philoſophie und Profeſſor der Theologie
den Gauner zu entlarven, er muß auch den Nimbus und die
Staffagen aller Künſte und Gewerbe durchdringen, um auf Gauner
aller Art zu gerathen, und hat doch dabei alle feinen Rückſichten
vorſichtig zu beobachten, die in den prätendirten ſocialen Formen
ihm entgegengeſchoben werden./ Dieſe Rückſichten nimmt das in
Gouvernanten, Geſellſchafterinnen und Offiziers- und Beamten-
witwen jetzt beſonders ſtark vertretene weibliche Gaunerthum vor-
züglich in Anſpruch, wobei oft ſchmerzlich zu bedauern iſt, daß
alles, was weibliche Feinheit, vorzügliche Erziehung und Bildung
an Rückſicht und Achtung verdient, an der verdorbenſten gaune-
riſchen Geſinnung und Führung verloren gegangen iſt. Nicht
mehr der Hauſirer, nicht der in Lumpen gehüllte vagirende Bettler,
nicht mehr der Keſſelflicker, Scherenſchleifer, Leiermann, Puppen-
ſpieler und Affenführer allein iſt es, der die Sicherheit des Eigen-
thums gefährdet: alle äußern Formen des ſocial-politiſchen
Lebens müſſen zur Maske der gauneriſchen Jndividualität
dienen.
Zwei Factoren ſind es beſonders, welche in neuerer Zeit dem
perſönlichen Verſteck und der Beweglichkeit des Gaunerthums
großen Vorſchub leiſten: die Eiſenbahnen und das Paßweſen.
Die Eiſenbahnen heben die Entfernung und Räumlichkeit auf.
Was früher bei den beſchränktern Communicationsmitteln ſich
nur langſamer dem Auge der wachſamen Polizei entziehen und
darum immer wieder leichter zurückgeführt werden konnte, taucht
plötzlich an einem entfernten Orte als völlig unverdächtige Erſchei-
nung auf, kann ſich als ſolche frei bewegen und ebenſo raſch wieder
entfernen. Jn der Paßgeſetzgebung hat es trotz aller bis an das
Ungeheuerliche grenzenden Ausführlichkeit und peinlichen Genauig-
keit, welche Reiſende und Controlbeamte gleichläſtig drückt, noch
immer nicht gelingen wollen, in den Päſſen Urkunden herzuſtellen,
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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